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rumäniendeutsche Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Herta Müller (* 17. August 1953 in Nitzkydorf, Rumänien) ist eine rumäniendeutsche Schriftstellerin, die im rumänischen Banat aufwuchs und 1987 in die Bundesrepublik ausreiste. In ihren Werken thematisiert Müller die Folgen der kommunistischen Diktatur in Rumänien.
2009 wurde Herta Müller der Nobelpreis für Literatur verliehen.
Müller, deren Familie zur deutschen Minderheit in Rumänien gehörte, wurde als Banater Schwäbin im Banat geboren. Ihr Großvater war ein wohlhabender Bauer und Kaufmann und wurde unter dem kommunistischen Regime in Rumänien enteignet. Ihre Mutter wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu mehrjähriger Zwangsarbeit in ein sowjetisches Lager in die Ukraine deportiert. Ihr Vater, ehemals Soldat der Waffen-SS in der 10. SS-Panzer-Division „Frundsberg“,[1] verdiente seinen Lebensunterhalt als Lkw-Fahrer.[2]
Müller besuchte von 1960 bis 1968 die deutsche Schule in Nițchidorf, hatte als Unterrichtsfach auch Rumänisch.[2] Im Alter von 15 Jahren lehnte sie die Lehrstelle ab, die ihre Mutter bei einer Schneiderin im Dorf organisiert hatte. Stattdessen besuchte sie von 1968 bis 1971 die deutsche Abteilung des 10er Lyzeums, 1971/72 das deutschsprachige Nikolaus-Lenau-Lyzeum in Timișoara, wo sie die rumänische Sprache zu beherrschen begann. Wegen der Entfernung der Stadt von ihrem Heimatdorf lebte sie in Timișoara zur Untermiete und kam lediglich am Wochenende nach Hause.[3][4][5] Nach dem Abitur studierte Müller von 1973 bis 1976 an der Universität des Westens Timișoara Germanistik und Rumänistik.
Ab 1976 arbeitete sie als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik. Dann, so Müller, sei dreimal ein Geheimdienstmitarbeiter erschienen, um sie zu nötigen, für die Securitate Spitzeldienste zu leisten. Dies habe sie mit dem Hinweis verweigert, sie habe nicht diesen Charakter. Da sie trotz Todesandrohung nicht kooperierte, habe sie danach jeden Morgen zum Appell beim Chef erscheinen müssen, der sie gefragt hätte, wann sie sich eine neue Stellung suchen würde. Nachdem ihr das Büro entzogen worden war, habe sie auf der Treppe Übersetzungen anfertigen müssen, die niemand angefordert hätte; so sei sie zum Schreiben gekommen. Unter den Kollegen sei verbreitet worden, sie arbeite für den Geheimdienst; ein Gerücht, gegen das sie sich nicht hätte wehren können. „Die Kollegen dachten von mir genau das, was ich verweigert hatte.“[6] 1979 wurde sie entlassen und war dann zeitweise als Lehrerin tätig, unter anderem am Nikolaus-Lenau-Lyzeum, arbeitete in Kindergärten und erteilte Privatschülern Deutschunterricht. 1982 erschien im Bukarester Kriterion-Verlag ihre erste Buchveröffentlichung mit dem Titel Niederungen, in einer zensierten Fassung. Im gleichen Jahr erhielt sie für dieses Buch den Literaturpreis des Verbandes der kommunistischen Jugend (VKJ) und den Debütpreis des rumänischen Schriftstellerverbandes.[7]
Nachdem sie ab 1984 dreimal die Bundesrepublik Deutschland besucht hatte,[8] reiste Müller 1987 mit ihrem damaligen Ehemann Richard Wagner nach Deutschland aus. Die Behandlung in der Landesaufnahmestelle für Aussiedler in Nürnberg-Langwasser beschrieb sie als absurd. Sie wurde mehrere Tage von Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz verhört, da sie im Verdacht stand, eine Securitate-Agentin zu sein.[9]
In den folgenden Jahren erhielt sie eine Reihe von Lehraufträgen als Writer in residence an Universitäten im In- und Ausland. 1990 trennte sich Müller von ihrem Ehemann Richard Wagner. Im gleichen Jahr traf sie ihren jetzigen Ehemann Harry Merkle, mit dem zusammen sie das Drehbuch zum Spielfilm Der Fuchs – Der Jäger (1993) verfasste. Müller gehörte bis zu ihrem Austritt 1997 dem P.E.N.-Zentrum Deutschland an.
