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christliches Gebet nach dem Neuen Testament Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Das Vaterunser oder Unservater (lateinisch Pater noster oder Oratio Dominica, deutsch Gebet des Herrn oder Herrengebet) ist das Gebet, das Jesus von Nazaret nach dem Neuen Testament (NT) seine Nachfolger gelehrt hat. Es ist einer der bekanntesten Texte der Bibel, das am weitesten verbreitete Gebet des Christentums und gehört mit dem Credo und den Zehn Geboten zu den Basistexten, die jeder getaufte Christ lernen und kennen soll.[1] Christen aller Konfessionen beten es in der Fassung nach Mt 6,9-13 EU, die meisten auch im Gottesdienst.
Das NT überliefert im Evangelium nach Matthäus (Mt) und Evangelium nach Lukas (Lk) zwei Fassungen des Vaterunsers:[2]
Mt 6,9–13 EU | Lk 11,2–4 EU |
---|---|
Unser Vater in den Himmeln, | Vater, |
geheiligt werde Dein Name, | geheiligt werde Dein Name, |
es komme Dein Reich, | es komme Dein Reich! |
es geschehe Dein Wille | |
wie im Himmel auch auf Erden! | |
Unser Brot für den nächsten Tag gib uns heute! | Unser Brot für den nächsten Tag gib uns Tag um Tag! |
Und lass uns nach unsere Verschuldungen, | Und lass uns nach unsere Sünden, |
wie auch wir nachgelassen haben unseren Schuldnern! | denn auch wir lassen nach jedem, der uns schuldet! |
Und bringe uns nicht in Versuchung hinein, | Und bringe uns nicht in Versuchung hinein! |
sondern errette uns von dem Bösen! | |
„Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.“ | |
Die beiden Fassungen unterscheiden sich nach Umfang und Wortwahl: Gott wird bei Mt „Unser Vater in den Himmeln“, bei Lk nur als „Vater“ angeredet. Die dritte Bitte bei Mt fehlt bei Lk. Die Brotbitte ist bei Mt mit „heute“, bei Lk mit „täglich“ formuliert. Bei Mt wird Vergebung von „Schulden“, bei Lk von „Sünden“ erbeten. Im Nachsatz „wie auch wir…“ steht bei Mt Präteritum („…vergeben haben“), bei Lk Präsens („…vergeben“). Nur bei Mt ist die Bitte um Bewahrung vor der Versuchung mit der Bitte um Erlösung vom Bösen ergänzt. Die Doxologie am Mt-Schluss fehlt bei Lk und in den ältesten Mt-Handschriften. Sie gilt daher als redaktioneller Zusatz. Somit wurde das Gebet eher ergänzt als gekürzt, und die Lk-Fassung ist eher die ältere. Die Varianten zeigen, dass die Urchristen eher den Inhalt des Gebets in der Sprache der Adressaten weitergeben als einen „echten“ Wortlaut Jesu streng bewahren wollten.[3]
Beide Fassungen beginnen mit Du-Bitten „(Dein)“ an Gott (Name – Reich – [Wille]), denen Wir-Bitten „(Unser)“ um leibliche und geistliche Anliegen der Nachfolger Jesu folgen (Brot, Vergebung, Bewahrung vor Versuchung). Beide Varianten haben dieselbe Abfolge von Du- und Wir–Bitten, wobei bei Mt an thematisch passender Stelle zu den fünf Lk-Bitten zwei ergänzt wurden.
Die M-Version steht in der Mitte der Bergpredigt, die als Lehre Jesu seinem heilvollen Handeln vorangestellt ist (Mt 5,1f EU). Das Vaterunser konkretisiert Jesu Lehre vom Beten der Nachfolger (Mt 6,5–15 EU): Es soll sich von einer öffentlichen, wortreichen, auf Außenwirkung bedachten Art des Betens bei Pharisäern und Nichtjuden unterscheiden. Seine Grundlage ist die allem Beten vorlaufende Zusage: „Euer Vater weiß, was ihr braucht, ehe ihr darum bittet.“ (Mt 6,8 EU). Darauf folgt die Aufforderung: „Darum sollt ihr so beten: …“ (Mt 6,9a EU).
