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musikwissenschsftlicher Begriff Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Alte Musik bezeichnet europäische Musikstile aus verschiedenen Epochen der klassischen Musik. Alte Musik reicht vom frühen Mittelalter über die Musik der Renaissance bis zum Spätbarock, also etwa zum Jahr 1750. Gelegentlich wird auch der lateinische Ausdruck Musica antiqua und international der englische Begriff Early Music verwendet.
Aufführung und Aufnahmen Alter Musik sind im Wesentlichen eine Domäne spezialisierter Musiker und Ensembles, da besondere historische Musikinstrumente und viel Fach- und Praxiswissen über Musikgeschichte, Instrumentenkunde, Spielweisen, Stimmungssysteme etc. vorliegen müssen, um herauszufinden, wie die Musik früherer Epochen geklungen haben könnte.
Die Versuche der Rekonstruktion stützen sich auf Bilddokumente und Notentexte (siehe Notationen). Alte Musik wurde in England fast lückenlos von Generation zu Generation weiter überliefert. Dennoch veränderte sich die Musik durch den Vorgang des Weitergebens (Tradierens).
Durch die sorgfältige und aufwändige Editionsarbeit von Musikhistorikern, Musikwissenschaftlern und Musikverlagen im 19. und 20. Jahrhundert ist im 21. Jahrhundert ein großer Teil von Kompositionen der Alten Musik der Forschung, dem Konzertleben sowie der allgemeinen Musizierpraxis wieder zugänglich geworden und für die Zukunft gesichert.
Alte Musik spannt sich vom frühen Mittelalter zum späten Barockzeitalter. Sie setzt sich aus einer Kette sehr verschiedener Musikepochen und unterschiedlicher, auch häufig regional zu differenzierenden musikalischen Schulen zusammen. Dabei lässt sie sich folgendermaßen grob untergliedern:
Hugo Riemann lehnte den Renaissancebegriff als musikgeschichtlichen Epochenbegriff ab und nutzte stattdessen einen Stilbegriff, nämlich „Musik des durchimitierenden a cappella-Stils“. Dementsprechend nannte Riemann die barocke Musik die „Musik des Generalbasszeitalters“.[1]
Auch Ludwig Finscher verwendet in seinem Handbuch der Musikgeschichte von 1989 den Begriff der Renaissancemusik nicht. Er spricht stattdessen von der „Musik des 15. und 16. Jahrhunderts“. Arnold Feil vermeidet gleichfalls in seiner Musikchronik von 2005 bewusst den Begriff Renaissance, weil „die Musikgeschichte ... keine Renaissance wie die anderen Künste“ kennt.[2]
Selbst die herkömmliche Abfolge und Aneinanderreihung wie Mittelalter – Renaissance – Barock – Klassik – Romantik bleibt nach Arnold Feil „für die Musik ja doch (eine) geborgte Reihe“, dazu „von merkwürdiger Inkonsequenz. Jede Bezeichnung ist woanders hergeholt, keine passt ihrer Herkunft nach zur andern, keine läßt sich mit der andern vergleichen“.[3] „Die Vorstellung vom Gänsemarsch der Stile ist unausrottbar“.[4] Sie müssten, „so glaubt man allgemein, aufeinander folgen wie die Epochen der Erdgeschichte aufeinander folgen, die die Naturwissenschaften und die Evolutionstheorie uns vorstellen. Aber die Kunst als ein Phänomen des Geistes entwickelt sich nicht in vergleichbar natürlichen Prozessen“. Manche Musikwerke entstehen im selben Jahrhundert und bleiben dennoch durch eine Welt von den andern getrennt.
Bereits im Mittelalter gab es eine Unterscheidung zwischen „Alter“ und „Neuer Musik“. Ab 1320 wurde der nun überwundene Musikstil als Ars antiqua (‚alte Kunst‘ bzw. ‚Musik‘) bezeichnet und die fortan komponierte neue Musik, die Ars nova, als Überwindung dieses alten Stils gefeiert.
Mit dem Entstehen des bürgerlichen Konzertlebens um 1800 begann sich ein Repertoire herauszubilden, das die vorklassische Musik weitgehend außer Acht ließ und sich auf die gerade neu entstehenden Kompositionen konzentrierte. Die Haltung der breiten bürgerlichen Musikkultur dieser Zeit fasste Eduard Hanslick in den Worten zusammen: „Für unser Herz beginnt sie [die Musik] mit Mozart, gipfelt in Beethoven, Schumann und Brahms.“[5]
Die Werke Johann Sebastian Bachs wurden nach seinem Tod 1750 zwar von anderen Komponisten studiert, aber nicht mehr für ein breites Publikum aufgeführt. Die Aufführung der Matthäuspassion durch Felix Mendelssohn Bartholdy 1829 gilt als Beginn einer breit angelegten Bach-Renaissance. Seither werden Bachs Werke auch wieder von einer musikalischen Öffentlichkeit geschätzt.
