1. Buch Mose des Alten Testaments in der Bibel Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Das Buch Genesis (abgekürzt Gen) ist das erste Buch der Tora (des Pentateuch), welches die jüdische Bibel (Tanach) ebenso wie den ersten Hauptteil der christlichen Bibel (Altes Testament) eröffnet. Im Original wurde es auf Hebräisch geschrieben und bereits in der Antike mehrfach übersetzt. Bereschit (hebräisch בְּרֵאשִׁית ‚Im Anfang‘) ist der Name der Genesis in jüdischen Bibelausgaben. 1. Buch Mose heißt das Buch Genesis in der Lutherbibel und den meisten protestantischen Bibelausgaben.
Die Genesis hat drei Hauptteile: Die Urgeschichte (Kapitel 1–11), die Erzelternerzählungen (Kapitel 12–36) und die Josefsgeschichte (Kapitel 37–50). Von manchen Kommentatoren wird die Josefsgeschichte als Teil der Erzelternerzählungen betrachtet.
Die Urgeschichte führt von Gottes Schöpfung der Welt über die Ausweisung des Menschen aus dem Paradiesgarten und die Fast-Zerstörung der Welt in der Sintflut bis zur Auffächerung der Menschheitsfamilie in viele Völker und Sprachen. Nach der Sintflut schließt Gott einen Bund mit Noach und seiner Familie. Obwohl das menschliche Planen böse sei, segnet Gott die Menschen und garantiert ihre Lebensgrundlagen (Gen 8,21 EU).
Die Erzelternerzählungen handeln davon, dass Gott mit der Familie Abrahams einen neuen Anfang macht. Das Zeichen des Abrahamsbundes ist die Beschneidung. Abraham und seiner Frau Sara verheißt Gott Kindersegen und Landbesitz in Kanaan; aber während sich die erste Verheißung nach mehreren Gefährdungen erfüllt, bleibt die zweite im Rahmen der Genesis noch uneingelöst. Auch in der nächsten Generation leben Isaak und Rebekka als Fremde im Land Kanaan; zwischen ihren Zwillingssöhnen Jakob und Esau kommt es zum Konflikt. Jakob sichert sich das Erstgeburtsrecht und durch eine List auch den väterlichen Segen. Er muss vor dem Zorn Esaus zu seiner Verwandtschaft in das dem heutigen Nordsyrien entsprechende Gebiet fliehen. Viele Jahre später kehrt er mit seinen beiden Frauen Lea und Rahel und elf Söhnen als reicher Herdenbesitzer nach Kanaan zurück und versöhnt sich mit Esau. Bei der Geburt des zwölften Sohns Benjamin stirbt Jakobs Lieblingsfrau Rahel.
Die Josefsgeschichte behandelt einen Bruderkonflikt in der nächsten Generation: Jakob bevorzugt Josef, den älteren Sohn Rahels. Josefs Träume von Herrschaft und Macht erregen den Neid seiner Brüder, die ihn verschwinden lassen und dem Vater gegenüber als tot darstellen. Als Sklave in Ägypten bleibt Josef aber trotz aller Widrigkeiten sichtbar von Gott gesegnet und steigt durch seine Traumdeutungsgabe zum Vizekönig auf. Dank seiner Weisheit lässt er Getreidevorräte anlegen und kann so die ägyptische Bevölkerung in einer schweren Hungersnot versorgen. Auch Palästina ist von dieser Hungersnot betroffen, und Jakob schickt seine Söhne nach Ägypten, um Getreide zu kaufen. Hier treten sie dem mächtigen Vizekönig als Bittsteller gegenüber, der sich ihnen schließlich als Bruder zu erkennen gibt. Auf die Nachricht, dass der angeblich tote Josef lebt, reist der greise Jakob nach Ägypten. Auf Einladung des Pharaos siedelt sich die ganze Jakobsfamilie in der Region Goschen an. Die Josefsgeschichte schließt mit Jakobs Segen über Josefs Söhne Ephraim und Manasse und den Segenssprüchen, die Jakob vor seinem Tod seinen zwölf Söhnen bzw. den von ihnen abstammenden zwölf Stämmen Israels mitgibt. Nach Jakobs Tod versichert Josef seinen besorgten Brüdern, dass er ihnen wohlgesonnen sei. Sie hatten ihm zwar einst übel mitgespielt, aber Gott ließ Gutes daraus entstehen.
Der hebräische Buchtitel ist ein Incipit, eine Bezeichnung nach dem ersten Wort des Textes: hebräisch בְּרֵאשִׁית bəre’šît, deutsch ‚Im Anfang‘. Dieser Buchtitel war bereits in der Spätantike üblich; Hieronymus transkribierte ihn um 390 n. Chr. als Bresith.[1]
Als jüdische Gelehrte in hellenistischer Zeit ihre heiligen Schriften ins Griechische (Koine) übersetzten, begannen sie im 3. Jahrhundert v. Chr. mit dem Ersten Buch Mose und gaben ihm einen Buchtitel, der seinen Inhalt bezeichnet: altgriechisch Γένεσις Génesis, deutsch ‚Entstehung, Ursprung (der Welt)‘. Dieser wurde als Genesis in die lateinische Vulgata übernommen und ist seither in vielen Bibelausgaben sowie in der theologischen Wissenschaft in Gebrauch.
Die im evangelischen Raum übliche Bezeichnung Erstes Buch Mose steht ebenfalls in einer Tradition, die bis in die Antike zurückreicht. Bereits Flavius Josephus bezeichnete im 1. Jahrhundert n. Chr. die Tora als die „fünf Bücher Mose“.[2]
Innerhalb des Pentateuch stellt die Genesis eine (sehr ausführliche) Vorgeschichte für die große Erzählung vom Auszug Israels aus Ägypten unter Führung des Mose dar. Die anderen vier Bücher umspannen die Zeit von der Geburt des Mose (Ex 2,1–10 EU) bis zu seinem Tod (Dtn 34,1–12 EU). In dieses Leben des Mose sind umfangreiche Gesetzessammlungen eingearbeitet. Als Vorgeschichte hierzu erzählt die Genesis von den Anfängen der Welt und der menschlichen Kultur (Urgeschichte) und den Anfängen Israels als Nachkommenschaft von Abraham und Sara, deren Sohn Isaak und Rebekka sowie deren Enkel Jakob und seiner Familie (Erzelternerzählungen und Josefsgeschichte). Die mit der Urgeschichte angesprochenen kosmologischen und anthropologischen Themen werden in den Büchern Exodus bis Deuteronomium indirekt dort noch einmal aufgegriffen, wo es um den Bau des Wüstenheiligtums (Mischkan) und seinen Kult geht. In der Erzelternerzählung verheißt JHWH Abraham und seiner Familie Nachkommenschaft und Landbesitz. Aber nur die erste Verheißung erfüllt sich innerhalb des Pentateuch, die zweite bleibt weitgehend uneingelöst.[3]
Die Fuge zwischen den Büchern Genesis und Exodus ist tief. Ein Indiz dafür ist, dass Josef, am Ende des Buches Genesis hochgeehrt, laut Ex 1,8 EU dem neuen Pharao unbekannt ist.[4] Die Genesis kann daher auch als eigenständiges Werk betrachtet werden und ist nicht unbedingt auf ihre Fortsetzung in Exodus bis Deuteronomium angelegt. Mit einer Ausnahme: Gen 15,12–16 EU erzählt von einem Traum Abrahams, in dem JHWH ihm eröffnet, dass seine Nachkommen als Sklaven in Ägypten leben müssen, aber dass er sie befreien werde und sie ins Land der Verheißung zurückkehren werden.[5]
Die Bibelwissenschaft behandelt die Genesis als Traditionsliteratur, die über einen längeren Zeitraum gewachsen ist und an der viele Personen mitgeschrieben haben.[6] Die Voraussetzungen für die Abfassung von Literaturwerken sieht sie erst in der Zeit der Königreiche Israel und Juda (ab dem 9./8. Jahrhundert v. Chr.) gegeben, als in den Zentren dieser Reiche ausgebildete Schreiber tätig waren, und zwar wegen der Rückständigkeit des Südreichs zuerst im Norden.[7] Erhard Blum betont, dass die Niederschrift der Jakobserzählungen bzw. deren Vorstufe sehr gut in einem Schreibermilieu des Nordreichs Israel denkbar sei, möglicherweise im 9. Jahrhundert v. Chr. zur Zeit der Omriden.[8] Damit sind die Jakobserzählungen Kandidat für besonders alte Überlieferungen im Buch Genesis; sie sind aber nur in ihrer judäischen bzw. Jerusalemer Überarbeitung nach dem Untergang des Nordreichs (722/720 v. Chr.) erhalten.[9] In Umkehrung der Generationenfolge Abraham – Isaak – Jakob wurden den Jakobsgeschichten wahrscheinlich in der Spätphase des Südreichs Juda Erzählungen über Isaak vorangestellt, und noch später die Abrahamserzählungen, bei denen überhaupt fraglich ist, was davon auf die vorexilische Zeit (vor 587 v. Chr.) zurückgeht. Nach dem Untergang der politischen Größe Israel (= dem Nordreich) begannen die Judäer, sich selbst als Israel zu verstehen. Die Generationenfolge Abraham – Isaak – Jakob besagt dann: „Die wahren Urväter Israels, nämlich Jakobs Vater und Großvater, stammen aus dem Süden.“[10] Die Abrahamstradition wird nämlich in das Gebiet um Hebron (Gen 18 EU) verortet, die Isaaksgeschichten in die Gegend um Be’er Scheva, zwei Orte, die auf judäischem Gebiet (Gen 26 EU) lagen. Zentrale Orte der Jakobserzählungen befinden sich in Mittelpalästina: Bet El (Gen 28 EU) und Penuel (Gen 32 EU).[11]
Die Erwähnung von Kamelen (Gen 12,14–16 EU; Gen 24,10–11 EU) wurde in der Forschungsgeschichte für die Datierung der Erzelternerzählungen[12] herangezogen. Ihre Domestikation wird im 12. oder 11. vorchristlichen Jahrhundert angesetzt; Kamelkarawanen (Gen 37,25–28 EU) sind im Assyrischen Reich seit dem 8./7. Jahrhundert bezeugt. Karawanenhandel ist deshalb für die „Zeit Abrahams“ nicht anzunehmen; der Erzähler machte Abraham zum Kamelbesitzer, weil diese Tiere zu seiner eigenen Zeit ein Statussymbol waren.[13]
Manche christlichen Gruppen (vor allem die Anhänger des evangelikalen und/oder fundamentalistischen Christentums) lehnen die Anwendung der historisch-kritischen Methode auf die Bibel als einen Offenbarungstext ab. Entsprechend glauben sie an eine Verfasserschaft des Mose, den sie für eine historische Persönlichkeit halten, und datieren den Text erheblich früher (zur Frage der Autorschaft und Entstehungszeit siehe Artikel Tora).