Bei Matthäus ist die Anrede Gottes feierlich ausgestaltet: Nicht nur „Vater“ (wie bei Lukas), sondern „Unser Vater in den Himmeln“. Auch die beiden Bittenreihen werden ergänzt: Die erste Reihe durch den Hinweis „Dein Wille geschehe“, die zweite Reihe durch die Bitte „sondern erlöse uns von dem Übel“.
Nur bei Matthäus steht ein Kommentar Jesu, eine der Bitten betreffend, nämlich die Bitte um Vergebung: Der Kommentar bezieht sich auf die Aussage des Beters, seinerseits anderen Menschen vergeben zu haben. Jesus erklärt dieses zwischenmenschliche Vergeben für äußerst wichtig; er sieht es als Voraussetzung dafür, von Gott Vergebung zu empfangen (Mt 6,14 EU). Dieser Kommentar ist übrigens halb so lang wie der Text des Vaterunsers.[4]
Nur die matthäische Version beschließt die Bittenreihe mit einer Doxologie („rühmendes Wort“), die auf die Anfangsbitte um das Kommen des Reiches Gottes zurückkommt und die vorausgegangene Zusage Gottes im Munde Jesu gleichsam appellativ an Gott zurückgibt: „Denn dein ist das Reich […]“ Dieser Schluss ist allerdings in den ältesten Handschriften nicht überliefert, fehlte somit vermutlich im ursprünglichen Matthäusevangelium.
Das Vaterunser steht außerhalb der Feldrede (Lk 6,20–49 EU) und anderer lukanischer Parallelen zur Bergpredigt. Es ist als Antwort Jesu auf die Anfrage eines Jüngers überliefert: „Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte. Da sagte er zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht: Vater, dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen. Und erlass uns unsere Sünden; denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist. Und führe uns nicht in Versuchung.“ (Lk 11,1–4 EU). Davor wurde über Jesu Besuch bei den Schwestern Martha und Maria berichtet (Lk 10,38–42 EU). Dort wurde das Hören auf die Lehre Jesu als „das gute Teil“, das dem, der es erwählt, nicht weggenommen werden soll, der vielen „Sorge und Mühe“ gegenübergestellt, mit der Martha Jesus zu dienen sich bemüht. Demgemäß erscheint das Vaterunser als jener bessere Gottesdienst, den die Hörer der Lehre Jesu von ihm lernen können.
Wegen des situativen Rahmens und der Erwähnung der Johannesjünger wird die Lukasversion meist für ursprünglicher gehalten.
Die Wir-Form des Vaterunsers legt nahe, dass es in Gemeinschaft gebetet wurde; dazu war dessen Auswendiglernen erforderlich. Dies wirft aber die Frage auf, warum es zwei Versionen gibt. Die Forschung neigt dazu, die kürzere Fassung bei Lukas für die ursprünglich von Jesus gelehrte zu halten. Die Erweiterungen der Matthäusfassung beruhen vielleicht auf folgenden Anliegen: Die feierliche Gottesanrede zu Beginn könnte aus liturgischen Gründen erfolgt sein. Die beiden zusätzlichen Bitten könnten dem Wunsch entsprungen sein, sich umfassend am Beten Jesu zu orientieren; die Bitten sind in ähnlicher Form als Gebete Jesu am Passionsabend berichtet: „Dein Wille geschehe“ betete Jesus in Getsemani (Lk 22,42 EU), und „bewahre sie vor dem Bösen“ bat Jesus im so genannten „hohepriesterlichen Gebet“ (Joh 17,15 EU).[5]
Dass die Versionen bei Lukas und Matthäus auf eine gemeinsame Übersetzung ins Griechische zurückgehen, ergibt sich durch die übereinstimmende Verwendung des dis legomenon epiusios in der Brotbitte.[6]
Da sich das Vaterunser bei Matthäus und Lukas, nicht aber bei Markus findet, wird es von der historisch-kritischen Forschung der hypothetischen Logienquelle Q zugeordnet. Deren älteste, anfangs mündlich überlieferten und von der Situation missionierender Wanderprediger geprägten Texte werden auf Christen zurückgeführt, die wohl noch selbst Jesus zu Lebzeiten begegnet sind.[7]
Das Vaterunser knüpft an Gebetstraditionen des Tanach an. So bezieht sich etwa Psalm 103 auf Gottes heiligen Namen, auf seinen Willen sowie auf seine Vergebungsbereitschaft, und er vergleicht das Erbarmen Gottes mit dem eines Vaters gegenüber seinen Kindern. Jesus griff also im Alten Testament vorhandene Stichworte auf, ohne konkrete Formulierungen von dort zu entlehnen.