Die Romantik und der Historismus spielten eine wesentliche Rolle dabei, dass sich die Faszination für Musik vergangener Epochen auch in der Musikpraxis niederschlug. Immer wieder haben sich Komponisten an bedeutenden Vorgängern abgearbeitet. Im Musikleben aber hatten die Aufführungen der Musik vergangener Epochen ansonsten keine Rolle gespielt, da man sie jeweils als überholt ansah.
Alte Musik möglichst mit historisch korrektem Klangbild aufführen zu können, ist – mit Ausnahme von England – in Europa erst wieder ein Anliegen des 20. Jahrhunderts.
Der Begriff „Alte Musik“ gewann allgemein seit den Reformbewegungen der 1920er Jahre an Bedeutung, als im Zuge der Belebung der historischen Aufführungspraxis verstärkt Nachbauten von originalen Instrumenten angefertigt und verwendet wurden. Die Altmusik-Bewegung verstand sich als Kontrast und Korrektiv zum herkömmlichen Konzertrepertoire. Die Klanglichkeit der Alten Musik, egal wie sie aufgefasst wurde, stand auf jeden Fall im scharfen Kontrast zur spätromantischen Tonalität und Fülle der Klangfarben.
Zum Begriff der Alten Musik entwickelte sich der Gegenbegriff Neue Musik, der 1919 von Paul Bekker geprägt wurde.[6] Bekker setzte sich fortan für deren erste Wegbereiter ein: Gustav Mahler, Franz Schreker, Arnold Schönberg und Ernst Krenek.[7]
In der Neuausgabe der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG 1999–2007; 27 Bände) sucht man vergeblich einen Artikel „Alte Musik“. Freilich wurden in Artikeln wie „Historismus“ und „Aufführungspraxis“ Aspekte der Alten Musik abgehandelt – aber dennoch: „Es hätte geradezu ein Definitionszwang bestanden“,[8] stellte Bernhard Morbach für die Situation im 21. Jahrhundert fest. Morbach vermutet weiter: „Dass sich die Musikwissenschaft in Deutschland nach wie vor einer Diskussion über das Phänomen Alte Musik verweigert, kann ein Hinweis darauf sein, dass man nicht wahrhaben will, dass sie in der Musikkultur seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer erfolgreichen Konkurrenz der Neuen Musik geworden ist, deren Entwicklung man eine größtmögliche Bedeutung beimisst.“
Einige Musikinstrumente waren bis zum 19. Jahrhundert und auch schon früher außer Gebrauch geraten und konnten im 20. Jahrhundert im Zuge der Neubewertung und Neuentdeckung Alter Musik für die Musikpraxis wiedergewonnen werden. Die Originalklang-Bewegung nahm ihren Anfang 1905 in München. Damals entstand das erste deutsche Ensemble, das sich um eine möglichst stilgetreue Interpretation Alter Musik auf historischen Instrumenten bemühte: die Deutsche Vereinigung für Alte Musik.[9]
Der Zink war beispielsweise fast unbekannt geworden. Seit den späten 1970er Jahren erfuhr dieses Instrument eine intensive Wiederbelebung im Zuge der Neuentdeckung der Alten Musik. Heute gibt es wieder Zinkenisten und zugleich Instrumentenbauer, die Instrumente herstellen, die denen aus der Blütezeit des Zinken ebenbürtig sind.
Ähnlich liegen die Dinge bei Blasinstrumenten wie Bassetthorn und Serpent. Otto Steinkopf baute als erster im 20. Jahrhundert eine Anzahl von Renaissance- und Barockinstrumenten. Er kopierte Krummhörner, Kortholte, Rankette, Dulziane, Schalmeien und Pommern, und Zinken,[10] darüber hinaus auch Barockfagotte und Barockoboen. Er gilt als ein „Nestor der Wiederbelebung historischer Holzblasinstrumente“.[11]
Arnold Dolmetsch gilt als einer der frühesten Pioniere bei Themen der historischen Aufführungspraxis und wird in diesem Zusammenhang mit der Wiederentdeckung der Blockflöte im 20. Jahrhundert in Verbindung gebracht. 1919 stellte er einen Nachbau einer Alt-Blockflöte nach historischem Vorbild vor.
Mit der Wiederentdeckung der Alten Musik erfuhr auch die Laute in ihren verschiedenen Formen während des 20. Jahrhunderts eine Wiederbelebung. Walter Gerwig begann in der Wandervogelbewegung zunächst das Gitarrenspiel. 1923 lernte er auf einer Instrumentenausstellung in Berlin die Laute kennen, die ihn sofort faszinierte. Er verfeinerte auf ihr seine Technik und brachte es zur Konzertreife. Durch seine international stattfindenden Konzerte trug Gerwig maßgeblich zu einer Renaissance der Laute und des Lautenrepertoires sowohl in Europa als auch in Amerika bei. So beförderte er das Interesse an der Alten-Musik-Bewegung.