Die Kapitel 1 bis 11 der Genesis werden als Urgeschichte bezeichnet. Es handelt sich jedoch nicht um Geschichtsschreibung, sondern um „eine Reihe von Erzählungen, die grundlegende Zusammenhänge und die Bedeutung menschlichen Daseins erhellen wollen“.[14] Die Urgeschichte hat gegenüber dem Rest des Buchs Genesis (und des Pentateuch) eine relative Eigenständigkeit und wird deshalb auch oft für sich betrachtet.[15] Strukturiert wird die Urgeschichte durch Genealogien (hebräisch תּוֹלְדֹת tôlədot):
Dieses genealogische Gerüst mit zwei Erzählungen (Schöpfung und Flut) wird im Rahmen der Neueren Urkundenhypothese der Priesterschrift (P) zugewiesen und ins 6. Jahrhundert v. Chr. datiert; auch nachdem diese Hypothese stark umstritten ist, herrscht bis hierhin weitgehender Konsens innerhalb der alttestamentlichen Exegese.[17] Dieser Konsens endet allerdings bei den „nicht-priesterlichen“ (non-P) Stoffen, die in das priesterschriftliche Gerüst eingefügt worden sind und die im Rahmen der Urkundenhypothese größtenteils dem Jahwisten zugewiesen wurden.
Laut Jan Christian Gertz lässt sich im non-P-Material eine ehemals selbständige Urgeschichte eines „weisheitlichen Erzählers“ herausheben; sie umfasst:
Die Bezeichnung als „weisheitlicher Erzähler“ soll besagen, dass dieser Erzähler mit den Themen der altorientalischen Weisheitsliteratur vertraut ist und damit einem gebildeten Schreibermilieu zugeordnet werden kann – versuchsweise am Jerusalemer Hof des Königs Manasse (694–640 v. Chr.) oder einem seiner Nachfolger.[20]
Übrig bleiben folgende Passagen der Urgeschichte:
Die Priesterschrift und der weisheitliche Erzähler teilen die in der Antike weit verbreitete Grundüberzeugung, dass „alles Gegenwärtige und Zukünftige sein Wesen im Anfang erhalten hat.“[25] Schöpfung und Flut gehören insofern zusammen, denn erst nach der Flut herrschen die Lebensverhältnisse, die auch die eigene Gegenwart kennzeichnen (Eingrenzung der Gewalt durch Noachidische Gebote). In die Welt vor der Flut führt kein Weg zurück.
Die Zusammenfügung der Priesterschrift und der weisheitlichen Erzählung zu einer Urgeschichte schuf ein spannungsreiches Bild der menschlichen Lebensbedingungen: „die Welt ist ‚sehr gut‘, aber auch sehr schmerzhaft, und Menschen sind die Krone der Schöpfung und Geschöpfe, die viel Leid ertragen.“[26]
Die Toledot der Priesterschrift setzen sich in den Erzelternerzählungen fort; so entsteht ein Erzählfaden von der Schöpfung bis zur Familie Abrahams, welche durch drei Generationen bis zu den zwölf Söhnen Jakobs/Israels begleitet wird.
Neu ist ab den Toledot Terachs, dass damit ein größerer Erzählzusammenhang eingeleitet wird, der in diesem Fall bis Gen 25,11 reicht. Mit Terachs Sohn Abra(ha)m, von dem diese Kapitel handeln, verlangsamt sich das Erzähltempo, wie es der Bedeutung dieses Patriarchen entspricht. „Es ist zweifellos ein großer Moment in der biblischen Storyline, als Abraham die Bühne betritt.“[27]
Das älteste Exemplar der Genesis unter den Schriftrollen vom Toten Meer ist 6QpaleoGen in althebräischer Schrift (geschrieben ungefähr zwischen 250 und 150 v. Chr.).[74] Armin Lange unterscheidet bei den Genesis-Manuskripten:[75]
Darüber hinaus gibt es unabhängige Texte, nicht klassifizierbare Fragmente (darunter z. B. das sehr alte Manuskript 6QpaleoGen) und Fragmente, die eher nicht zu einer kompletten Tora- oder Genesisrolle gehört haben, sondern zu Manuskripten mit Exzerpten aus biblischen Texten.[75]
Die Taylor-Schechter Genizah Collection der Cambridge University Library besitzt zwei Fragmente einer spätantiken oder frühmittelalterlichen Buchrolle, deren Datierung strittig ist (5./6. oder 8./9. Jahrhundert). Diese Rolle enthielt wohl nur das Buch Genesis in unvokalisiertem Hebräisch; der Text ist praktisch identisch mit dem Masoretischen Text des Codex Leningradensis.[75]
Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal des Masoretischen Textes von anderen Textfamilien (Samaritanus und hebräische Vorlage der Septuaginta) sind die unterschiedlichen Angaben zum Lebensalter der Patriarchen vor der Sintflut Gen 5,1–32 EU. Hinter allen drei Rezensionen steht offenbar das Bemühen, in der Urgeschichte bzw. in der Weltgeschichte insgesamt eine sinnvolle Periodisierung herzustellen. Die Chronologie des Samaritanus in Gen 5,1–32 EU ist in sich logisch: Alle Patriarchen, die vor Henoch geboren wurden, erlebten demnach die Geburt Henochs mit; alle Patriarchen, die Henoch überlebten, starben gleichzeitig – in der Sintflut. Die Chronologie des Masoretischen Textes weicht davon ab. Ihr zufolge fand der Auszug aus Ägypten im Jahr 2666 nach Erschaffung der Welt statt; sie ist so berechnet, dass die Wiedereinweihung des Jerusalemer Tempels durch Judas Makkabäus (164 v. Chr.) ins Jahr 4000 nach Erschaffung der Welt datiert wird.[76] Die Genesis-Septuaginta setzt in Gen 5 das Alter der Patriarchen bei Zeugung des ersten Sohnes um 100 Jahre später an als der Masoretische Text und verkürzt ihre darauf folgende Lebenszeit um 100 Jahre. Auf diese Weise stimmt das Lebensalter der Patriarchen mit den Angaben des Masoretischen Textes überein, aber die absolute Chronologie verlängert sich um 400 Jahre (Methusalem, Gen 5,21–27 EU, überlebte nach der Chronologie der Septuaginta die Sintflut um 14 Jahre, ohne in der Arche gewesen zu sein).[77]
Der Samaritanische Pentateuch ist insgesamt durch Harmonisierungen gekennzeichnet, die für eine leichtere Lesbarkeit des Textes sorgen; dies trifft auch auf das Buch Genesis zu. Trotz dieser sekundären Züge bewahrt er manchmal eine ältere Textfassung als der Masoretische Text, besonders dort, wo er mit der Septuaginta und dem Buch der Jubiläen übereinstimmt.[78]
Im Masoretischen Text der Genesis finden sich typische Kopistenfehler, wie der Vergleich mit Samaritanus und Septuaginta zeigt; ein Beispiel ist die Auslassung (Aberratio oculi) in Gen 4,8 EU:[79]
Ronald Hendel weist darauf hin, dass den Revisoren, die den Masoretischen Text herstellten, auch an einer glatteren Erzählung gelegen war: In dem älteren Text von Gen 45,5–11 EU, wie er in der Septuaginta erhalten ist, spricht der Pharao zweimal zu Josef, unterbrochen von der Anreise der Jakobsfamilie. Durch Umstellung des Textes machten die Revisoren daraus eine einzige, längere Pharaorede.[79]
Im 3. Jahrhundert v. Chr. wurde die Genesis als erstes Buch des Pentateuch von einem jüdischen Gelehrten, wahrscheinlich in Alexandria, ins Griechische übersetzt. Dies war eine Pionierleistung, da er keine Vorbilder für sein Vorhaben hatte; umgekehrt wurde die Genesis von späteren Übersetzern biblischer Bücher ins Griechische als Modell genutzt und prägte daher die Septuaginta insgesamt. Die hebräische Vorlage unterscheidet sich punktuell sowohl vom Masoretischen Text als auch vom Samaritanischen Pentateuch (Samaritanus); Beispiele:[80]
Unter den hebräischen Genesis-Texten der Schriftrollen vom Toten Meer findet sich kein Manuskript, das der Vorlage des Septuaginta-Übersetzers nahesteht. Übereinstimmungen zwischen Qumran-Fragmenten und Septuaginta-Genesis gegen den Masoretischen Text sind daher sehr selten.[81]
Da der hebräische Konsonantentext unvokalisiert war, kommt es manchmal allein dadurch, dass der Septuaginta-Übersetzer ihn anders vokalisierte als später die Masoreten, zu einem ganz anderen Textverständnis. Ein Beispiel:[80]
Die Übersetzungstechnik wechselt. Anscheinend waren manche Teile der Genesis in der alexandrinischen Gemeinde wohlbekannt, vor allem die Josefsnovelle. Das ermutigte zu freier Übersetzung, auch zu Ergänzungen. Mit anderen Textabschnitten war der Übersetzer kaum vertraut. Seine Übersetzung wurde dann sehr wortgetreu. Wenn er sich den Text so erarbeiten musste, unterliefen ihm allerdings auch Fehler. Denn seine hebräische Sprachkompetenz war begrenzt.[80]
Die Übersetzung von Gen 5,24 EU zeigt, dass der Übersetzer die zeitgenössische Henochliteratur kannte:[80]