Es gibt einzelne Ähnlichkeiten zu später entstandenen jüdischen Gebeten: Beim ersten Teil des Vaterunsers, in Bezug auf die Heiligung des Namens und der Verwirklichung von Gottes Herrschaft, gibt es Parallelen zum Kaddisch (das ungefähr um 100 n. Chr. entstand), und beim zweiten Teil, in Bezug auf den Bedarf des menschlichen Lebens, gibt es Parallelen zum Achtzehnbittengebet Schmone Esreh (dessen Inhalte sind um 200 n. Chr. bezeugt).[8] Es gibt aber auch wesentliche Unterschiede. Jüdische Gebete wurden in der heiligen Sprache Hebräisch gesprochen, während Jesus das Vaterunser höchstwahrscheinlich in der Volkssprache Aramäisch lehrte. Die häufigsten Anreden Gottes im Judentum waren „Herr“ oder „König der Welt“. Die von Jesus praktizierte – und seine Jünger gelehrte – Anrede war aramäisch Abba, zu übersetzen mit Vater oder lieber Vater.[9] Das war eine sehr vertrauliche Anrede. Man kann „mit dieser Formel die ganze urchristliche Theologie zusammenfassen“.[10] Die Gott so familiär Anredenden sind „Kinder Gottes“ (Röm 8,15–16 EU). Die Vorstellung vom himmlischen Vater ist frei zu halten von patriarchalischen Zerrbildern, wie sie sich durch menschliche Väter oft ergeben.[11] Neu war auch Jesu Aufforderung an den Betenden, seinerseits anderen Menschen zu vergeben, und die Verknüpfung dieser Bedingung mit der Bitte an Gott um Vergebung der eigenen Schuld. Auffallend ist schließlich die Kürze des Gebets.
Manche Neutestamentler übersetzen die vorliegenden ältesten griechischen NT-Handschriften des Gebets in die Aramäische Sprache zurück, die Jesus von Nazaret selbst gesprochen hat. Sie versuchen damit, einen mutmaßlich historischen Wortlaut des Gebets zu rekonstruieren.
Die Altphilologin Ursula Schattner-Rieser legte ihrer Rekonstruktion von 2019 die „mittelaramäische-palästinensische Phase“ von Texten aus Qumran zugrunde. Das Ergebnis unterscheidet sich in etlichen Details von anderen Rückübersetzungen.[12]
Vor allem die Römisch-Katholische Kirche verwendet die lateinische Übersetzung des Gebets nach der Vulgata:[13]
Pater noster, qui es in caelis:
sanctificetur nomen tuum.
Adveniat regnum tuum.
Fiat voluntas tua,
sicut in caelo, et in terra.
Panem nostrum supersubstantialem (cotidianum) da nobis hodie.
Et dimitte nobis debita nostra,
sicut et nos dimittimus debitoribus nostris.
Et ne nos inducas in tentationem,
sed libera nos a malo.
Amen.