1998 wurde sie auf die „Brüder-Grimm-Gastprofessur“ der Universität Kassel berufen, 2001 hatte sie die Tübinger Poetik-Dozentur inne, 2005 war sie „Heiner-Müller-Gastprofessorin“ an der Freien Universität in Berlin, wo sie heute lebt.[10] Seit 1995 ist sie Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und seit 2016 in der Akademie der Künste in Berlin. Seit 2018 unterstützt sie als Schirmherrin die Stiftung Exilmuseum Berlin.
Am 8. Oktober 2009 wurde die Verleihung des Nobelpreises für Literatur 2009 an Herta Müller bekanntgegeben.[11] Sie habe „mittels Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit“ gezeichnet, hieß es in der Würdigung. Begründet wurde die Vergabe des Nobelpreises mit der Intensität der von ihr verfassten Literatur.[12]
Ihr Werk wurde nach Angaben des Hanser-Verlags in über 50 Sprachen übersetzt.
2008 äußerte Müller in einem Gespräch, sie sei noch in Deutschland seitens der Securitate mit dem Tod bedroht und von ihren Gegnern unter den Banater Schwaben mit anonymen Briefen belästigt worden.[10] 2008 kritisierte sie in einem offenen Brief die Einladung des Historikers Sorin Antohi und des Germanisten Andrei Corbea-Hoișie zu einer Tagung des Berliner Rumänischen Kulturinstituts am 25. Juli 2008, da beide Informanten der Securitate im kommunistischen Rumänien gewesen waren.[13][14]
Müller beschrieb, welchen Maßnahmen des rumänischen Geheimdienstes sie „zur Kompromittierung und Isolierung“ ausgesetzt war. Die Akten der Securitate über die Aktionsgruppe Banat offenbarten aus Müllers Sicht, dass sie durch Diskreditierungsmaßnahmen unglaubwürdig gemacht werden sollte. Müller nimmt an, dass von der Securitate entworfene Briefe an deutsche Rundfunkanstalten geschickt wurden, in denen sie als Agentin denunziert wurde. Weiterhin beschuldigten sie führende Personen der Landsmannschaft der Banater Schwaben, von denen Müller vermutet, dass sie informelle Mitarbeiter der Securitate waren und im Auftrag der Rumänischen Kommunistischen Partei schrieben.[8]
2005 war zunächst berichtet worden, dass die über Müller angelegte Akte der Securitate nach Angaben des Nationalen Rats für das Studium der Archive der Securitate (CNSAS) vernichtet worden sei.[15] Über den Teil ihrer Securitate-Akte, zu der sie mittlerweile Einsicht erhielt, schrieb Müller: „Frisieren kann man es nicht nennen, die Akte ist regelrecht entkernt.“ Die Akte mit dem Namen Cristina. besteht aus drei Bänden mit 914 Seiten und soll am 8. März 1983 angelegt worden sein, enthält jedoch Dokumente aus den Jahren davor. Grund für die Eröffnung der Akte waren „Tendenziöse Verzerrungen der Realitäten im Land, insbesondere im dörflichen Milieu“ sowie die Zugehörigkeit zu dem „Zirkel deutschsprachiger Dichter“, der „bekannt ist für seine feindseligen Arbeiten“.[8]
2014 kritisierte Müller unter Berufung auf ihre Erfahrungen unter dem Ceaușescu-Regime mehrfach die Politik des russischen Präsidenten Wladimir Putin, den sie als „KGB-sozialisierten Diktator mit Personenkultallüren“ bezeichnete[16] und dessen Politik sie „krank“ mache.[17] Unter krank verstand sie ein Gefühl der persönlichen Entwürdigung: „Er beleidigt meinen Verstand. Er beleidigt jeden Tag unser aller Verstand, und zwar mit der immer gleichen Dreistigkeit. Er wurde schon 100 Mal beim Lügen erwischt, er wird nach jeder Lüge entlarvt, und er lügt trotzdem weiter. Er tritt mir damit zu nahe.“[18] Müller unterzeichnete einen offenen Brief an die deutsche Bundeskanzlerin und den Bundesaußenminister, in dem diese darum gebeten werden, sich für die Freilassung des in Russland inhaftierten ukrainischen Filmemachers Oleh Senzow einzusetzen.[19] Im Mai 2022 trat sie dem von Alice Schwarzer und Peter Weibel initiierten offenen Brief an Bundeskanzler Scholz, in dem ein Stopp von Waffenlieferungen an die von Russland überfallene Ukraine gefordert wurde, mit eigenem Brief und Petition „Die Sache der Ukraine ist auch unsere Sache!“ entgegen.[20]