Dank seiner hellenistischen Bildung gab der Genesis-Übersetzer geografische Bezeichnungen im hebräischen Text oft durch ein griechisches Äquivalent wieder (Beispiel: Aram-Naharaim Gen 24,10 EU und Paddan-aram Gen 25,20 EU = Mesopotamien). In Ägypten identifizierte er Goschen mit Heroopolis und On mit Heliopolis. Seltsam ist die Notiz (Gen 35,19 EU und Gen 48,7 EU), dass sich das Grab Rahels in der Nähe eines Hippodroms befunden habe.[82] Es ist seiner Transkriptionsweise zu verdanken, dass moderne Bibelübersetzungen in der Regel Gaza (statt hebräisch עַזָּה ‘Azzāh) und Gomorr(h)a (statt hebräisch עֱמֹרָה ‘Ämorāh) lesen. Er prägte zahlreiche Neologismen.[83] Die Scheol übersetzte er mit Hades, ohne dass deutlich würde, welche Vorstellungen er selbst vom Totenreich hatte.[84] Indem in der Fluterzählung der Begriff altgriechisch κατακλυσμός kataklysmós verwendet wird, werden beim Leser antik-philosophische Modelle von zyklisch wiederkehrenden Katastrophen aufgerufen.[85]
Der Targum Onkelos entstand möglicherweise in Palästina, gelangte im 3./4. Jahrhundert n. Chr. in den Osten und wurde dort redigiert. Er stellt insgesamt eine sehr wörtliche Übersetzung aus dem Hebräischen dar. Um die Transzendenz Gottes zu betonen, werden anthropomorphe Züge des Gottesbildes geändert, beispielsweise „roch“ Gott nicht das Opfer Noachs, sondern „nahm es wohlgefällig an“ (Gen 8,21 EU). Die Erhabenheit Gottes ist dadurch gewahrt, dass er nicht unmittelbar mit den Menschen in Kontakt tritt, sondern durch seine „Gegenwart“ (Schechina) oder sein „Wort“. Gelegentlich stimmt der Targum Onkelos mit dem Samaritanus und der Septuaginta überein gegen den Masoretischen Text. Aber insgesamt ist der Targum in der Genesis nach Einschätzung von Avigdor Shinan vor allem als Zeuge für die jüdische Rezeption des Textes in der Antike interessant und weniger für die Textkritik.[86]
Der Targum Pseudo-Jonathan ist das Gegenteil vom Targum Onkelos: der Text der Genesis ist angereichert mit vielen Ergänzungen teils haggadischer Art. Pseudo-Jonathan bringt kritische Anmerkungen zu den Erzeltern und fügt nicht nur Erwähnungen von Engeln in den Bibeltext ein, sondern auch des Satan, zum Beispiel in Gen 3,6 EU. Die Datierung dieses Targum schwankt zwischen dem 4. und dem 8./9. Jahrhundert, doch die Indizien deuten auf eine späte Entstehung – wenn auch die Erwähnung von Mohammeds Frau und Tochter in Gen 21,21 EU eine Glosse sein dürfte.[87]
Die Vulgata ist nach Einschätzung von Hedley Sparks eine erstaunliche Mischung: manchmal übersetzte Hieronymus streng wörtlich, dann wieder übernahm er Formulierungen der Vetus Latina, einer frühen lateinischen Tochterübersetzung der Septuaginta. Manchmal klingt eine jüdische Tradition an, an anderen Stellen gab Hieronymus seinem Text einen „christlichen Klang.“ Eine christologische Anspielung brachte Hieronymus beispielsweise in Gen 40,19 EU: der Oberbäcker wird vom Pharao „ans Kreuz (statt: ans Holz) gehängt“; weil im folgenden Vers von „drei Tagen“ die Rede war, konnte der christliche Leser kaum anders, als an die Kreuzigung Christi zu denken.
Obwohl Hieronymus Überlegungen zur Methode des Übersetzens anstellte, attestiert ihm Sparks, dass er spontan nach seinem Sprachgefühl übersetzte.[88] Als Hieronymus sich um 398 der Genesis zuwandte, hatte er durch jahrelange Erfahrung mit dem Bibelübersetzen die Sicherheit gewonnen, sich von wortwörtlichen Übersetzungen zu lösen. Ein Testfall für den selbständigen Umgang mit der Vorlage ist die Wiedergabe der häufigen Präposition hebräisch בֵּין bên „zwischen“, die im Hebräischen gedoppelt wird: „zwischen A und zwischen B.“ In Gen 3,15 EU brachte der Septuaginta-Übersetzer diesen Hebraismus gleich zweimal: „Und Feindschaft werde ich setzen zwischen dir und zwischen der Frau, zwischen deiner Nachkommenschaft und zwischen ihrer Nachkommenschaft.“ Hieronymus formulierte knapper und eleganter: „Feindschaft setze ich zwischen dir und der Frau, deiner Nachkommenschaft und ihrer Nachkommenschaft“ (inimicitias ponam inter te et mulierem et semen tuum et semen illius).[89]
Die Funde antiker hebräischer Schriftrollen in der Wüste Juda haben die textkritische Bedeutung der Vulgata gemindert; sie hat aber immer noch Gewicht, besonders dort, wo sie mit anderen Textzeugen gegen den Masoretischen Text übereinstimmt. Ein Beispiel ist Gen 3,17 EU, wo anscheinend die beiden ähnlich aussehenden hebräischen Buchstaben Dalet (ד) und Resch (ר) verwechselt wurden:[90]
Das Buch Genesis war für das Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels von hervorragender Bedeutung. Indiz dafür ist, dass sich unter den Schriftrollen vom Toten Meer je nach Zählung 23 oder 24 Rollen der Genesis fanden. 19 Manuskripte stammen aus den Höhlen bei Qumran, die übrigen von anderen Fundplätzen in der Judäischen Wüste. Übertroffen wurde es unter den Büchern des späteren Tanach an Häufigkeit nur vom Buch Deuteronomium (je nach Zählung 33 bis 36 Rollen) und vom Buch der Psalmen (36 Rollen).[74]
Eine intensive Auseinandersetzung mit der Genesis zeigt sich darüber hinaus in Manuskripten, die man als Reworked Pentateuch, Überarbeitungen des Pentateuch, bezeichnet. Ein interessantes Beispiel ist 4Q158, eine erweiterte Version von Gen 32,23–32 EU (Jakobs Kampf am Jabbok). Im Bibeltext steht, dass Jakob seinem unheimlichen nächtlichen Gegner einen Segen abringt; 4Q158 ergänzt, wie dieser Segen lautete: „Der Herr segne dich und mehre dich … Wissen und Einsicht. Er bewahre dich vor allen Übertretungen … von jetzt an auf ewig.“[91] Es werden also Lücken der biblischen Erzählung gefüllt und unklare Stellen präzisiert.
Die Kommentierung der Genesis ist ein Schwerpunkt im Werk Philos. Dabei lassen sich drei Kommentarwerke unterscheiden.
Philos Exegese steht in einer antiken Tradition, wie sie in der Homerinterpretation der Stoiker vorlag. Er interessierte sich für die Biografien der Genesis. Abrahams Wanderung beispielsweise ist für Philo ein Aufstieg der Seele. Jede Hauptperson der Genesis steht für eine besondere Tugend; bei Abraham ist es Tugend durch Lernen, da er den Polytheismus seiner Heimat (= Ur in Chaldäa) hinter sich lässt und zum Monotheismus (= dem Land der Verheißung) durchdringt.[95]
Die Nacherzählung des Buchs Genesis nimmt in Josephus’ Hauptwerk, den Antiquitates, breiten Raum ein (1,27–2,200). Weil er paraphrasierte, ist oft nicht sicher, auf welchen Bibeltext er zugriff (Hebräisch, Griechisch, vielleicht auch Aramäisch), oder ob er aus dem Gedächtnis zitierte. Josephus könnte ältere Nacherzählungen der Genesis genutzt haben, beispielsweise Eupolemos, Philo, das Buch der Jubiläen oder das Testament Josefs, er könnte aber auch dort, wo er Berührungen mit diesen Texten aufweist und sich vom Bibeltext unterscheidet, eine gemeinsame ältere Tradition zitieren.[96]
Mose war für Josephus der Verfasser der Genesis, daher bezog er sich in seiner Genesis-Paraphrase mehrfach auf ihn als Autorität. Auch er selbst meldete sich gelegentlich zu Wort und präsentierte sich so als Experte, dessen Darstellung der Leser Glauben schenken könne. An drei Stellen, bei denen er Einwände seiner römischen Leserschaft vermutete, führte Josephus nichtjüdische Historiker als Gewährsleute für die Glaubwürdigkeit der Genesis an:
Das bedeutet allerdings nicht, dass Josephus alle diese Autoren selbst gelesen hätte. So räumte er an anderer Stelle (Ant 1,240) ein, dass er ein Zitat des Kleodemos bei Alexander Polyhistor gefunden hatte.[97] Um die Glaubwürdigkeit der Genesis weiter zu unterstreichen, wies Josephus darauf hin, dass die Überreste der Arche „an einem Ort, den die Armenier ‚Ausstieg‘ nennen“ noch zu besichtigen seien. Auch die Salzsäule, in die Lots Frau verwandelt wurde, sei noch vorhanden.[98]
Mehrfach füllte Josephus Leerstellen der biblischen Erzählung. In der Geschichte von Kain und Abel beispielsweise ergänzte er, dass es auch noch Schwestern gab. Da Kain ein „übler, gewinnsüchtiger“ Mensch gewesen sei, versteht der Leser, warum Gott sein Opfer nicht annahm. Nach dem Brudermord versteckte Kain den Leichnam, und Gott fragte ihn, was denn mit Abel passiert sei, den er schon tagelang nicht mehr gesehen habe, während die Brüder doch sonst stets zusammen seien.[99]
Josephus ließ anthropomorphe oder sonst wie für römische Leser irritierende Züge des Gottesbildes aus; bei den Patriarchen entfernte er alles, was Zweifel an ihrer Moral erregen konnte. Außerdem straffte und kürzte er, um für sein Publikum spannend zu erzählen.