Die evangelisch-lutherischen Kirchen folgen in der Regel der Lutherbibel, heute meist in der revidierten Fassung von 1984: Mt 6,9–13 LUT
Abschnitt | Gegenwärtige ökumenische Fassung (erarbeitet durch die ALT 1968) |
Frühere lutherische Fassung (Evangelisches Kirchengesangbuch 1950) |
Frühere römisch-katholische Fassung (Schott-Messbuch von 1930) |
Frühere alt-katholische Fassung (Gesangbuch von 1965) |
---|---|---|---|---|
Bitten |
Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. |
Vater unser, der du bist im Himmel, geheiliget werde dein Name. |
Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name; |
Vater unser, der Du bist im Himmel. Geheiliget werde Dein Name. |
Dein Reich komme. |
Dein Reich komme. |
zu uns komme Dein Reich; |
Zu uns komme Dein Reich. | |
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. |
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden. |
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden! |
Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden. | |
Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. |
Unser täglich Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern. |
Unser tägliches Brot gib uns heute; und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern; |
Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. | |
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.[14][15] |
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. |
und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. |
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. | |
Embolismus | (Nur in manchen liturgischen Traditionen, siehe Embolismus.) | |||
Doxologie | Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. | Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. | ||
Akklamation | Amen. | Amen. | Amen. | Amen. |
In den reformierten Kirchen lautet die Anrede: „Unser Vater“, der übrige Text ist gleich.[16] In der Neuapostolischen Kirche wird neben der Anrede auch der zweite Satz umgestellt: „Dein Name werde geheiligt“. Darin folgt sie der Lutherbibel von 1984.
Im Gegensatz zu den allermeisten deutschen Übersetzungen unterscheidet die lateinische Fassung bei der doppelt vorkommenden Wendung „im Himmel“ zwischen Plural und Singular: in caelis (Ablativ Plural, wörtlich: in den Himmeln) einerseits, in caelo (Ablativ Singular) andererseits. Diese Formulierung findet sich auch im griechischen Urtext ἐν τοῖς οὐρανοῖς (en tois ouranois) und geht eventuell auf das Hebräische zurück, in dem das Wort für Himmel שָׁמַיִם (schamayim) mit „-im“ stets eine Mehrzahlendung hat, wobei versucht wird, möglichst genau zu übersetzen. Aus diesem Grunde heißt es auch bis heute in der Elberfelder Bibel „in den Himmeln“. In evangelikalen Kreisen spricht man bis heute vom „Königreich der Himmel“ und nicht vom „Himmelreich“. Eine andere Auffassung sieht im Plural einen Reflex der antiken Vorstellung von den Sieben Himmeln, wobei Gott selbst in Araboth, dem Siebten Himmel verortet wird.[17] Bereits die, Ende des achten Jahrhunderts erstellte, erste Übersetzung des St. Gallener Katechismus wich jedoch mit der Formulierung „Fater unseer, thu pist in himile“ davon ab, ebenso wie – mit Ausnahmen – die heutige Tradition.[18] Entsprechend verwendet die englische Fassung zweimal den Singular „in heaven“, während im Französischen zwischen „aux cieux“ und „au ciel“ unterschieden wird.
Bei der Brotbitte spricht die griechische Urfassung vom ἄρτος ἐπιούσιος, also vom „ausreichenden Brot“ oder dem Brot für diesen (und den nächsten) Tag: „Das für uns ausreichende Brot gib uns heute.“ Die Vulgata übersetzt dasselbe Wort epiusios unterschiedlich: Lukas 11:3 „Panem nostrum cotidianum da nobis cotidie“,[19] Matthäus 6:11 „Panem nostrum supersubstantialem[20] da nobis hodie.“[21] Im liturgischen Gebrauch war immer[22] die Formulierung „panem quotidianum (cotidianum)“ – „das tägliche Brot“ – üblich.