Müller begann als Gymnasiastin zu schreiben und veröffentlichte ihre Werke in den „Lenauschülerstimmen“, in „Universitas“ und dem „Kulturboten“ der Neuen Banater Zeitung.[21]
In Timișoara stand Müller zunächst den Autoren der Aktionsgruppe Banat nahe: Richard Wagner, Ernest Wichner, Gerhard Ortinau, Rolf Bossert, William Totok, Johann Lippet und anderen. Nach der Zerschlagung der Gruppe durch den rumänischen Geheimdienst Securitate im Jahre 1976 organisierten sich die Autoren erneut im offiziellen Literaturkreis der Timișoaer „Schriftstellervereinigung Adam Müller-Guttenbrunn“ um den Dichter und Chefredakteur der örtlichen deutschsprachigen Zeitung Nikolaus Berwanger. In diesem Schriftstellerkreis, zu dem nun auch Helmuth Frauendorfer, Roland Kirsch, Horst Samson und Werner Söllner gehörten, war Herta Müller die einzige Frau.[22]
Die neuere Prosa aus Österreich, vor allem die Romane von Thomas Bernhard und Franz Innerhofer, und die Freundschaft zu Richard Wagner und dem Dichter Rolf Bossert wiesen die Richtung für ihre eigene Literatur. Sie wolle mit ihren Texten ausdrücken, wie Diktaturen Menschen ihrer Würde beraubten.[23]
Müller ist ihren Weg „immer neu und immer anders abgeschritten. Und doch ist ihr Stil sich auf eine einzigartige Weise gleich geblieben. Ein Stil, der, an der östlichen Peripherie des Deutschen angesiedelt, von einer robusten Handgreiflichkeit und zugleich zarten Textur ist“, befand Andrea Köhler in ihrem Beitrag in der NZZ 1993.[24] Günther Rüther beschreibt zwanzig Jahre später die Sprache in Müllers Gesamtwerk so: Von Buch zu Buch wechsele die Melodie, doch ihre Tonart sei unverwechselbar. Müllers spannungsreiche Bilderwelt sei eigentümlich: „Ihre Sprache ist bildreich und sparsam, schön und zugleich hart.“[25] Köhler leitet Müllers sprachliche Eigenheiten folgendermaßen her: Weil sich der Kern ihrer dörflich geprägten Sprache dem Schleifstein der städtischen Umgangsform hartnäckig widersetzte, haben sich deren raue Konturen beim Gang durch die Städte behauptet. „Eine Sprache, die den tückischen Jargon der Diktatur nicht elegant umschifft, sondern unbeugsam unterläuft, weil ihre poetische Wahrheit mit Todesangst erkauft ist.“[24] Müller bereichere heute thematisch und poetisch die deutsche Literatur in einer Weise, wie dies einst Franz Kafka, Joseph Roth oder Paul Celan vom Rand des deutschen Kultur- und Sprachraums in Ost- und Südosteuropa her vermocht hätten, so Rüther.[25]
Bedeutung, Verschiebung und das Unberechenbare
Müllers Sprache hat „sowohl etwas Verführerisches wie auch etwas Beunruhigendes.“ Sie ist „äußerst präzise, und dennoch oder vielleicht gerade deshalb, hat man als Leser den Eindruck, dass da etwas nicht stimmt“, so Sissel Lægreid in einem literaturwissenschaftlichen Beitrag von 2013. Es gehe ihr beim Lesen von Herta Müller manchmal so „wie bei den Texten Kafkas, ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll und spüre dementsprechend ein gewisses Unbehagen.“ Man könne kaum zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden, denn es fehle der unmittelbare logisch-semantische Zusammenhang. Wenn man genau hinsieht, scheint das, was gesagt wird, „weder auf etwas Bestimmtes hin zu weisen noch etwas Sinnvolles im Hinblick auf die intendierte Meinung zu gewährleisten.