Die Wiederentdeckung des Cembalos im frühen 20. Jahrhundert ist mit der Wiederentdeckung der Barockmusik verbunden. Hierbei ist das Wirken der Pianistinnen und Cembalistinnen Wanda Landowska und Eta Harich-Schneider hervorzuheben, welche durch ihre rege Konzert- und Lehrtätigkeit das Instrument und die dazugehörende Musizierweise einem breiten Publikum bekannt gemacht haben.[12][13]
Der Cellist Nikolaus Harnoncourt und die Geigerin Alice Harnoncourt studierten nach der Zeit des Zweiten Weltkrieges sowohl die musikalische Aufführungspraxis der Renaissance als auch des Barocks und erkundeten die Klangmöglichkeiten alter Instrumente.[14]
Auch der historische Hammerflügel erlebte peu a peu eine Wiederkehr ins Konzertleben. Bereits ab 1980 spielte der Tenor Ernst Haefliger über mehrere Jahre hinweg die wichtigsten Liederzyklen von Franz Schubert zusammen mit dem Pianisten Jörg Ewald Dähler auf dem Hammerflügel statt mit dem modernen Konzertflügel ein.[15]
Auf dem langen Weg der Wiedergewinnung von Instrumenten für die Wiedergabe der Alten Musik gab es aber auch Schritte und Entwicklungen, die sich nicht weiter durchgesetzt haben.
Karl Maendler trat zu Beginn der 1920er Jahre mit einem Instrument an die Öffentlichkeit, das als „Bachklavier“ bezeichnet wurde. Dieses Cembalo verfügte über eine sehr umfangreiche, sogenannte „dynamische“ Registrierung. Ein Instrument der Serie aus dem Jahr 1925, das im Deutschen Museum in München aufbewahrt wird, besitzt acht Pedale, um die diversen Register zu aktivieren und zu kombinieren.[16] Es hat wenig mit einem Cembalo der Bachzeit zu tun und noch weniger mit einem Klavier.
Albert Schweitzer hing mit anderen Forschern seiner Zeit der falschen Vorstellung an, das gleichzeitige Streichen von bis zu vier Saiten sei in der Barockzeit mit einem Rundbogen üblich gewesen, insbesondere im Hinblick auf Bachs Solowerke für Violine. In seinem Buch über Johann Sebastian Bach (1905) machte er diesen Irrtum populär. Schweitzers Forderung nach einem Bach-Bogen, der ein wahrhaft polyphones Violinspiel ermöglicht, hängt möglicherweise damit zusammen, dass er selbst Organist war und der polyphone Orgelklang ohnehin als typischer Bach-Klang galt.
Julius Kosleck war einer der ersten Trompeter, der eine gerade, zweiventilige Trompete in hoch A spielte. Er begründete die Idee zur Verkürzung der Trompeten bis zu unserer heutig bekannten Piccolotrompete, welche dann im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde, um die hoch liegenden Trompetenpartien der Barockmusik darzustellen. Kosleck gilt zudem als „Erfinder“ des falschen Begriffes Bachtrompete.[17] Johann Sebastian Bach hat aber nie ein derartiges Instrument gesehen oder gehört, da die Ventile erst Anfang des 19. Jahrhunderts erfunden wurden. Ähnlich liegen die Dinge beim Corno da caccia.
Die Wiederbelebung der Barocktrompete im 20. Jahrhundert geschah allerdings vergleichsweise zögerlich, da ihr Spiel die Ausführenden vor größere Probleme stellte als bei anderen Instrumenten. So galten noch bis in die 1950er-Jahre die Trompetenpartien bei Bach als unspielbar.
Zur Geschichte der Wiedergewinnung und neuerlichen Verwendung der Instrumente in der Alten Musik
→ Siehe auch: Historische Aufführungspraxis
Einige Musikmuseen in Europa geben die Entwicklung der Alten Musik – zum Teil museumspädagogisch aufbereitet – meist ab dem 15. Jahrhundert im Blick auf das dazugehörende Instrumentarium wieder.
Zu diesen Häusern gehören unter anderem:
Mit der wachsenden Kenntnis und Wertschätzung Alter Musik kam es nach und nach auch zu einer gezielten Archivierung und Zugänglichmachung des historischen Notenmaterials dieser Musik, seien es Autographe, Handschriften oder frühe Notendrucke. Als Beispiele seien genannt:
Die spätestens 719 gegründete Stiftsbibliothek St. Gallen gehört zu den bedeutendsten historischen Bibliotheken der Welt. Die Neumenhandschriften, insbesondere diejenigen aus dem Codex Sangallensis 359, haben für die Restitution des Gregorianischen Chorals große Bedeutung.
In der Staatsbibliothek zu Berlin befinden sich 80 Prozent aller Autographe Johann Sebastian Bachs,[19] aber auch andere Werke aus dem Bereich der Alten Musik.