Bei der Bitte um Vergebung folgen die Übersetzungen nicht den ältesten Handschriften, sondern dem Mehrheitstext bzw. der Textfassung bei Lukas. Sie schreiben: „wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ (ἀφιομεν, Präsens). Ursprünglich stand bei Matthäus aber sehr wahrscheinlich die Verbform ἀφήκαμεν (aphēkamen, eine Form des Aoristes): „wie wir vergeben haben“. Das bedeutet für den Betenden, dass er nicht um Vergebung bitten solle, wenn er selber diesen Schritt noch nicht getan hat, denn – so fährt das Matthäusevangelium fort – „wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, wird auch euer Vater im Himmel euch eure Verfehlungen vergeben. Wenn ihr aber den Menschen ihre Verfehlungen nicht vergebt, wird auch euer Vater im Himmel euch eure Verfehlungen nicht vergeben.“ (Mt 6,14 15)
Die im Deutschen traditionell mit „Und führe uns nicht in Versuchung“ wiedergegebene Bitte wird von Exegeten mit „Und lass uns nicht in Versuchung geraten“ übersetzt.[23][24] Dementsprechend wurde die Übersetzung der Bitte für die französischsprachigen Katholiken im Dezember 2017 (bzw. 2018 in der Schweiz) von der überkommenen Formulierung Ne nous soumets pas à la tentation („Unterwirf uns nicht der Versuchung“) in Ne nous laisse pas entrer en tentation („Lass uns nicht in Versuchung eintreten“) geändert.[25] Papst Franziskus bemängelte aus diesem Anlass die Übersetzungen ins Deutsche und in andere Sprachen.[26] Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx, wies dies zurück. Er sehe keine Notwendigkeit, das Vaterunser zu ändern, und habe auch die meisten deutschen Bischöfe auf seiner Seite. Auch die deutschsprachigen evangelischen Kirchen sehen keinen Handlungsbedarf; nach Aussage des Leiters der Revision der Lutherbibel, Christoph Kähler, sei dies keine Frage der richtigen Übersetzung, sondern der Deutung.[27][28] Nach der päpstlichen Anregung wurde der Text für Italien ab 29. November 2020 geändert: Er lautet jetzt non abbandonarci alla tentazione („Überlasse uns nicht der Versuchung“), statt bisher non ci indurre in tentazione („Führe uns nicht in Versuchung“).[29] In der spanischen Fassung des Gebetes, die dem Papst aus Argentinien vertraut ist, heißt es bereits seit dem 16. Jahrhundert: no nos dejes caer en la tentación („Lass uns nicht in Versuchung fallen“).[30]
Der Lobpreis ὅτι σοῦ ἐστιν ἡ βασιλεία καὶ ἡ δύναμις καὶ ἡ δόξα εἰς τοὺς αἰῶνας. ἀμήν bzw. Quia tuum est regnum et potestas et gloria in saecula. („Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“) findet sich erst in späteren Handschriften; er lehnt sich an ein Dankgebet des Königs David an (1 Chr 29,11 EU).
Das Vaterunser erhielt früh einen festen Platz in der urchristlichen Gottesdienstliturgie. Gemäß der Didache 8,2f sollten Christen es auch privat dreimal am Tag beten.
In der katholischen Kirche ist das Vaterunser Bestandteil der heiligen Messe, des Stundengebets der Laudes und der Vesper sowie des Rosenkranzgebets.[31] Auch in den evangelischen Kirchen in Deutschland gehört es als fester Bestandteil zum Gottesdienst. Die Kapitularien Karls des Großen ordneten an, dass jeder Christ es auswendig hersagen können sollte. Wer dies nicht vermochte, sollte nicht als Pate (Taufzeuge) zugelassen werden.
In der orthodoxen Kirche wird die Doxologie im Gottesdienst vom Priester gesprochen, im privaten Gebrauch ganz weggelassen. Diese Praxis war auch in der römisch-katholischen und der altkatholischen Kirche vor der Liturgiereform verbreitet. Bei der Feier der heiligen Messe nach dem Missale Romanum von 1962 werden die ersten Bitten des Vaterunsers vom Zelebranten gebetet; nur die letzte Bitte wird von allen gemeinsam gesprochen, auf die dann der Embolismus mit der Doxologie folgt.