“ Es werden pro Aussage mehrere Deutungsmöglichkeiten angelegt, die sich gegenseitig aufheben können, weil das Gesagte und Geschriebene über sich hinaus auf etwas anderes hintendiert. Was anscheinend da ist, erweist sich meist als etwas anderes. Hat man versucht, die semantische Leerstelle zu füllen, eine Bedeutung zu schaffen, muss der Entwurf im nächsten Schritt revidiert werden. Lægreid vermutet als Grund für ihr Unbehagen beim Lesen, dass in den Texten von Müller „ein Missverhältnis oder ein fehlendes Gleichgewicht zwischen den Wörtern und den Dingen vorherrschend ist.“[26] Rüther formuliert es so: Müllers Wörter und Sätze entziehen sich einer klaren Zuordnung, „weil sie stets im Spannungsverhältnis zwischen Erzähler und Leser eine eigene neue Wirklichkeit erzeugen.“ Sie „eröffnen dem Leser Assoziationsräume“.[25]
Müller hat erläutert, wie für sie beim Lesen und im eigenen Schreiben das Konstituieren von Bedeutung vonstattengehen kann: „… das, was man nicht aufschreibt, spürt man in dem, was man aufschreibt. Das Gesagte muss behutsam sein mit dem, was nicht gesagt wird./ Ich merke es an den Texten anderer Autoren, ich fühle es aus den Büchern. Das, was mich einkreist, seine Wege geht beim Lesen, ist das, was zwischen den Sätzen fällt und aufschlägt, oder kein Geräusch macht. Es ist das Ausgelassene“, so Müller in ihren poetologischen Essays Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet (1991).[27] Diese Auslassungen sind es, die den Lesern Freiräume und eigene Erfahrungsmöglichkeiten eröffnen und worin sich die eigene Wahrnehmung entfalten kann, schreibt Clemens Ottmers 1994.[28] Müller hat auch darauf hingewiesen, welche Beweggründe es für ein bestimmtes Merkmal ihrer Sätze gibt, und warum sich dieses Merkmal im Prozess des Schreibens zeigt: „Die Unruhe ist in der Stille der Wahrnehmung ein Überfall. Versucht man den Überfall beim Schreiben zu treffen, die Drehung, durch die der Sprung ins Unberechenbare einsetzt, muß man in kurzen Takten seine Sätze schreiben, die von allen Seiten offen sind, für die Verschiebung.“[27] Der Erlebnishorizont kann mit Hilfe von Auslassungen sowohl auf Seiten der Autoren als auch auf Leser-Seite durchbrochen werden und die autobiographischen Grenzen des Textes werden beiderseits überschreitbar.[28]
Mit der Sprache könne man, so Müller, über den „Teufelskreis der Diktaturen“ nicht alles aussagen, aber schriftlich könne „man sich über alles äußern und dadurch und durch andere Gesten“ – hier erinnert sie an ihre Mutter während der Deportation – „die Würde bewahren“. Dies sei die Freiheit, die der Unterdrückte habe. Die Freiheit werde umso größer, „je mehr Wörter wir uns nehmen können“. „Nichts stimmt, aber alles ist wahr.“ Die Wörter bilden eine Pantomime der Wirklichkeit in Aktion, parallel zu dieser Wirklichkeit. Es erinnere sie an die „akute Einsamkeit des Menschen“. Das Thema „Diktatur“ sei „immer implizit da“.[29]
Sprache als Werkzeug, „umgekehrte Ingenieurskunst“
Müller schreibt 1991 zur Wirkung des Zerlegens: „Der Frosch des Diktators, hat man ihn zerlegt in einzelne Details, er provoziert.“[27] Aus Sicht von Stig Sæterbakken praktiziert sie „die umgekehrte Ingenieurskunst der Schriftstellerin“.[30] Das Lesen wird ein bisschen wie wenn man ein Auto mental in seine Bestandteile zerlegt: „Je länger wir schauen, umso weniger Auto wird es und um so mehr Einzelteile, um so mehr erfahren wir darüber, woraus die Dinge wirklich bestehen, wie sie konstruiert und zusammengebaut sind.“ Müller konkretisiert Worte zu Dingen: Hunger wird zum Gegenstand, der Tod ein weißer Bart. Zu diesem Prozess gehört „die stringente Syntax und der ausgeprägt poetische Rhythmus all ihrer Texte, mit denen sie auch immer die Materialität von Sprache betont.“ Mittels dieser Demontage von Bedeutungskonstruktionen „können wir unser Bewusstsein für die einzelnen Bestandteile schärfen“ und mit Worten „Dinge aufeinander legen, Gegenstände so lange aufeinander stapeln, bis es zuviele werden und alles zusammenstürzt“, so Sæterbakken.[30]