In der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel werden Musikhandschriften der gesamten europäischen Musikgeschichte von der Einstimmigkeit bis zur Vorklassik aufbewahrt, wobei die Schwerpunkte im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit liegen. Darunter Handschriften mit dem Repertoire der frühen Polyphonie der Kathedrale Notre Dame zu Paris, die Lautentabulaturen Philipp Hainhofers und die Erstfassung der Johannes-Passion von Heinrich Schütz.[20]
Die British Library in London ist im Besitz von Notenblättern aus der Hand von Georg Friedrich Händel.[21]
Die Bayerische Staatsbibliothek in München unterhält eine international bedeutende Musikbibliothek ersten Ranges mit reichen Beständen im Bereich Alte Musik, die bis in das 16. Jahrhundert zurückgehen und die über mehr als 1.400 Notendrucken aus dieser Zeit verfügt.
Auch in Landesbibliotheken finden sich oft große Bestände an Alter Musik; so bewahrt die Württembergische Landesbibliothek in Stuttgart viele mittelalterliche Musikhandschriften säkularisierter Klöster, etwa die Lorcher Chorbücher. Ebenso befinden sich großformatige Chorbücher der ehemaligen Hofkapelle Stuttgart und eine der größten Gesangbuchsammlungen Deutschlands mit historischen Chorälen.
Die Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt verwahrt in ihrer Musiksammlung 4.774 Autographe vor allem aus barocker und frühklassischer Zeit, in deren Zentrum das Gesamtwerk des Darmstädter Hofkapellmeisters Christoph Graupner steht.
Zuweilen haben sich Zusammenstellungen der Mittelalter-, Renaissance- und Barockmusik in alten Ausgaben, Sammlungen und Archiven erhalten, die verschiedene Komponisten oder Werke aus diversen Quellen in historischer Weise bündeln.
Noch ältere Musik aus der Frühzeit der Motette enthalten die Handschriftensammlungen
Die Music Encoding Initiative hat seit dem 21. Jahrhundert Bedeutung für die Zugänglichkeit und Bearbeitung Alter Musik. Die Initiative dient zur Kodierung, zum Austausch und zur Archivierung von Musik. Das Projekt wird auf GitHub[22] gehostet und von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur[23] betreut.
Das International Music Score Library Project (IMSLP, deutsch Internationales Notenbibliothek-Projekt), seit Juli 2008 auch mit dem Untertitel Petrucci Music Library, Ottaviano Petrucci gewidmet, ist ein Projekt zur Schaffung einer Online-Bibliothek für gemeinfreie (public domain) Musiknoten (Free Sheet Music). Das IMSLP wurde von Edward W. Guo, einem Musikstudenten des New England Conservatory of Music, gegründet. Es arbeitet nach dem Wiki-Prinzip und mit der Software MediaWiki. IMSLP präsentiert viele Werke aus dem Bereich der Alten Musik.
Der Nachfolger von Samuel Franck, Caspar Ruetz berichtet, dass die meisten Manuskripte seiner Vorgänger zu Makulatur gemacht oder zum Feueranzünden gebraucht wurden.[24] Dies zeigt exemplarisch, dass weite Bereiche Alter Musik von nachfolgenden Generationen nicht immer als erhaltenswert und archivwürdig eingeschätzt wurden; ganz zu schweigen vom Willen, solche Werke einzuüben und wieder öffentlich hörbar zu machen.
Gerade bei Heinrich Schütz, Dietrich Buxtehude und Johann Sebastian Bach gelten Teile des Gesamtwerkes ebenfalls als verschollen.
Weil Alte Musik teilweise von der nachfolgenden Generation wenig oder gar keine Wertschätzung erfahren hat, kam es infolgedessen auch zu ungenügender Dokumentation. Das „Gesamtwerk“ eines Komponisten wurde nach dessen Tod nicht sichtbar, weil wichtige Werke von ihm zu Lebzeiten nicht vollständig und eindeutig erfasst worden sind. Musikwerke und die dazugehörenden klaren Zuschreibungen zu einem Komponisten gerieten auf diese Weise in Vergessenheit. Werke wurde zwar noch weiter überliefert, konnten ihrem Schöpfer aber nicht mehr oder nicht korrekt zugeordnet werden. Auch die Verwendung von Pseudonyme machten das Erkennen eines Urhebers musikalischer Werke nicht einfacher. Als Mitglied der Accademia dell’Arcadia publizierte beispielsweise Alessandro Marcello seine Werke unter seinem „arkadischen“ Pseudonym Eterio Stinfalico.