Die Rabbinen nahmen an, dass Halachot in der Tora erst beginnend mit Ex 12,1 EU mitgeteilt werden; deshalb gibt es keinen halachischen Midrasch zum Buch Genesis.[100]
Der haggadische Midrasch Bereschit Rabba (auch Genesis Rabba genannt) wird ins 5. Jahrhundert datiert und ist der älteste rabbinische Kommentar zur Genesis. Er enthält die Interpretation, dass Gott die Welt mit der Tora wie mit einem Instrument erschaffen habe. Auch habe Gott am ersten Schöpfungstag alles erschaffen und an den folgenden Tagen das Geschaffene jeweils an seinen richtigen Ort gesetzt. Das Licht, das den ersten Schöpfungstag erhellt, sei jenes Licht, in das Gott sich wie in einen Mantel hüllt (vgl. Ps 104,2 EU). Der Urmensch sei androgyn mit zwei Gesichtern geschaffen und später von Gott geteilt worden.[101] Der Midrasch Bereschit Rabba enthält auch eine ältere Erzählung, die Abraham als Monotheisten zeichnet: Er zerschlägt die Götzen seines Vaters und wird von dem erzürnten Terach an König Nimrod ausgeliefert, der ihn in einen feurigen Ofen werfen lässt. Aber Gott rettet Abraham.[102] Die Verfasser des Midrasch Bereschit Rabba waren sich des großen christlichen Interesses an der Genesis bewusst und betrieben, so Michael Morgenstern, eine „Präventionsexegese“, welche die im Christentum beliebte typologische Deutung der Genesis-Erzählungen erschweren sollte. Eine andere Strategie sieht er darin, christliche Behauptungen zu überbieten; beispielsweise werde Gottes wunderbares Handeln an den Erzmüttern Sara und Rebekka in einer Weise ausgemalt, welche die jungfräuliche Geburt Mariens in den Schatten stelle. Die Rabbinen waren bereit, Schwierigkeiten der eigenen Position zuzugeben (beispielsweise dass der Gottesname Elohim grammatikalisch eine Pluralform ist) und machten die Diskussion solcher Stellen insofern spannend – aber nur, um am Ende zugunsten der eigenen Tradition zu entscheiden. Immer wieder wird der Bruderkonflikt zwischen Esau und Jakob in der Genesis genutzt, um die Distanz zum nachkonstantinischen, christlich gewordenen Rom zu thematisieren.[103]
Jüngeres Material zur Genesis enthalten die Tanchuma-Jelammedenu-Midraschim. Aggadat Bereschit (11. Jahrhundert) stellt zu 28 Kapiteln der Genesis jeweils eine Homilie zum Text mit einer Homilie zu passenden Propheten- und Psalmlesungen zusammen. Bereschit Rabbati gilt als Exzerpt eines Midrasch zur Genesis, der im 11. Jahrhundert verfasst wurde, aber sehr alte Traditionen aufgreift.[100]
Eine Nacherzählung der Bibel auf Grundlage der rabbinischen Literatur bot Louis Ginzberg mit den Legenden der Juden (Band 1: Schöpfung bis Jakob, Band 2: Josef bis Exodus).[104]
Saadia Gaon (882–942) übersetzte den Pentateuch ins Arabische (Tafsīr) und verfasste dazu einen Kommentar, der zunächst die arabische Übersetzung bringt, dann einzelne Übersetzungsentscheidungen begründet und schließlich den Text teils versweise, teils in Sinnabschnitten kommentiert. In hellenistischer Tradition schickte Saadia seinem Genesis-Kommentar eine Einleitung voraus. Darin bestimmte er das Verhältnis zwischen Tora und rationaler Erkenntnis. Im Zentrum der Tora stehen die Ge- und Verbote, hinzu kommen Verheißungen von Segen und Fluch bei Erfüllung bzw. Nichtbeachtung dieser Mitzwot und Erzählungen von gerechten und bösen Menschen, die zum Befolgen der Mitzwot anregen sollen. So ordnete er auch die Erzelternerzählungen in den gesamten Pentateuch ein. In Abwehr der karäischen Bibelauslegung formulierte Saadia exegetische Regeln. Diese dienen dazu, den Bibeltext mit anderen Wissensquellen in Übereinstimmung zu bringen.[105] Saadias Exegese erhält damit einen rationalistischen Zug. Andere rabbanitische Kommentare zur Genesis verfassten Saadias Schüler Samuel ben Chofni und Tanchum ben Josef der Jerusalemit (13. Jahrhundert).
Als Gegenentwurf zur rabbanitischen Exegese entwickelte sich die karäische Bibelauslegung, welche sich seit dem 10. Jahrhundert der arabischen Sprache bediente. Jaqub al-Qirqisani, der in Bagdad lehrte, verfasste das „Buch der Parks und Gärten“ (Kitāb al-Riyāḍ wa-ʾl-ḥadāʾiq), eine Auslegung der Erzählungen des Pentateuch. Seine Genesis-Auslegung ist stark philosophisch geprägt. Jefet ben Eli wirkte in Jerusalem und war in seinen Kommentaren besonders an der linguistischen und literarisch-strukturellen Analyse des Textes interessiert.[106] Er behandelte die Protagonisten der Genesis als komplexe literarische Figuren (round characters), während sie in der älteren rabbinischen Auslegung eher zur Veranschaulichung moralischer Lehren dienten (flat characters).[107] Jefet ben Elis Genesis-Kommentar nutzt das Konzept des „Erzählers“ (arabisch: mudawwin), der zum Beispiel mit Auslassungen und Rückblicken arbeitet, aber auch Züge eines Editors hat, indem er unterschiedliche Handlungsstränge verbindet.[108]
Die nordfranzösische jüdische Exegese des 11./12. Jahrhunderts kennzeichnet eine am Literalsinn (Peschat) orientierte Kommentierung. Raschi (1040–1105), ihr bekanntester Vertreter, war mit seinem Genesis-Kommentar sehr erfolgreich, weil er den traditionellen Midrasch und neue Formen der Textanalyse zu verbinden wusste. Bei Raschi ist auch ein apologetisches Interesse erkennbar. Beispielsweise sei der Zweck der Schöpfungsgeschichte, den Nichtjuden Gottes Herrschaft über den Kosmos bekanntzumachen und seine Entscheidung, dem jüdischen Volk Israel Eretz Israel zu geben. Damit reagierte er auf die Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer. Seine Kommentierung der Urgeschichte distanziert sich von zeitgenössischen christlichen Auslegungen, etwa der Ruach in Gen 1,2 (nicht der Heilige Geist), der Engel (strikt von Gott abhängig, können nichts von sich aus tun), der Paradieserzählung (keine Begründung der Erbsünde, keine christologischen Anspielungen). Raschi vermied es auch, das Handeln der Erzeltern zu kritisieren. Jakobs ungesegneter Zwillingsbruder Esau dagegen steht in Raschis Auslegung für das Christentum. Mit Rückgriff auf den Midrasch hob Raschi Esaus mehrmaliges Fehlverhalten hervor.[106][109]
Samuel ben Meir (1080–1160), Raschis Enkel, stellte die Genesis in den Kontext der ganzen Tora. Ihre Erzählungen dienen dazu, die Mitzwot der Tora zu illustrieren; der Zweck der Schöpfungsgeschichte beispielsweise sei es, die Heiligung des Schabbat zu begründen. Mehrfach wiederholte er in seinem Kommentar, dass das Buch Genesis nicht auf Gottes Diktat von Mose niedergeschrieben, sondern von Mose selbst formuliert worden sei.[106]
Josef Bechor-Schor (1130–1200) war ein Schüler Samuel ben Meirs und in seinem Genesiskommentar besonders an der psychologischen Zeichnung der Hauptpersonen, dem kulturellen Hintergrund der Handlung und dem Stil der Erzählung interessiert. Zweimal erwähnte er, dass ein Editor mit dem Text der Genesis befasst gewesen sei.[106][110]
Abraham ibn Esras Torakommentar ist philologisch interessiert. Zu Gen 12,5 EU bemerkte er, diese anachronistische Notiz sei von einem Editor hinzugefügt worden. Von seiner Hand ist ein (unvollständiger) langer und ein kurzer Genesis-Kommentar erhalten. Der lange Kommentar behandelt Textanalyse und inhaltliche Kommentierung getrennt, letztere umfasst auch philosophische und naturwissenschaftliche Exkurse.[106]
Nachmanides kombinierte in seinem sehr umfangreichen Torakommentar die Erträge der nordfranzösischen und der spanischen Exegese. Bei der Kommentierung der Genesis-Erzählungen folgte er der exegetischen Regel „Die Taten der Väter sind ein Zeichen für die Kinder“ und interpretierte sie typologisch.[106] Isaaks unfreiwilliger Aufenthalt in Gerar (Gen 26,1 EU) weist zum Beispiel auf das Babylonische Exil hin, und die drei Brunnen, die er dort grub (Gen 26,19–22 EU), stehen für den Salomonischen Tempel, den Zweiten Tempel und den für die Zukunft erhofften unzerstörbaren Dritten Tempel in Jerusalem. Esau steht durchgängig für das Römische Reich. Dass Jakob Esau Boten entgegenschickt (Gen 32,4 EU), entspricht der Bündnispolitik der Makkabäer mit Rom. Wenn Jakob aus Furcht vor Esaus Gewalt seine Familie in drei Gruppen teilt, so verweist das für Nachmanides auf die verschiedenen jüdischen Gemeinschaften in der zeitgenössischen Diaspora: wenn eine einem Pogrom zum Opfer fällt, wird vielleicht die andere überleben.[111]
Die Kimchi-Familie wanderte im 12. Jahrhundert aus Spanien in die Provençe aus und brachte die Erträge der im muslimisch-arabischen Kulturraum entwickelten jüdischen Exegese mit. In den jüdischen Gemeinden der christlich geprägten Provençe stand der traditionelle rabbinische Midrasch in hohem Ansehen; die Kimchis widmeten sich der Aufgabe, neuere Formen der Textanalyse bekannt zu machen. Rabbi David Kimchi (1160–1235), bekannt unter dem Akronym Radak, verfasste einen am Literalsinn orientierten, philologischen Torakommentar, der (im Unterschied zu Raschi) den Midrasch nicht nacherzählt, sondern jeweils aus den Quellen zitiert. Sein Genesis-Kommentar zeichnet sich dadurch aus, dass er den Motiven der Protagonisten und den Problemen, denen sie sich stellen müssen, detailliert nachgeht.[106] „Er weicht von den Rabbinen ab, die dazu tendieren, solche Figuren in mythischer Sprache zu beschreiben und ihr Handeln – oft anachronistisch – entsprechend der eigenen Religiosität motivieren. Radaks Porträt dagegen ist lebendig und menschlich, psychologisch tiefgründig und historisch stimmig.“[112]
Das Buch Genesis war eine Matrix, auf der die kabbalistische Literatur ihre Themen entwickeln konnte. Die mystische Kommentierung des Genesis-Textes nimmt daher in ihren Hauptwerken breiten Raum ein.