In ihrem Schreibstil, so Müller, verwende sie oft Konjunktive, „damit es korrekt ist, aber die Sprache wirkt gestochen dadurch. Der Dialekt war nicht kompliziert, und das ist für mich schön und sinnlich. Wenn ich kann, gehe ich sofort in die direkte Rede. Die Sprache bleibt nah bei dem, woher man sie hat.“ „Ich mag keine abstrakten Begriffe in meinen Texten. Das Wort Diktatur zum Beispiel würde ich nie schreiben.“ Manchmal verwendet Müller eine weibliche Bezeichnung für Wörter, die im Deutschen männlich sind, wobei sie oftmals das Geschlecht bestimmter Wörter aus der rumänischen Sprache adaptiert. „Schreiben“ sei „auch hören“. Sie lese alles, was sie schreibe, „laut, und wenn es nicht gut“ klänge, dann stimme „etwas nicht. Die geschriebene Sprache sollte immer eine mündliche sein“.[31] Müller kombiniert Auditives und Visuelles. Was bisher nicht materiell war, wird durch dieses Kombinieren materialisiert. Müllers philologischem Bewusstsein und sprachkritischem Anliegen kommt man auf die Spur, indem man versucht, „das Geschriebene nicht nur zu sehen, sondern auch zugleich zu hören.“[26] Müller weiter: „Sprache ist für mich etwas von außen. Sie kann alles, ich misstraue ihr auch. Es gibt sie nicht für sich, sie läuft nur parallel zu dem, was passiert.“ „Ich will in meinen Büchern sagen, was im Leben passiert. Sprache ist nur das Werkzeug.“[31]
„Ständig schreib ich dir Karten. Die Karten vollgeschrieben. Und ich leer.“
Dieses Zitat kann als Beispiel dafür dienen, wie Müller Sprache als Werkzeug nutzt. Was im Leben passiert, wird hier nicht nur grammatikalisch, sondern auch visuell deutlich gemacht: um wie viel voller die geschriebene Karte ist als der Satz danach mit „ich“. Nur der erste ist noch grammatikalisch vollständig, den beiden folgenden fehlt schon das Verb. Und es wird vom ersten zum zweiten zum dritten Satz nicht nur die Anzahl der Wörter gemindert, sondern auch die Anzahl der Silben.[32]
Müllers poetologische Praxis lässt sich als ein ästhetisch inszeniertes Widerstandsmanöver beschreiben.[26] Zunehmend werden in Müllers Werk die Collagen zentraler. Sie verbinden das Visuelle mit dem Sprachlichen und weisen neuerdings in Bauweise und Inhalt eine Wendung zum Poetischen und Spielerischen auf.
Müllers Werk zeichnet sich gemäß Martina Wernli durch zwei Besonderheiten aus: Die Autorin mache einerseits „ihr Schreiben zum Thema“ und lasse so „die Grenze zwischen poetischen, poetologischen und Anlass-gebundenen Texten“ verschwimmen,[33] andererseits lösten in ihrem Werk Gegenstände eine Narration aus:
„Die Dinge verlangen eine Erzählung, in der dann ein Funkeln wahrgenommen werden kann. In diesem beinahe als subjektlosen Prozess beschriebenen Schreibvorgang zeigt die Metapher des Glitzerns, Glänzens und Funkelns auf, wie Literatur geschaffen wird und was Literatur auszeichnet.“
Ihr erstes Buch Niederungen, dessen Manuskript vor der Veröffentlichung über vier Jahre vom Verlag zurückgehalten wurde, konnte 1982 in Rumänien nur in zensierter Fassung erscheinen.[35] Während Intellektuelle „die kritische und sprachlich innovative Darstellung lobten“,[36] empfanden Teile der Banater Schwaben ihr Werk als „Nestbeschmutzung“. Bereits die Veröffentlichung der in dem Band enthaltenen Satire Das Schwäbische Bad im Mai 1981 in der Neuen Banater Zeitung löste bei den Lesern zum Teil heftige Polemiken aus.[37] In einer Leserbriefdiskussion fühlten sich einige Banater Schwaben „entlarvt, gedemütigt und beschimpft“.[21] Die widersprüchliche Kritik setzte sich in westdeutschen Feuilletons fort.[36][38]