In modernen Werkausgaben werden auch Werke mit einem Fragezeichen erfasst, bei denen eine Zuschreibung zum Werkkorpus eines Komponisten nur vermutet werden kann, also auch da, wo für Historiker die belastbaren Quellen für Zuweisungen und Einordnungen fehlen. Solche Werke erscheinen oft bei genügend Evidenz trotzdem im Rahmen von Gesamtausgaben in einem Anhang mit kritischem Bericht. Beim Bach-Werke-Verzeichnis (BWV) oder beispielsweise bei der Gesamtausgabe von Johann Hermann Schein wurde mit fraglichen Werken so verfahren. In der Neuen Schütz-Ausgabe heißt der 44 Band: „Werke zweifelhafter Echtheit“. In manchen Fällen muss man möglicherweise von einer mehr oder weniger bewussten Fälschung ausgehen. Bei Johann Sebastian Bach stellt sich die Lage in der Gesamtausgabe folgendermaßen dar:
Die Einschätzung im Blick auf Echtheit und fälschlicher Zuschreibung schwankt gelegentlich, je nach Forschungsperspektive. Bekanntes Beispiel dafür ist die Toccata und Fuge d-Moll BWV 565 von Bach. In den letzten Jahrzehnten wurden vermehrt Zweifel an Bachs Urheberschaft geäußert. Vor allem Peter Williams und später Rolf Dietrich Claus versuchten zu zeigen, dass die stilistischen Eigenarten stark den zweifelsfrei unter Bachs Namen überlieferten Werken widersprechen. So wurde auch vermutet, dass Bach hier ein fremdes Werk abgeschrieben oder bearbeitet hat. Als dessen möglicher Autor wurde Johann Peter Kellner vorgeschlagen.[25] Andere Theorien gehen davon aus, dass es sich um eine niedergeschriebene Improvisation Bachs handle oder dass dieses Werk eine Orgelbearbeitung einer Violinkomposition Bachs darstellen könnte.[26]
Bei Bachs Sechzehn Konzerten für Cembalo solo (BWV 972–987) handelt es sich um Werke fremder Komponisten – sechs dieser Konzerte stammen von Antonio Vivaldi, andere von Benedetto Marcello und Georg Philipp Telemann.
Ein weiteres Beispiel ist das Adagio g-Moll, das häufig Tomaso Albinoni zugeschrieben wird, aber nicht Bestandteil der Albinoni-Gesamtausgabe ist, sondern von dem italienischen Musikwissenschaftler und Komponisten Remo Giazotto stammt. Obwohl sich dieses Adagio stilistisch stark von Albinonis echten Werken unterscheidet, trug es in hohem Maße zur Wiederentdeckung dieses zwei Jahrhunderte lang weitgehend vergessenen Barockkomponisten bei. Zahlreiche Kammerorchester und Ensembles nahmen es in ihr Repertoire auf und spielten es auf Schallplatte bzw. CD ein, oft in Kombination mit anderen Werken Albinonis.
Die Wiederaufführung von Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion durch Felix Mendelssohn Bartholdy im Jahre 1829, rund 100 Jahre nach der Uraufführung in Leipzig, erweckt Interesse an Alter Musik. Eine erste Gesamtausgabe der Werke J. S. Bachs, wird 1851 begonnen, der noch im 19. Jahrhundert etliche weitere sogenannte Denkmalausgaben folgen. 1850 wurde die Bach-Gesellschaft Leipzig gegründet. Carl Friedrich Rungenhagen führte die Wiederbelebung der Musik Johann Sebastian Bachs fort und widmete sich zugleich der Pflege der Oratorien von Georg Friedrich Händel.
Gustav Nottebohm schuf 1865 die Variationen über ein Thema von Johann Sebastian Bach in d-Moll für Klavier zu vier Händen, op. 17 und nahm damit bewusst den Faden zur Barockzeit wieder auf. Max Reger bearbeitete zahlreiche Werke von Bach für Klavier zu vier Händen.
→ Siehe: Bach-Renaissance im 19. Jahrhundert und Bach-Renaissance
Raphael Georg Kiesewetter in Wien erwarb ebenfalls bleibende Verdienste um die Wiederentdeckung Alter Musik. Er gründete einen kleinen Chor, mit dem er von 1816 bis 1842 seine Historischen Hauskonzerte durchführte und dabei Kompositionen der Alten Musik aus dem Bereich der Vokalmusik des 16. bis 18. Jahrhunderts bekannt machte. Um diese Hauskonzerte mit aufführbaren Musikwerken zu ermöglichen, hatte Kiesewetter begonnen, eine Notensammlung anzulegen, die aus Abschriften von nur in Handschriften vorliegenden kirchenmusikalischen Werken gebildet wurde. Durch die Mithilfe von Freunden wuchs seine Partiturensammlung im Lauf der Jahre zu einer stattlichen Bibliothek an.[27]
Kiesewetter hat darüber hinaus auch das Problem der Stimmtonhöhe und der historischen Temperaturen frühzeitig erkannt und erste Gedanken dazu veröffentlicht. Beim Studium der altklassischen Polyphonie eines Giovanni Pierluigi da Palestrina und Gregorio Allegri sind ihm die extrem hoch oder tief geführten Stimmen aufgefallen, die bei der Ausführung seinen Chormitgliedern zuweilen extreme Schwierigkeiten bereiteten.
Alexandre-Étienne Choron (1772–1834) betrieb am »Conservatoire de musique classique et réligieuse« auch in Frankreich eine Abkehr von der zeitgenössischen instrumentalen Musik hin zur Vokalmusik eines Bachs oder Palestrinas. Choron veranstaltete zwischen 1827 und 1830 jeweils zweimal wöchentlich Aufführungen Alter Musik, bei denen Werke von Clément Janequin, Nicolas Gombert, Gregorio Allegri, Giacomo Carissimi, aber auch Palestrina und Händel zu hören waren.