Die Schöpfung wird als Emanation der transzendenten Gottheit (En Sof) verstanden; die zehn Sefirot als Gottes Attribute gehören der oberen Welt an, haben aber in der Schöpfungserzählung ihre irdischen Entsprechungen. Beispielsweise entsprechen die Schöpfungstage den Sefirot von Chesed bis Malchut.[113]
Der Paradiesgarten der Genesis symbolisiert im Zohar den himmlischen Garten Eden, zu dem die Seele durch sieben Hallen (Hechalot) aufsteigt. Dabei wird die Thronwagenvision im Buch Ezechiel (Ez 1,4–28 EU) mit dem Text der Genesis zusammengesehen. So entsprechen die vier Wesen der Vision Ezechiels den vier Engeln Michael, Gabriel, Uriel und Rafael und diese wiederum den vier Paradiesströmen, welche nach Gen 2,10 EU dem Garten Eden entspringen.[113]
Die Patriarchen werden in der kabbalistischen Literatur vielfältig gedeutet. Weit verbreitet ist jedoch, sie aufgrund ihrer Biografie und Charaktereigenschaften folgenden Sefirot zuzuordnen:[113]
Folgende Mitzwot (Ge- und Verbote) sind in Bereschit enthalten:
Das Buch Genesis wird im einjährigen synagogalen Lesezyklus verteilt auf zwölf Wochenabschnitte (Paraschijot) ganz vorgelesen, beginnend mit Simchat Tora,[118] d. h. im Herbst und Winter. Darüber hinaus ist die Toralesung am Neujahrsfest (Rosch ha-Schana) der Genesis entnommen, und zwar Gen 21,1–34 EU (Geburt Isaaks) am ersten Tag und Gen 22,1–24 EU (Bindung Isaaks) am zweiten Tag.[119] „Die rabbinische Exegese führte die Vergebung der Kinder Jisraels an Rosch ha-Schana und Jom Kippur auf die Verdienste von Avraham und Jizchaq zurück. Durch die mittelalterliche Märtyrerideologie wird Jizchaq zum Symbol des Überlebens von Katastrophen und damit zum Symbol von Gottes Vergebung.“[120]
Gen 2,1–3 EU wird, einschließlich des Kiddusch, in der Liturgie des Schabbat insgesamt siebenmal rezitiert.[121]
Die in der Genesis enthaltenen Segenssprüche (Gen 27,28–29 EU; Gen 28,3–4 EU; Gen 49,25–26 EU) wurden ebenso wie andere biblische Segen in der Liturgie für den Sabbatausgang aufgenommen. Jakobs Segen für seine Enkel Efraim und Manasse (Gen 48,16 EU) ist Teil des Abendgebets für Kinder; der Segen Gen 48,20 EU wird von Eltern bei der Sabbatmahlzeit und bei anderen Gelegenheiten rezitiert.[121]
Auf Kabbalisten geht der Brauch zurück, Gen 22,1–24 EU (Bindung Isaaks) im täglichen Morgengebet vor den Psuke desimra zu lesen.[120]
Im Neuen Testament gibt es rund 30 Zitate aus der Genesis und etwa doppelt so viele deutliche Bezugnahmen auf dieses Buch.[122] Dabei werden zentrale Themen der Jesusbewegung angesprochen.
Dem Markusevangelium (Mk 10,1–12 EU) zufolge begründete Jesus von Nazareth mit der Schöpfungsgeschichte (Gen 1,27 EU und Gen 2,24 EU) ein Verbot der Ehescheidung. Der Text wird nach der Genesis-Septuaginta zitiert. Damit liegt das Verständnis nahe, mit der Menschenschöpfung werde die monogame Ehe begründet, die in der Welt der Genesis allerdings nicht üblich war (vgl. die Erzelternerzählungen).[123]
Die Einleitung zum Evangelium nach Johannes knüpft an Gen 1,1 EU an, indem sie mit den Worten beginnt: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott“ (Joh 1,1–2 EU). Auch hier wird betont, dass das Wort Gottes am Anfang der Welt stand. Dieses Wort ist, so Johannes, in Jesus von Nazareth Fleisch geworden und hat Kunde gebracht (Joh 1,14–18 EU).
Für Paulus von Tarsus war Abraham, der auf Gottes Verheißung vertraut, ein Vorbild des Glaubens, der sich nicht auf Werke verlässt. Aufgrund von Gen 15,6 EU entwickelte er sein Verständnis von Glauben und Rechtfertigung.[124] Anhand der Brüderpaare Isaak und Ismael (Gal 4,21–30 EU) sowie Jakob und Esau (Röm 9,6–13 EU) veranschaulichte Paulus Gottes freie Gnadenwahl.[122] Die Erschaffung Adams aus Erde, die durch den Geist Gottes belebt wird (Gen 1,27 EU), war für Paulus einen Hinweis auf den neuen Körper bei der Auferstehung (1 Kor 15,45 EU).[122]
Jesus ist für den Verfasser des Hebräerbriefs der in Psalm 110 erwähnte Hohepriester „nach der Ordnung Melchisedeks“ (Hebr 7,1–22 EU); er begründete dies mit einer Auslegung von Gen 14,18–22 EU, der Begegnung Abrahams mit Melchisedek.[122] Im 11. Kapitel wird der vorbildliche Glaube von Adam, Henoch, Noach, Abraham, Sara, Isaak, Jakob und Josef beschrieben.