In der heiligen Messe findet sich zwischen den Bitten und der Doxologie der Embolismus, den der Priester vor dem Schlussvers singt oder spricht, um die vorangegangenen Bitten zu vertiefen und zusammenzufassen:
„Erlöse uns, Herr, allmächtiger Vater, von allem Bösen und gib Frieden in unseren Tagen. Komm uns zu Hilfe mit deinem Erbarmen und bewahre uns vor Verwirrung und Sünde, damit wir voll Zuversicht das Kommen unseres Erlösers Jesus Christus erwarten.“
Auslegungen des Vaterunsers sind seit dem ersten lateinischen Kirchenschriftsteller Tertullian (* nach 150) in vielfältiger Weise erschienen. Ein Beispiel ist eine Auslegung in Versform in einer bairischen Exegese des 12. Jahrhunderts im Versmaß des Septenar.[32]
Das Vaterunser wurde in der Kirchengeschichte und der profanen Musikgeschichte oft und auf verschiedene Weisen musikalisch vertont.
In der Liturgie werden unter anderem folgende Kompositionen und traditionelle Melodien verwendet:
Eine der gregorianischen Melodien des lateinischen Gebets des Herrn (toni Orationis Dominicae) |
Quelle: Gotteslob (1975) Nr. 378 |
Messgesang Vater unser |
Quelle: Gotteslob (1975) Nr. 362 |
Werke für Chor (und Orchester) im Stile einer Motette, einer Kantate oder eines Oratoriums stammen von
Als Werk für Orgel kommt das Gebet ebenfalls in der Musikgeschichte vor, unter anderem:
Kompositionen zum Vaterunser für symphonisches Orchester stammen von:
In der Klangsprache der elektronischen Musik des 20. und 21. Jahrhunderts erklingt das Gebet beim Song Vater Unser von E Nomine (1999).
Volkslied- oder Schlager-artige Vertonungen stammen etwa von:
In der Rock- und Popmusik wurde das Vaterunser vertont von:
Ausgehend vom Kommentar des Augustinus zur Bergpredigt wurde das Vaterunser in sieben Bitten eingeteilt. Ein solches Vaterunser-Septenar wurde mit anderen Septenaren in Beziehung gesetzt: den Seligpreisungen, den Gaben des Hl. Geistes, den Tugenden, den sieben Leiden Christi, den sieben Lastern und anderen mehr.
Graphisch wurden die Septenare in sogenannten figurae dargestellt, Abbildungen, die in Form eines Rades (rota), eines Baumschematas (arbor), in tabellarischen Darstellungen (scalae) oder auch in der Anordnung einer Perlenschnur die Septenare auf einem Blatt übersichtlich geordnet darstellten. „Dem liegt die Auffassung zugrunde, die Schöpfung folge einer Ordnung.“[34]
„Im Bereich bebilderter Vaterunser-Erklärungen ist die Rota die bevorzugte […] Figura.“[35] Die in ihnen vorgenommene Anordnung der Vaterunser-Bitten wird als Erzeugung einer „ordo“ verstanden, so dass „die Bitten – entsprechend dem Gedanken eines Aufstiegs – in entgegengesetzter Anordnung zum Bibeltext präsentiert sind.“[36]
Die älteste Rota[37] ist ein Blatt aus einem Lukas-Evangeliar, das ursprünglich aus der Benediktinerabtei von Wissembourg im Elsass stammt und sich jetzt in der Herzog-August-Bibliothek von Wolfenbüttel befindet. Rotas konnten in der Folge aber auch sehr stark ausgearbeitet werden und so umfangreiche Inhalte transportieren. Ein Beispiel dafür sind die „Dominicae orationis et quatuor temporum declaratio“.[38] Diese Rota zeigt „einen Heilsweg, der mit den Bitten des Vaterunsers weg von den Lastern durch den Empfang der Geistesgaben hin zu den Tugenden und schließlich zu den Seligkeiten der Bergpredigt führt.“[39] „Der individuelle Heilsweg der Rota ist von dem übergeordneten Weg der Heilsgeschichte umrahmt.“[40]
Arbores, die die sieben Bitten des Vaterunsers enthalten, sind erst ab Mitte des 14. Jahrhunderts bekannt. In den schematischen Darstellungen der Gebetsschnüre werden die Vaterunser-Bitten häufig mit Erläuterungen versehen.