Das wissenschaftliche Interesse am Notenbestand und Instrumentarium der Alten Musik erwachte im 19. Jahrhundert und fand 1888 seinen Niederschlag in der Gründung eines Staatlichen Institutes für Musikforschung und im Musikinstrumenten-Museum Berlin.
Neben dem Sammeln, Herausgeben und schließlich Musizieren alter Vokalmusik ist parallel dazu ein historisch-wissenschaftliches Bemühen zu beobachten, das durch Martin Gerbert (1720–1793), Johann Nikolaus Forkel (1749–1818), Padre Martini (1706–1784), in England durch Charles Burney (1726–1814) und John Hawkins (1719–1789), in Frankreich und Belgien durch François-Joseph Fétis (1784–1871), vor allem aber durch Carl von Winterfeld (1784–1852) in Berlin eine Intensivierung erfuhr.
Der Gregorianische Choral fand Ende des 19. Jahrhunderts seine Restitution. Es gelang die Wiederherstellung der mittelalterlichen Melodien und Rhythmen in der Neuzeit.
Der Cäcilianismus – benannt nach der frühchristlichen Märtyrin Cäcilia von Rom – war eine katholische kirchenmusikalische Restaurationsbewegung des 19. Jahrhunderts und verlangte die Rückbesinnung auf einen an Palestrina angelehnten A-cappella-Stil, für den die Vertreter des Cäcilianismus den Begriff der altklassischen Vokalpolyphonie prägten. Hermann Bäuerle besorgte eine Neuausgabe von Werken der Vokalpolyphonie in der „Bibliothek altklassischer Kirchenmusik in moderner Notation“ mit Werken von Giovanni Pierluigi da Palestrina, Orlando di Lasso, Tomás Luis de Victoria, Johann Joseph Fux, Hans Leo Hassler, Giovanni Battista Casali, Antonio Lotti, Giovanni Gabrieli, Lodovico Grossi da Viadana u. a. und gleichzeitig die Übertragung des gregorianischen Chorals in einer Reformnotenschrift. Er eröffnete damit vielen Chören den leichteren Zugang zur Alten Musik.
Im evangelischen Bereich gilt Eduard Grell neben Siegfried Dehn und Heinrich Bellermann als Mitbegründer einer Palestrina-Renaissance.
Auch Vertreter der Musikwissenschaft waren im Auffinden Alter Musik in Europa engagiert. Gian Francesco Malipiero beschäftigte sich seit 1902 mit der älteren italienischen Musik. So entdeckte er in der Biblioteca Marciana die Werke von Claudio Monteverdi, Girolamo Frescobaldi, Claudio Merulo und anderen. Von 1926 bis 1942 gab Malipiero eine Edition sämtlicher Werke Monteverdis heraus und ließ diese auf eigene Kosten drucken.[28]
Auch Antonio Vivaldis Musik war nach seinem Tod im 18. Jahrhundert in Vergessenheit geraten. Erst ab Beginn des 20. Jahrhunderts begann man sich vermehrt für Vivaldi zu interessieren.[29] Ab 1947 beteiligte sich Malipiero auch an der Veröffentlichung der Instrumentalwerke Antonio Vivaldis. Die Wiederentdeckung von Vivaldis Musik im 20. Jahrhundert geschah zum großen Teil dank Alfredo Casellas Einsatz. 1939 veranstaltete er zusammen mit dem Dichter Ezra Pound in Siena eine Vivaldi-Festwoche. Seitdem ist Vivaldi wieder zu einer festen Größe im Repertoire der Barockmusik geworden.
Friedrich Ludwig leitete maßgeblich die Erforschung und Neubewertung der Alten Musik ein, indem er die Musik des Mittelalters theoretisch wie praktisch wieder zugänglich gemacht hat. Sein Forschungsgebiet war die Musik vor dem Palestrinastil, das heißt Ars antiqua, Ars nova und die Niederländische Polyphonie. Zu Ludwigs musikphilologischen Leistungen zählen die Erforschung des Organums, die Entzifferung der frühen Quadratnotation, die Entdeckung der Modalrhythmik in einstimmigen Liedern des 13. Jahrhunderts, die systematische Darstellung der Notre-Dame-Epoche und der Motettenkompositionen der Ars nova. Er übertrug eine Vielzahl mehrstimmiger Werke bis ins 15. Jahrhundert hinein und publizierte sie in kritischen Editionen. Dabei entdeckte Ludwig das Kompositionsprinzip der Isorhythmie, deren Bezeichnung er auch prägte.
Eine Rückbesinnung auf Musik und Instrumente des 16. und 17. Jahrhunderts im Rahmen der Jugendmusikbewegung erfolgte in den 1920er-Jahren, die ähnlich der Wandervogel-Bewegung eine Form des Protestes gegen das – in diesem Fall künstlerische – Establishment war (sog. Gambenbewegung, auch Fideln, Zinken, Blockflöten u. a. Instrumente). Vor allem durch die historische Aufführungspraxis erlebte die Viola da gamba seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Renaissance.[30]
Lieder aus dem spätmittelalterlichen Lochamer Liederbuch werden ab 1904 in Der Zupfgeigenhansl (was sinngemäß „Spieler der Gitarrenlaute“ bedeutet) aufgenommen, der Name eines Liederbuchs des Wandervogels und der Jugendbewegung. Die dortigen Lieder prägten den Liedschatz der Jugendbewegung stärker als jedes andere Buch, hatten aber auch wesentlichen Einfluss auf die Jugendmusikbewegung.