Die Johannesoffenbarung greift mehrfach Motive der Genesis auf. So gibt es im Neuen Jerusalem Bäume des Lebens (Offb 22,2 EU), die an den Paradiesgarten erinnern, und wenn Jesus als „Löwe aus dem Stamm Juda“ bezeichnet wird (Offb 5,5 EU), so klingt der Stammesspruch für Juda aus dem Jakobssegen am Ende der Genesis an (Gen 49,9 EU).[122]
Die Kirchenväter befassten sich intensiv mit der Kommentierung der Genesis. Was sie faszinierte, war vor allem das Sechstagewerk der Weltschöpfung (Hexaemeron). Dabei wurden Anregungen aus Philos Traktat De opificio mundi aufgenommen. Origenes’ Genesiskommentar blieb nur fragmentarisch erhalten. Von seiner Hand gibt es auch eine Reihe von Homilien zur Genesis. Unter den griechisch schreibenden Kirchenvätern nehmen die Homilien Basilius’ des Großen über das Sechstagewerk eine beherrschende Stellung ein. Sein jüngerer Bruder Gregor von Nyssa verfasste ein Werk über die Erschaffung des Menschen (De hominis opificio), das als Ergänzung hierzu gedacht war. Ausgehend von Gen 2,4 EU, referierte Gregor zu Beginn das geozentrische Weltbild der zeitgenössischen Wissenschaft, anscheinend ohne eine Spannung zwischen dem biblischen Bericht und den Theorien des Claudius Ptolemäus wahrzunehmen. Die Kirchenväter übernahmen mehrheitlich die von Ptolemäus vorausgesetzte Erdkugel; eine Minderheit, darunter Kosmas Indikopleustes, nahm eine Erdscheibe (Flache Erde) an.[125]
Ephräm der Syrer verfasste einen umfangreichen Kommentar zur Genesis in syrischer Sprache. Anders als in seiner Hymnendichtung, verzichtete er in diesem Prosawerk auf die typologische Deutung und beschränkte sich meist auf den Literalsinn des Textes. Die erste Hälfte des Kommentars befasst sich nur mit Schöpfung und Fall sowie Sintflut. Teilweise paraphrasierte er nur den Bibeltext, teilweise bot er Interpretationen, die in der jüdischen Exegese ihre Parallelen haben. Ephraem hatte besonders in Nisibis intensiv mit jüdischen Gesprächspartnern diskutiert. Er war wahrscheinlich mit der jüdischen Bibelauslegung vertraut, auch wenn seine genauen Quellen nicht bekannt sind.[126]
Während Basilius die Kommentierung der Schöpfungsgeschichte im griechischen Raum prägte, sind von den Lateinern zahlreiche Kommentare zur Genesis überliefert – allein Augustinus von Hippo setzte fünfmal dazu an. Sein erster Traktat über das Sechstagewerk (De Genesi adversus Manichaeos) sollte die Kritik der Manichäer an der Genesis widerlegen. Mit seiner Allegorese selbst unzufrieden, versuchte er sich an einer wörtlichen Auslegung der Genesis, die er aber im ersten Kapitel abbrach (De Genesi ad litteram liber inperfectus). Dann widmete er dem Lobpreis der Weltschöpfung die beiden letzten Bücher der Confessiones, arbeitete von 401 bis 415 noch einmal an einer wörtlichen Auslegung der Genesis (De Genesi ad litteram), und schließlich bot ihm die Genesis in De civitate Dei einen Erzählfaden für die Geschichte der civitas Dei und der civitas terrena, an dem er sich orientieren konnte. Bei den Kommentaren im engeren Sinne kam er nie über Kapitel 3 hinaus.[127] Mit De Genesi ad litteram schuf Augustinus „die umfangreichste, eingehendste und wirkmächtigste Darstellung der christlichen Kosmologie der Antike“, welche über das Sechstagewerk hinaus auch den Paradiesgarten und den Sündenfall einbezieht.[128] Augustinus sah eine große Nähe zwischen der biblischen Schöpfungsgeschichte und Platons Timaios. Das Buch Genesis platonisch zu lesen, war im lateinischen Westen noch recht neu; Augustinus kam damit in dem intellektuellen Kreis um Ambrosius von Mailand in Berührung.[129] Die Schöpfungsgeschichte wörtlich zu verstehen, heißt bei Augustinus, sie „auf das Ewige hin“ auszulegen; beispielsweise seien Licht, Tag, Abend und Morgen in Gen 1,3–5 EU Bezeichnungen für die Engel, die Gott betrachten und lobpreisen. Die Vertreibung des Menschenpaars aus dem Paradies war für Augustinus dagegen ein historisches Faktum, was zusätzliche tiefere Bedeutungen nicht ausschloss.[130]
Die Erzelternerzählungen dienten den Kirchenvätern vor allem zur Veranschaulichung ethischer Grundsätze. Besonders Ambrosius kommentierte sie in diesem Sinn und übernahm dabei Auslegungen Philos, konnte aber auch an den Gebrauch der Genesis bei Autoren des Neuen Testaments anknüpfen. Eine Besonderheit ist die Josefsgeschichte; Josef war ein Muster an Tugend, aber zusätzlich ließen sich bei ihm Parallelen zur Passionsgeschichte Christi entdecken, wie insbesondere Caesarius von Arles herausarbeitete.[131]
Die drei Gäste, die Abraham im Hain Mamre bewirtete (Gen 18,16–33 EU), wurden in der altkirchlichen Exegese auf die Trinität gedeutet, so bei Hilarius von Poitiers, Ambrosius von Mailand und Caesarius von Arles.[132]
Eine Sonderstellung unter den altkirchlichen Kommentaren zur Genesis hat der philologische Kommentar des Hieronymus (Hebraicae quaestiones in libro Geneseos). Hieronymus, der in Bethlehem lebte und bei rabbinischen Gelehrten Hebräischunterricht nahm, befragte diese Gewährsleute auch über schwierige Bibelstellen. So findet sich in Hieronymus’ philologischem Kommentar Material, das Parallelen in Talmud und Midrasch hat. Eigentlich wollte Hieronymus alle alttestamentlichen Bücher auf diese Weise kommentieren; es blieb aber bei der Genesis.[133]
Die Genesis-Auslegung in der lateinischen Westkirche wurde durch Hieronymus’ Hebraicae quaestiones zusammen mit den Kommentaren von Augustinus und Ambrosius geprägt, wie sich bei Beda Venerabilis und Cassiodor zeigt. Isidor von Sevilla kompilierte ältere Auslegungen in seinem allegorischen Kommentar (Quaest. de veteri et novo Testamento; De ortu et obitu patriarcharum).[132]
Kennzeichnend für die mittelalterliche Rezeption des Buchs Genesis ist die Anreicherung der biblischen Erzählungen mit weiterem Material, teils aus Josephus’ Antiquitates, Pseudo-Philos Liber Antiquitatum Biblicarum, dem Buch der Jubiläen und dem Leben Adams und Evas. Beispielsweise ergänzte der Höllensturz Luzifers und der rebellierenden Engel die Schöpfungsgeschichte. Der Urmensch Adam wurde aus achterlei Stoffen erschaffen, mit einem Apfel versucht, und auf seinem Grab entspross der Baum des Kreuzes. Auf dem Weg über gelehrte Werke wie Petrus Comestors Historia scholastica fanden diese Genesis-Paraphrasen weite Verbreitung in den Volkssprachen. Dass nicht alles auch so in der Bibel stand, war wenig bekannt.[134]
Chronistische Werke in den Volkssprachen, zum Beispiel die mittelhochdeutsche gereimte Weltchronik des Wiener Patriziers Jans der Enikel begannen mit der Schöpfungsgeschichte und einer Nacherzählung der Genesis bis zum Turmbau von Babel, meist fortgeführt bis zu Abraham. Für mittelalterliche Gelehrte warf die Genesis eine Reihe viel diskutierter Probleme auf: die Abmessungen der Arche, die Zahl der darin beförderten Tiere, der Stammbaum der Kainiten und Sethiten mit dem in beiden Genealogien genannten Lamech. Immer wieder ließ sich in der Genesis typologisch ein Bezug zu Jesus Christus entdecken: beispielsweise galt die Arche als Typus Christi, da die Öffnung der Tür am Ende der Sintflut in Bezug zur Öffnung der Seitenwunde des gekreuzigten Christus gesetzt wurde.[134]
Die große Genesisvorlesung (1535–1545, nach Mitschriften 1544–1554 in vier Bänden gedruckt) ist ein Spätwerk Martin Luthers. Er nutzte den Vers Gen 3,15 LUT, das sogenannte Protevangelium, als hermeneutischen Schlüssel zur Genesis. Mit der kirchlichen Tradition verstand er ihn als Verheißung des Sieges Jesu Christi über die Mächte des Verderbens. Im Kontext von Gen 3 tröste diese Weissagung Adam und Eva nach dem Sündenfall. Abraham, Isaak und Jakob sind für Luther Beispiele des Glaubens, der sich ganz auf Gottes Verheißungswort verlässt. Seien sie doch „wie Landstreicher“ ohne feste Wohnung umhergezogen und hätten Anfechtung und Tröstung erlebt. Tröster der angefochtenen Heiligen seien insbesondere die Engel, wofür Luther in den Erzelternerzählungen mehrere Beispiele fand. Am Ende des Buchs Genesis beziehe sich die messianische Weissagung im Jakobssegen (Gen 49,8–12 LUT) auf das Protevangelium zurück.[135]
Johannes Calvins Genesiskommentar erschien 1554. Im Hintergrund steht der nach dem Consensus Tigurinus neu entflammte Streit mit den deutschen Lutheranern um das richtige Abendmahlsverständnis, der dann auch Calvins Haltung zu Luther und dessen Bibelexegese tangierte. Luthers gedruckte Genesisvorlesung nutzte er bis Gen 25,11, in den großen Linien zustimmend, in Einzelfragen aber mit scharfer Distanzierung. Calvin problematisierte, wie Mose das Buch Genesis habe schreiben können, wo er doch zur Zeit des Exodus lebte. Er habe eine mündliche Überlieferung über die Urgeschichte und die Erzeltern mit dem Beistand des Heiligen Geistes in eine gültige schriftliche Form gebracht. Dabei habe er für die Israeliten seiner Zeit in einer leicht verständlichen Weise geschrieben, obwohl er selbst ein hochgelehrter Ägypter gewesen sei. Die zentrale Aussage (argumentum) des Buchs Genesis sei: Nach Schöpfung und Sündenfall verheißt Gott der Menschheit ihre Wiederherstellung durch Christus als dem Mittler; dank Gottes Vorsehung besteht auf Erden immer eine Gemeinschaft, die ihn anbetet, wenn auch oft unter Verfolgung. Die Erzeltern gehören demnach zur gleichen Kirche wie Calvin und seine Leser. Aufgrund des großen zeitlichen Abstands gebe es aber kulturelle Unterschiede, und nicht alle Details der Genesis seien für den heutigen Leser relevant.[136]
Als christlicher Basistext wurde die Genesis seit Mitte des 17. Jahrhunderts vor allem unter zwei Fragestellungen untersucht: Bot ihre Chronologie ein zuverlässiges Gerüst für die Frühgeschichte der Menschheit? Und war Mose ihr Verfasser? Der anglikanische Erzbischof James Ussher veröffentlichte 1650 das Werk Annales veteris testamenti, a prima mundi origine deducti, in dem er aufgrund des chronologischen Materials der Hebräischen Bibel die These aufstellte, dass die Welt in der Nacht auf Sonntag, den 23. Oktober 4004 v. Chr. erschaffen worden sei.[137] Ethnographische Studien und Reiseberichte aus der Neuen Welt veranlassten Isaac de La Peyrère zu der These, Adam sei nicht der erste Mensch überhaupt gewesen, sondern der erste Jude. Seine Präadamiten-These regte an, die Urgeschichte der Genesis nicht länger mit der Frühgeschichte der ganzen Menschheit gleichzusetzen. La Peyrère bezweifelte, dass Mose die Genesis verfasst hätte. Ähnlich sah es Thomas Hobbes: In seinem Hauptwerk Leviathan urteilte er, Mose sei ein Gesetzgeber gewesen und habe nicht die erzählerischen Teile des Pentateuch, darunter die Genesis, niedergeschrieben.[138]
Der Bezug auf einzelne Erzählungen und Motive der Genesis in Kunst, Literatur, Musik und Film ist so vielfältig, dass hier nur Beispiele genannt werden können. Relativ selten wird das Buch Genesis als Ganzes thematisiert.