Müller schreibt mit Reisende auf einem Bein das Genre des Großstadtromans aus der Sicht einer fremden deutschsprachigen Frau um.[39] Irene ist Mitte Dreißig und verlässt mit behördlicher Genehmigung ein von Militärs regiertes „anderes Land“. Sie kommt mit einem einzigen Koffer nach Westdeutschland, wo sie hofft, ein neues Zuhause zu finden. Das, was vertraut werden sollte, scheint allerdings ebenfalls ein „anderes Land“ zu sein.[40] Sie findet Aufnahme in einem Übergangsheim und erhält schließlich die deutsche Staatsbürgerschaft. Zurechtgefunden hat Irene sich noch nicht. Sie stellt eine Collage her, die sie mit ihren Blicken schrittweise abtastet.[41] Als Stadtläuferin lotet Irene die neue Stadt räumlich aus, die sie als Beobachterin und nicht als Teilhabende oder Anteilnehmende erlebt. Irene erkennt, dass ihr Leben zu Beobachtungen geronnen ist, die sie handlungsunfähig machen.[42] Es gibt keinen Handlungsfaden.[43] Die Labilität der Protagonistin Irene und ihre Kraft werden vor allem im Schreibstil zum Ausdruck gebracht. Weil die Normalität, die öffentlich zur Schau gestellt wird, in Irenes Wahrnehmung voll von Falschheit und Schwammigkeit ist und sie dem mit ihrer Sprache standzuhalten versucht, kann Irene ihre Vereinsamung nicht überwinden.[40] Auch die Erzählweise kann sich auf einem Bein nur hüpfend voranbewegen.[44] Der Schluss ist ambivalent, weil Irene einerseits davon träumt, weit wegzufahren und andererseits von Abschiednehmen nichts wissen will.[39] In einer der ersten Rezensionen im November 1989 heißt es: „Die magische Beschwörung der Provinz als andauerndem psychosozialen Zustand beleidigt den Leser, der sich auf der Höhe der Zeit wähnt, in der er lebt, getragen von der allgemeinen Erwartung eines zukünftig noch größeren deutschen Glanzes. Irenes Westen leuchtet nicht. Sie ist mit der Passivität der Randständigen geschlagen, hier wie dort, in Kreuzberg und in Nitzkydorf.“ (Günter Franzen in Die Zeit, Ausgabe vom 10. November 1989)[45]
2009 wurde Müllers Roman Atemschaukel, der durch ein Grenzgänger-Stipendium[46] der Robert-Bosch-Stiftung gefördert wurde, für den Deutschen Buchpreis nominiert und gelangte ins Finale der besten sechs Romane.[47] In diesem Buch zeichnet die Autorin die Deportation eines jungen Mannes in ein sowjet-ukrainisches Arbeitslager nach, das exemplarisch für das Schicksal der deutschen Bevölkerung in Siebenbürgen nach dem Zweiten Weltkrieg steht. Als Modell diente ihr dabei das Erleben des 2006 verstorbenen Lyrikers und Georg-Büchner-Preisträgers Oskar Pastior, dessen mündliche Erinnerungen Müller in mehreren Heften notiert hat. Viele Jahre später während ihrer Gespräche mit Oskar Pastior über seine Deportation erzählte er ihr Dinge, die sie an diese Begebenheiten ihrer Jugend erinnerten. Ihr Großvater hatte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs resümiert: „Wenn die Fahnen flackern, rutscht der Verstand in die Trompete.“ Dies wurde der Leitspruch ihres Lebens. „Ich beschloss, die Trompete nicht zu blasen.“
Die „Todesangst“ erzeuge „Lebenshunger“ und dieser den „Worthunger“. In ihrer Rede zur Verleihung des Nobelpreises nannte sie als Hintergrund zum Roman Personen und Umstände, die ihr das Schreiben ermöglicht hätten, so Oskar Pastiors Einfluss, aber auch die Liebe ihrer Mutter, die sie in der Frage konzentrierte: „Hast du ein Taschentuch [dabei]?“ Kein anderer Gegenstand im Haus wäre so wichtig gewesen wie das Taschentuch. Es sei universell nutzbar gewesen: für Schnupfen, Nasenbluten, die verletzte Hand, das Weinen oder das Draufbeißen, um das Weinen zu unterdrücken. Eines hätte ihr auf einer Treppe als Büro gedient, als ihr Betrieb in Rumänien versuchte, sie zu entlassen. Das Fragen nach dem Taschentuch brächte sie mit der Einsamkeit des Menschen, aber auch mit der Sicherheit, die die Mutter ihr bot, in Verbindung.[48]