Das Alte-Musik-Repertoire betrachtete die Jugendmusikbewegung als leicht ausführbar. Auch wurde sie unter dem Aspekt der Eignung für das Laienmusizierens ausgewählt. Die Alte Musik war für die Jugendmusikbewegung somit das Repertoire schlechthin, um Musiziervorstellungen zu verwirklichen, die sie in der zeitgenössischen Musik noch nicht und in der romantisch-spätromantischen Musik nicht mehr verwirklicht sah.
Dieter Gutknecht bemerkt: „Wenn manchmal noch heute das Für und Wider von Alter Musik und Aufführungspraxis nicht vorurteilslos diskutiert wird, hat das seine Ursache in Mißverständnissen, die auf die Zeit der Jugendmusikbewegung zurückgehen. Alte Musik = Laienmusik oder Musik minderen künstlerischen Ranges, Aufführungspraxis = sektiererische ›Anti-Haltung‹ – Vorurteile wie diese standen der Integration der Alten Musik in unser Konzertleben und leider auch ihrer Berücksichtigung in den Lehrplänen der Musikhochschulen lange Zeit im Wege.“[31]
Eine historisierende Kompositionspraxis lässt sich bei Ottorino Respighi beobachten. Er wandte sich vor allem der italienischen Musik des Barock und der Renaissance zu, deren Musik er z. T. in ein neues Klanggewand goss (Orchestersuite Gli Uccelli [Die Vögel], 1927) oder benutzte, um Werke in stile antico wie z. B. Antiche danze ed arie per liuto[32] zu schreiben.
Um 1920 entstanden weitere Bearbeitungen nach „alten Meistern“ im Sinne eines Rückgriffes auf die Komponisten und Stilmittel der Alten Musik, worunter Igor Strawinskis Pulcinella hervorsticht.
Henri Casadesus gilt als Autor einer konzertanten Sinfonie für Viola d’Amore, Kontrabass und Orchester, sowie von zwei Bratschenkonzerten im Stile von Georg Friedrich Händel (in h-Moll), Johann Christian Bach (in c-Moll) und von einem Violinkonzert im Stile von Luigi Boccherini (in D-Dur)[33].
Carl Orff griff nach der Tonsprache mittelalterlicher Musik. Zur Entstehungszeit von Carmina Burana 1935, in welchem das Mittelalter auch musikalisch zum Ausdruck kommt, war noch kaum eine der originalen mittelalterlichen, in Neumen notierten Melodien rekonstruiert. So gestaltete er die Musik nach bereits bekannten Stilmerkmalen des Mittelalters wie etwa Bordunbegleitung und Kirchentonarten.
Der Stile antico wurde von Jean Langlais in seiner Messe en style ancien von 1952 gepflegt, der auf Vorbildern der Alten Musik fußt.
→ Siehe auch: Neobarock#Musik und Neoklassizismus (Musik)
In Frankreich gründeten 1901 Henri Casadesus (Viola d’amore) und Édouard Nanny (Kontrabass) die „Société de concerts des instruments anciens“ (Konzertgesellschaft für historische Instrumente), die unter der Präsidentschaft des Komponisten Camille Saint-Saëns stand. Ziel war die Wiederbelebung der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts auf Originalinstrumenten.
Mit ähnlichen Zielen kam es in München vier Jahre später zur Gründung der Deutschen Vereinigung für Alte Musik.
Die Nederlandse Bachvereniging wurde am 13. September 1921 offiziell ins Leben gerufen und ist das weltweit älteste Barockorchester, das sich auf die historische Aufführungspraxis von Barockmusik spezialisiert hat[34]
Ars Musicae de Barcelona war ab 1935 ein katalanisches Vokal- und Instrumentalensemble aus Barcelona, das auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Musik Kataloniens und Spaniens spezialisiert war.[35] Das Ensemble war bis 1979 aktiv. Es wurde von Josep María Lamaña gegründet und widmete sich der Interpretation der Musik des Mittelalters, der Renaissance und des Frühbarock auf alten Originalinstrumenten oder auf Kopien solcher Instrumente. Das Ensemble war weltweit eine der Pioniergruppen, die sich den Themen Alte Musik und historische Aufführungspraxis stellte.
August Wenzinger trat mit Gustav Scheck und Fritz Neumeyer im Kammertrio für Alte Musik auf, einer Formation, die von 1935 bis 1965 bestand.
Arthur Mendel leitete von 1936 bis 1953 in New York die Cantata Singers, einen der ersten authentischen Barockchöre der USA.