Mehrere spätantike christliche Genesis-Codices (Cotton-Genesis, Wiener Genesis, Ashburnham-Pentateuch) sind durchgängig illustriert. Jüdische Genesis-Manuskripte, welche nicht erhalten sind, dienten hierfür wahrscheinlich als Vorlagen. Denn Details dieser Illustrationen werden durch die rabbinische Literatur verständlich.[139][140] Die frühesten erhaltenen jüdischen Bilderzyklen zur Genesis finden sich am Anfang einiger mittelalterlicher Haggadot: beispielsweise in der Goldenen Haggada, der Sister Haggada und – am vollständigsten – in der Sarajevo-Haggada.[139]
In der Basilika Santa Maria Maggiore in Rom blieb der frühchristliche Mosaikzyklus des Kirchenschiffs erhalten, welcher alttestamentliche Szenen zeigt: an der linken Seite die Erzelternerzählungen, an der rechten Seite Szenen des Auszugs aus Ägypten und der Landnahme. Die Mosaiken von Triumphbogen und Apsis stellen neutestamentliche Motive dar. Damit veranschaulicht der Mosaikenschmuck in Santa Maria Maggiore, wie die Erzählungen der Genesis bzw. des Alten Testaments überhaupt in einen größeren, neutestamentlichen Deutungsrahmen gestellt wurden. Die Begegnung von Abraham und Melchisedek und die Bewirtung der drei Gäste durch Abraham im Hain Mamre wurden, entgegen der biblischen Reihenfolge, näher zum Altar gerückt, weil die christliche Auslegungstradition hier einen Bezug zur Eucharistie sah.[139]
Die Bernwardstür (St. Michael, Hildesheim) stellt Szenen aus der Urgeschichte, von der Erschaffung Adams bis zu Kains Brudermord, typologisch Szenen aus dem Leben Jesu gegenüber und steht damit für eine weitere häufige Rezeption der Genesis in der christlichen Kunst: Der Beginn der Genesis (Schöpfung und Fall, Brudermord) schildert demnach die zunehmende Entfernung des Menschen von Gott, dem im Neuen Testament mit Geburt, Tod und Auferstehung Christi die Rückkehr des Menschen in die Gottesnähe entspricht. Portale und Kirchentüren boten sich für solche Bilderzyklen an, weil sie auf dem Weg von der profanen Welt in den geweihten Kirchenraum durchschritten werden.[139]
Die Decke der Sixtinischen Kapelle malte Michelangelo 1508/12 mit Szenen aus der Urgeschichte aus, während die Stirnwand später ein Fresko des Jüngsten Gerichts erhielt. Diese Lektüre der Genesis in einem endzeitlichen Deutungsrahmen ist ebenfalls häufig in der bildenden Kunst umgesetzt worden.[139]
John Milton nahm in dem epischen Gedicht Paradise Lost (1667) die ältere christliche Rezeption der Paradieserzählung auf „und schuf zugleich ein Werk von intensiver literarischer Originalität“, das vielfältig rezipiert wurde.[141]
Die Erzählung von Kain und Abel gilt ebenfalls als „Schlüsselmythos der westlichen Literatur“ und fand seit der Romantik erneutes Interesse, wobei Salomon Gessner mit Der Tod Abels (1760) eine sympathische Neubewertung Kains anregte.[142] José Saramagos Roman Kain (2009) lässt den Protagonisten durch die biblische Geschichte reisen. Überall stößt er auf Tote, die der strafende Schöpfergott zu verantworten hat. Kain gelingt es schließlich, sich auf die Arche Noah zu schmuggeln, dort alle Frauen zu töten und damit Gottes weitere Pläne mit der Menschheit zu durchkreuzen.[143]
In seiner Roman-Tetralogie Joseph und seine Brüder bezog sich Thomas Mann nicht nur auf die namengebende Josefsgeschichte (Gen 37–50). Nach dem Eingangssatz „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“ werden in Teil I die Geschichten Jaakobs erinnert. In Teil II ist ein Kapitel Abraham gewidmet, der den Monotheismus „entdeckt“ und „hervorgedacht“ habe. Mann äußerte mehrfach, dass er mit dem Josephsroman den Faschisten (Alfred Rosenberg) den Mythos entwinden und ihn mittels der Psychologie „ins Humane umfunktionieren“ wollte.[144]
Mit seiner Graphic Novel The Book of Genesis (2009) beansprucht Robert Crumb, den gesamten Text der Genesis in einer objektiven Weise zu präsentieren. Damit rücken gerne weggeblendete Darstellungen von Sexualität und Gewalt, die dieses biblische Buch enthält, in den Blick. Die Textgrundlage ist teils die King-James-Bibel, teils die moderne englische Übersetzung des Literaturwissenschaftlers Robert Alter. Christina Roetz (Die Zeit) charakterisiert die Gottesdarstellung als „eine Mischung aus Charlton Heston und Gandalf“ mit einem stets gleichen konzentriert-zornigen Gesichtsausdruck. „Geschichten, die der Bibelleser bildlich, das heißt indirekt, metaphorisch, verstehen soll, werden von Crumb zu wirklichen, sinnlich wahrnehmbaren Bildern gegossen.“[145]
Unter den Kompositionen, die einzelne Teile der Genesis zum Thema haben, wäre beispielsweise Joseph Haydns Oratorium Die Schöpfung (1798) zu nennen, oder Georg Friedrich Händels Oratorium Joseph and his Brethren (1743). Werke mit dem Titel Genesis thematisieren meist die Schöpfungsgeschichte, beispielsweise Charles Wuorinen: Genesis (1989). Die Genesis Suite (1945) dagegen behandelt die ganze Urgeschichte und ist ein Gemeinschaftswerk mehrerer Komponisten (Nathaniel Shilkret, Arnold Schönberg, Alexandre Tansman, Darius Milhaud, Mario Castelnuovo-Tedesco, Ernst Toch und Igor Strawinsky).[146]
The Bible: In the Beginning … (1966) ist eine Bibelverfilmung des Regisseurs John Huston. Der Film behandelt die Kapitel Gen 1–22; die Umsetzung der Sintfluterzählung ist nicht nur wegen des technischen Aufwands bemerkenswert. Huston tritt selbst in der Rolle des Noach auf. In der Arche ist die Familie Noachs mit der kurzweiligen Fütterung der verschiedenen Tierarten beschäftigt, während man von fern die Schreie der Ertrinkenden hört, wovor es Noachs Frau graust.[147]
Beobachtungen im Buch Genesis waren für die Entwicklung der alttestamentlichen Literarkritik, Formkritik und Religionsgeschichte des antiken Israel von sehr großer Bedeutung. Weil der erste Schöpfungsbericht den Gottesnamen Elohim verwendet, der mit Gen 2,5 EU einsetzende zweite Schöpfungsbericht dagegen den Gottesnamen JHWH, postulierte Johann Gottfried Eichhorn ab 1779 zwei von Mose mit verschiedenen anderen Fragmenten zusammengearbeitete Hauptquellen (Elohim-Quelle und Jehova-Quelle) für den gesamten Pentateuch. Karl David Ilgen fand im Buch Genesis 1798 drei Quellenschriften und wies auf die Andersartigkeit des Deuteronomiums hin; damit war die Vier-Quellen-Theorie (Ältere Urkundenhypothese) im Grunde bekannt, wenn auch die wissenschaftliche Rezeption zunächst gering blieb. Dies änderte sich durch die Arbeiten von Hermann Hupfeld (1853) und Eduard Riehm (1854). Aber noch immer galt die mit Gen 1,1 einsetzende, den Gottesnamen Elohim benutzende Quellenschrift als die älteste (die „Urschrift“). Sie sei durch eine jüngere, ebenfalls „elohistische“ Schrift ergänzt worden, welche die Erzelternerzählungen enthielt. Dann sei als drittes eine noch jüngere „jehovistische“ Schrift hinzugekommen, die ebenso wie die „Urschrift“ eine Schöpfungsgeschichte enthalten habe und am Gebrauch des Gottesnamens JHWH (damals gelesen als „Jehova“) kenntlich sei. Eine Revision dieses Modells legte Julius Wellhausen ab 1876 vor (Die Composition des Hexateuchs; Prolegomena zur Geschichte Israels): Der zweite Schöpfungsbericht (Jahwist) ist demnach Jahrhunderte älter als der erste (Priesterschrift)! Das hat weitreichende Folgen für unser Bild von der Religionsgeschichte Israels. Denn demnach gehören die umfangreichen kultgesetzlichen Regelungen, welche die Priesterschrift kennzeichnen, nicht zum ältesten Gut. Eine Frühzeit der Religion Israels wird erkennbar, in der die Propheten wirkten und die Orientierung am „Gesetz“ noch nicht im Zentrum stand (lex post prophetas).[148] Literarkritik in der Nachfolge Wellhausens heißt auch, dass die Genesis nicht länger als Buch wahrgenommen wird, sondern als erster Teil einer aus pragmatischen Gründen auf mehrere Buchrollen aufgeteilten literarischen Einheit Hexateuch (= Pentateuch und Buch Josua).