Figurae jeglicher Form stellten mnemotechnische Hilfsmittel dar: „Darumb ist dies figur zu einer gedachtnüsz gemacht, das man dar ausz lerne und betracht.“[41] Rotae und arbores eigenen sich auch als Predigthilfe, zur Unterrichtung der Laien in Predigt und Unterricht; die Perlenschnüre waren vielfach eine Stütze im Gebet.
Eine Veränderung tritt mit dem Werk „Somme le Roi“[42] ein, in dem zum ersten Mal allegorische Darstellungen verwendet werden: Junge Frauen stehen für die Bitten des Vaterunsers. Mithilfe der Quellen des Hl. Geistes verhelfen sie Bäumen zu Wachstum und Gedeihen, die selbst wiederum für das Erlangen von Tugenden stehen.
Bebilderte Ausgaben eines Vaterunser-Zyklus gibt es dann mit den Blockbuchausgaben, so dem „Exercitium super Pater noster“.[43][44] Hierbei „handelt es sich um die frühesten Beispiele, in denen jede einzelne Aussage des Gebets durch ein Bild ergänzt wird, das deren Inhalt in ausführlicher, allegorischer Darstellung erläutert.“[45] So entstand „eine ganz eigenständige, in sich geschlossene, allegorische Bilderzählung.“[46], „die den Betrachter anregt, jedes Bild für sich und die Holzschnittfolge insgesamt als zusammenhängende Erzählung zu lesen“[47], womit eine starke didaktische Absicht verbunden war.
„Mit der Reformation … blieb zwar die Siebenteilung der Vaterunserbitten erhalten, die Zuordnung weiterer Septenare fand jedoch – auch auf Seiten der Gegenreformation – weitgehend ein Ende.“[48]
Überliefert sind aus der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts Druckwerke zum Vaterunser von Daniel Hopfer, Hans Holbein d. J. und Lucas Cranach.
Dabei beziehen sich die motivgleichen Darstellungen von Holbein und Hopfer zum Teil auf biblische Szenen wie das Pfingstfest (dein Reich komme) oder das Kreuztragen Jesu (dein Wille geschehe). Andere Drucke sind realitätsnah auf Szenen aus der eigenen Gegenwart bezogen: die Speisung einer großen Menschenmenge mit Bierkrug und Haxe, die Begegnung Jesu mit den Gefolterten im Folterkeller, die Vernichtung von Leben durch Krieg, Feuer, Pest und Begierde sowie die Hoffnung auf Erlösung angesichts des Trauerns am offenen Grab.
Im Unterschied dazu sind die Stiche von Lucas Cranach[49] im Geiste der Reformation noch deutlicher an der Bibel orientiert. Die Vaterunser-Aussagen werden durch biblische Szenen illustriert, sei es durch die Parabel des unbarmherzigen Dieners (vergib uns unsere Schuld) oder das Gleichnis von der kanaanäischen Frau, die um Erlösung vom Übel bittet. „Die Taten Christi zeigen auf, wie die Inhalte der einzelnen Bitten praktisch umgesetzt werden können. Die Illustrationen verdeutlichen die heilsgeschichtliche Bedeutung des Vaterunsers und haben lehrhaften, unterweisenden Charakter. Dies unterstreicht auch die Darstellung der Bitte „geheiligt werde dein Name“ durch eine Predigtszene.“
In den nachfolgenden Jahrhunderten findet das Vaterunser als Thema in der Kunst keine Beachtung. Erst infolge der Umbrüche des Ersten Weltkriegs fertigt Max Pechstein 1921 seine Holzdrucke zum Vaterunser an.[50] Der harte Kontrast von Schwarz und Weiß, die eckigen Konturen des Expressionisten unterstreichen den appellativen Charakter der Bilder, die im Gegenwartsbezug der Szenen eine soziale Komponente aufweisen. So gibt es zu den Vaterunser-Bitten zum Thema Schuld und zum Thema Versuchung je zwei Bilder, was den aktuellen Problemen der Menschen der Nachkriegszeit Rechnung trägt.