Müller verwendet Collage als Metapher, als Struktur und als künstlerische Praxis. Collage als Motiv war zuerst in Reisende auf einem Bein (1989) zu finden. Inzwischen wird die Verbindung zwischen verschiedenen Modi des künstlerischen Ausdrucks in Müllers Werk zentraler. Die jüngeren Collagen bringen im Zusammenspiel von Bild und Sprache zunehmend das Poetische und Spielerische zur Geltung.[49]
Müller entgegnet auf die Gattungsfrage, es sei „eine Art zu schreiben, sonst gar nichts“. Mit der bildhaften Sprache in den Collagen verstehe sie sich nicht als bildende Künstlerin, es sei eher das „handwerkliche, das ihr dabei“ gefalle.[31] Ihre Collagen seien zu instinktiv und intuitiv, sagte Herta Müller[50] bei der Ausstellungseröffnung im Literaturhaus Berlin am 7. September 2012, bei der sie ihren neuesten Band Vater telefoniert mit den Fliegen vorstellte, der 187 Collagen umfasst. Susanne Beyer stellte 2012 in einem Spiegel-Interview mit Herta Müller fest, dass sich Literaturwissenschaftler „mit der Gattungsdefinition“ nicht leicht tun: „Der eine spricht von ‚Gedichtbildern‘, ein anderer von ‚Kürzestgeschichten‘ oder ‚Prosagedichten‘.“[31] Julia Müller etwa stellt fest, dass der Paratext bei allen vier Publikationen dieser Art, Der Wächter nimmt seinen Kamm. Vom Weggehen und Ausscheren (1995), Im Haarknoten wohnt eine Dame (2000), Die blassen Herren mit den Mokkatassen (2005) im Stil des Erpresserbrief-Layout[51][52] und Vater telefoniert mit den Fliegen (2012), über eine Gattung keinen Aufschluss gibt und eine Zuordnung daher als problematisch anzusehen ist. Es sei unklar, ob es sich um Lyrik mit zugehörigen Illustrationen handelt oder um Collagen mit Text- und Bildelementen. Ferner, ob jede Karte für sich ein abgeschlossenes Artefakt ist oder ob sich die einzelnen Seiten der Postkartenbücher zueinander verhalten wie Bestandteile eines Zyklus.[53]
In der Ausstellung „Wortkünstler / Bildkünstler“ im Rahmen der Internationalen Tage Ingelheim 2013 bildeten die Wort- und Textcollagen Müllers den radikalen, aber auch poetischen Endpunkt der Ausstellung. Die Autorin zeigte ihre Werke, in denen sie mit ausgeschnittenen Wörtern aus Zeitschriften häufig skurril anmutende Texte entstehen lässt, in Collagen von eigener bildkünstlerischer Ästhetik.[1][54]
Im März 2019 veröffentlichte die Literaturwissenschaftlerin Christina Rossi in der Neuen Zürcher Zeitung einen Essay, in dem sie den Fund früher Collagen von 1989 im Archiv des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München präsentiert. Sie fand neun Collagen im Vorlass des Schriftstellers Richard Wagner, mit dem Müller zu dieser Zeit verheiratet war. Müller hatte die Collagen im Sommer 1989 als Postkarten an Wagner gesandt. Die von Rossi gefundenen Collagenkarten stellen die frühesten bekannten Collagen Müllers dar.[55]
Eine Ausstellung von Müllers Collagen wurde 2021 im Museum Langmatt gezeigt.[56]
Seit 1989 Reisende auf einem Bein erschienen ist, sind in Feuilletons Aussagen zu lesen gewesen, die wie asylbehördliche Vorbehalte in Außenstellen von Ausländerämtern klingen, befand Michael Naumann in seiner Rezension von Der König verneigt sich und tötet 2003 und fährt fort, da stehe etwas in dieser Art: „Zwar schreibe sie mit kraftvollen Metaphern über die Schrecken einer Diktatur, zwar gelinge ihr dies in einer eigentümlichen, unverwechselbaren Sprache – indes, dies alles spiele sich im Ausland ab ….“[57]
Herta Müller erhielt unter anderem folgende Auszeichnungen:
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