Für Hermann Gunkel war die literarkritische Scheidung der Hexateuchquellen 1922 ein Ruhmesblatt der „modernen protestantischen Wissenschaft von der Bibel“.[149] Anfang des 20. Jahrhunderts bestand der Optimismus, diese Quellenscheidung bis auf den einzelnen Vers, teilweise bis aufs Wort genau durchführen zu können. Unter Voraussetzung des Wellhausen’schen Modells fragte Gunkel in seinem als Klassiker geltenden Genesis-Kommentar hinter diese rekonstruierten schriftlichen Quellen zurück nach den alten, mündlichen Überlieferungen und formulierte programmatisch: „Die Genesis ist eine Sammlung von Sagen.“[150] Er arbeitete die Kunstform dieser Erzählungen heraus, weil ein Exeget, der „an der künstlerischen Form dieser Sagen achtlos vorübergeht, nicht nur sich selbst eines hohen Genusses beraubt, sondern auch die wissenschaftliche Aufgabe, die Genesis zu verstehen, nicht vollkommen erfüllen kann.“[151] Diesen ästhetisch-literaturgeschichtlichen Zugang verdankte Gunkel Johann Gottfried Herder. In der Genesis unterschied er „Ursagen“ (einstige Mythen) und Vätersagen; die Josefsgeschichte verstand er als Novelle.[152]
Gerhard von Rad verfasste 1949–1953 einen viel rezipierten, allgemeinverständlichen Kommentar zur Genesis mit einem formgeschichtlichen Schwerpunkt. Er sah den Jahwisten (und nach seinem Vorbild auch die Verfasser der jüngeren Quellenschriften) hauptsächlich als Sammler, dessen eigene Leistung im Arrangement der Einzelsagen zu einer durchlaufenden Erzählung bestanden habe; am Text der alten Sagen habe der Jahwist vielleicht nicht mehr als „ein gewisses Behauen der archaischen Profile und … die Setzung ganz bestimmter feiner Akzente“ vorgenommen.[153]
Claus Westermann legte 1974–1982 einen umfassenden wissenschaftlichen Genesis-Kommentar in drei Bänden vor. Literarkritik und Formkritik sind darin verbunden; die religionsgeschichtlichen Parallelen aus der näheren und weiteren Umwelt Israels werden berücksichtigt. Als Formkritiker hielt es Westermann für möglich, sehr alte mündliche Traditionen herauszuarbeiten, die einen Blick in die nomadische Frühzeit Israels ermöglichen.[154]
Einzelne jüdische Exegeten befassten sich im späten 19. und im 20. Jahrhundert eingehender mit der Literarkritik der Wellhausen-Schule in der Absicht, diese zu widerlegen: beispielsweise Samuel David Luzzatto, Umberto Cassuto und David Zvi Hoffmann – letzterer als orthodoxer Rabbiner eine Ausnahme, denn für einen Großteil der jüdischen Orthodoxie war die Auseinandersetzung mit der christlichen Exegese kein Thema. Hoffmann versuchte den Nachweis zu führen, dass die Priesterschrift die älteste Quellenschrift des Pentateuch sei, drehte also die von der Wellhausen-Schule postulierte zeitliche Reihenfolge um. Das war ein Ansatz, der später von Yehezkel Kaufmann und dessen Schule in Israel und Amerika weiter verfolgt wurde.[155] Samson Raphael Hirsch, eine prägende Persönlichkeit der jüdischen Neo-Orthodoxie, verfasste Kommentare zu den Büchern der Tora, die sich gegen das zeitgenössische Reformjudentum wenden, die protestantische Bibelkritik aber allenfalls indirekt kritisieren. Aufbauend auf der Symbolmetaphorik der Romantik, legte Hirsch die Genesis symbolisch und (begründet mit dem „Prinzip der Lautverwandschaft“) etymologisch aus.[156]
Der Genesis-Kommentar des liberalen Rabbiners Benno Jacob erschien 1934 in Berlin. Für Jacob war die Beziehung der Tora zu Israel der hermeneutische Schlüssel zur Genesis; sein Hauptwerk sollte ein „wissenschaftlicher, unabhängiger jüdischer Kommentar“ zum Buch Genesis sein. Jacobs Kommentar zeigt große Vertrautheit mit der jüdischen Auslegungstradition und zeichnet sich durch eine Fülle an Einzelbeobachtungen aus, numerologische Spekulationen zum Zahlenmaterial der Genesis inbegriffen.[157] Dass Jacob die protestantische Literar- und Formkritik entschieden ablehnte, hinderte nicht, dass sein Genesis-Kommentar von protestantischen Theologen stark rezipiert wurde. Beispielsweise nutzte Karl Barth in seinem umfangreichen Exkurs zu Gen 1–2 in der Kirchlichen Dogmatik III/1 (1945) kontinuierlich Jacobs Kommentar, dem er die Metapher von der Schöpfung als „Weltenhaus“ verdankte, welches Gott dem Menschen baue und einrichte.[158] Auch die Genesis-Kommentare von Gerhard von Rad und Claus Westermann ziehen Jacobs Hauptwerk häufig heran.
Obwohl sich argumentieren lässt, dass Wellhausens negative Darstellung des rabbinischen Judentums im Kontext des Kulturkampfs in Preußen oft auf den zeitgenössischen Katholizismus gezielt war, galt der Begründer der sogenannten „Höheren Kritik“ (= Literarkritik) als Antisemit; die Neuere Urkundenhypothese wurde deshalb in jüdischen Seminaren zunächst nicht vermittelt. Solomon Schechter brachte diese Ablehnung 1903 auf die Formel: Higher Criticism – Higher Anti-Semitism. Dies änderte sich durch den israelischen Bibelwissenschaftler Yehezkel Kaufmann, dessen Werk im englischsprachigen Raum durch Moshe Greenberg bekannt gemacht wurde: Kaufmann übernahm Wellhausens Unterscheidung der Hexateuchquellen, aber nicht deren zeitliche Ansetzung. Die Priesterschrift sei die älteste Quellenschrift; der ganze Pentateuch sei in der Zeit der Königreiche Israel und Juda niedergeschrieben worden, also in einer Zeit staatlicher Souveränität des jüdischen Volkes (was für Kaufmann als Zionisten wichtig war). Kaufmann öffnete damit der Urkundenhypothese in Israel und Amerika eine Tür.[159]
Als Hebraist und Literaturwissenschaftler hält Robert Alter die Beschäftigung mit hypothetischen mündlich überlieferten Sagen und rekonstruierten schriftlichen Quellen für wenig zielführend und bevorzugt eine synchrone Lektüre des Endtextes. Mit The Art of Biblical Narrative (1981) etablierte er die Narrative Exegese im englischen Sprachraum.
Der israelische Rabbiner Mordechai Breuer übersetzte den Pentateuchkommentar von Samson Raphael Hirsch ins Neuhebräische. Breuer selbst akzeptiert die Grundannahmen der Literarkritik, sieht in den Pentateuch-Quellen aber die Absicht des göttlichen Autors, die Tora aus verschiedenen Perspektiven mitzuteilen (Pirqei Bereschit. 1998).[160]
Die Päpstliche Bibelkommission schränkte die Exegese des Alten Testaments Anfang des 20. Jahrhunderts erheblich ein. Sie veröffentlichte zu strittigen Themen (Dubia) argumentativ kaum begründete Antworten (Responsa), die den Rang von Dekreten päpstlicher Kongregationen hatten.[161] Mit Bezug auf das Buch Genesis wurde verbindlich gelehrt:
Die Enzyklika Divino afflante Spiritu (1943) markiert einen Wendepunkt. Sie eröffnete der katholischen Exegese größere Freiräume. In einem Brief an Erzbischof Emmanuel Suhard (Des sources du Pentateuque et de l’historicité de Genèse 1–11) vom 16. Januar 1948 stellte Pius XII. zur Geltung der beiden Dokumente der Bibelkommission von 1906 und 1909 fest: Die Frage, ob es Quellenschriften des Pentateuch gibt, sei schwierig und bedürfe weiterer Untersuchung durch katholische Exegeten. Die literarische Eigenart von Gen 1–11 (Urgeschichte) sei ein komplexes Thema. Die Geschichtlichkeit dürfe nicht pauschal abgelehnt werden, aber es sei ebenso falsch, die literarischen Formen dieser Texte außer Acht zu lassen und Kriterien an sie anzulegen, die ihnen nicht entsprächen.
1993 veröffentlichte die Bibelkommission das Dokument Die Interpretation der Bibel in der Kirche, welches sich zum Methodenpluralismus in der Exegese bekennt. Das schließt die Literar- und Formkritik ein, ohne ihnen ein Monopol zu geben. Lothar Ruppert verfasste als Mitglied der Bibelkommission eine kommentierende Einführung zu diesem Dokument. Er legte 1992–2008 in vier Bänden den bislang ausführlichsten deutschsprachigen Kommentar zur Genesis vor. Ruppert setzt darin die Neuere Urkundenhypothese voraus und betrachtet den Text diachron. Eher ungewöhnlich ist sein Festhalten an einer Frühdatierung des Jahwisten (in einem hypothetischen Davidisch-salomonischen Großreich) und des Elohisten (um 740 v. Chr.). Die ältesten Traditionen in der Jakobsgeschichte datiert Ruppert in die Späte Bronzezeit (14./13. Jahrhundert v. Chr.), als eine möglicherweise von der historischen Person Jakob geleitete Gruppe von Aramäern aus dem Ostjordanland in die Gegend von Sichem gezogen sei. Rupperts Kommentar informiert ausführlich über die spätantike und mittelalterliche Rezeptionsgeschichte der einzelnen Erzählungen der Genesis.[162]
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