Die Kombination von Text und Bild in intensiver szenischer Zuordnung führte zu einer intensiven religiösen Ausdruckskraft.[51] Die zentrale Rolle Gottvaters wird dadurch unterstützt, dass die entsprechenden Bilder koloriert sind und der Doxologie mit drei Bildern mehr Raum gegeben wird.
Die Moderne verabschiedet sich vom Bezug auf konkrete Bibelstellen. Auch der Gegenwartsbezug auf individuelle Lebenssituationen fehlt. Zeitgenössische Vaterunser-Zyklen von Siegfried Angermüller, Henning Diers, Andreas Felger, Jörgen Habedank und Alois Plum benutzen in ihren Gemälden und Fenstern Farbe und Form als Ausdrucksmittel.
Siegfried Angermüller stellt das Vaterunser-Gebet mit Hilfe von archaischen Formen und symbolhaften, hellen, warmen Farben dar. Das vollkommene Rund des Göttlichen begegnet dem Kosmos, teilt sich als Brot mit. Die Spirale der Gewalt und weitere Elemente können ebenso wie die Farbzuweisung vom Betrachter ganz individuell interpretiert werden.[52]
Henning Diers wendet bei seinen großformatigen Vaterunser-Bildern 2012 eine Mischtechnik mit Acryl, Lack, Öl an und benutzt – auch unter Verwendung von Blattgold – ein Farbspektrum von Gold-, Braun- und Grautönen.[53] In abstrakten Darstellungen stellt er Gott ins Zentrum oder als Zielpunkt des Geschehens dar, verschenkt das tägliche Brot in vielerlei Formen, schüttet die Wogen der Vergebung über die Treppe der Schuld aus und verbindet das Reich Gottes mit der Kraft der Liebe, die Kraft Gottes mit der Zartheit der Natur und arbeitet wie Max Pechstein die Doxologie in mehreren Bildern aus.
Im Vaterunser-Zyklus von Andreas Felger beruhen die Bildzeichen „auf einem äußerst reduzierten Formvokabular, das einen Resonanzraum für subjektive Empfindungen und Deutungen bietet und zugleich so allgemein (verständlich) bleibt, dass jede und jeder angesprochen werden kann.“[54]
Mit einer „Grundoffenheit für das Meditative im Bild“ illustriert Jörgen Habedank seine Bilder zum Vaterunser.[55] In ihrer assoziativen Form- und Farbgebung bieten sie eine offene Interpretation an, die zu tieferem Verstehen und zu Meditation führt. Das Blau steht dabei genauso für den Gott des Kosmos wie das Gold für die Farbe seiner Kraft und Herrlichkeit. Wenige ikonographische Zitate wie das des Christus am Kreuz (dein Wille geschehe), des Brotes und der Hostie (Brotbitte) sowie das Schwarz-Weiß von Täter und Opfer (Vergebungsbitte) bieten eine Orientierung im Bild.
Die satten, opaken Fenster von Alois Plum in der Pfarrkirche St. Bartholomäus in Kaiserslautern-Morlautern tragen Farben in symbolischer Bedeutung:[56] Das Gold steht für das Göttliche, seine Einzigartigkeit, seine Schöpferkraft im Blau des Universums. Sie steht für eine Wirklichkeit, die hinter und über der Erde existiert und die in Kombination mit dem Rot der Liebe mit dieser Welt kommuniziert. Als einziges konkretes Element steht die Ähre im Braun der Erde für das tägliche Brot. Das dunkle Rot der Schuld ist begleitet vom umgebenden Lila der Vergebung. Ein schwarzer Weg, auch als Turm der Versuchung interpretierbar, verengt sich, führt ins Nichts. Aber hinter der Ausweglosigkeit leuchtet doch das Gold, ist Gott da. Schließlich mündet alles in das Fenster zur Doxologie, in dem zwölf Sterne gleichsam tanzen, ein Bezug zu den Verheißungen in der Offenbarung des Johannes.
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