Das Deller Consort wurde 1948 als ein englisches Vokal- und Instrumentalensemble von dem Countertenor Alfred Deller gegründet, das sich der frühen englischen Musik widmete. Alfred Deller war der erste wieder solistisch auftretende Counter-Tenor des 20. Jahrhunderts.[36]
Auch wenn Karl Münchinger nicht zu den Verfechtern der historischen Aufführungspraxis gehörte, vertrat er schon ab 1945 ein von romantischen Vorstellungen befreites und entschlacktes Klangbild bei seinem Stuttgarter Kammerorchester. Geringstimmige Besetzungen, rigorose Einhaltung von Tempovorgaben sowie stilistische und interpretatorische Maßgaben der Komponisten galten ihm als Leitfaden seiner Interpretationen, die damit sehr früh durchweg von einem transparenten und homogen schlanken Klangbild geprägt waren.
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in vielen europäischen Ländern zu einer Welle von wichtigen Neugründungen von Ensembles und Orchestern, die einerseits durch Einspielungen, andererseits durch Auftritte das neue Klangbild und Repertoire der Alten Musik einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machten:
Ende des 20. Jahrhunderts hat sich Alte Musik im Konzertleben und an den Hochschulen etabliert. Im Wissen um eine adäquate Aufführungspraxis, im Erschlossensein eines reichen Aufführungsmaterials und mit den Möglichkeiten eines wiedergewonnenen Instrumentariums vergangener Jahrhunderte hat sich die Alte Musik fast weltweit ausgebreitet.
Das Nachdenken über Alte Musik führte zu weiteren Konsequenzen, unter anderem beim Ensemble Neobarock. Der Anspruch dieses Ensembles, der sich auch im Namen ausdrückt, ist die Verbindung historischer Authentizität mit einer ästhetischen Bezugnahme zum Hören im 21. Jahrhundert.
Musiker wagten sich mit ihrem sogenannten Original-Instrumentarium immer weiter in die Vorklassik und Klassik vor. Wolfgang Amadeus Mozart, Joseph Haydn und Ludwig van Beethoven wurden für die Alte-Musik-Bewegung ebenfalls aufgearbeitet. Dazu gehören Ensembles wie Anima Eterna Brugge, das Concert Royal Köln, der Balthasar-Neumann-Chor und das -Ensemble, die Kölner Akademie, das Orquestra Barroca Casa da Música und andere.
Noch einen Schritt weiter gehen die La Chapelle Royale, das Peñalosa-Ensemble, das Orchestre Révolutionnaire et Romantique und das Orchestra of the Age of Enlightenment mit ihrer Öffnung des Repertoires hin zur Romantik und Spätromantik. Letzteres Ensemble legte historisch informierte Einspielungen mit Werken von Franz Schubert (2010), Felix Mendelssohn Bartholdy (2001), Frédéric Chopin (1999), Giuseppe Verdi (2001) und Gustav Mahler vor. Auch Philippe Herreweghe ging diesen Weg der Aufweitung. Roger Norrington ließ Werke des 19. Jahrhunderts auf altem Instrumentarium, mit alter Besetzung und Aufstellung spielen, ohne das damals ungebräuchliche, erst in den 1920er-Jahren übernommene, sogenannte Caféhaus-Vibrato.[41] Die historisch informierte Aufführungspraxis ist für ihn eine Magerkur. Norrington selbst vergleicht sie mit der Nouvelle Cuisine: „keine fetten Soßen mehr!“.
Ein weiteres Motiv bei der Neugründung von Ensembles der Alten Musik ist das Bedürfnis, die Alte Musik von bestimmten regional eingegrenzten Spielstätten der Geschichte zu reaktivieren, um die dort jeweils vorhandene Musiküberlieferung für die Gegenwart neu zu aktivieren.
Dazu gehören die La Capella Reial de Catalunya seit 1987 von Jordi Savall, die Batzdorfer Hofkapelle mit dem Schwerpunkt der Dresdner Musiküberlieferung seit 1993, die Chursächsische Capelle Leipzig seit 1994 unter Anne Schumann, die Neue Düsseldorfer Hofmusik seit 1995, die Hofkapelle Stuttgart von Frieder Bernius seit 2002 und die Hofkapelle München von Rüdiger Lotter seit 2009.
Für die Musiklandschaft von Mitteldeutschland fühlt sich das Ensemble Cantus Thuringia & Capella Thuringia seit 1999 unter Bernhard Klapprott verantwortlich.
Das Europäische Hanse-Ensemble von Manfred Cordes bearbeitet die alten Musiktraditionen der Hansestädte seit 2019.
Alte Musik wird heute oft als wertvolle Bereicherung (oder sogar Korrektiv) des gängigen Repertoires der bürgerlichen Musikkultur, wie sie in den großen Konzertsälen der Welt stattfindet, verstanden. Musiker aus der Altmusik-Szene bringen Impulse mit in das klassisch-romantische Repertoire, soweit sie bereit sind, die Sparten zu wechseln. Durch den Erfahrungshintergrund der Alten Musik werden neue Höreindrücke von längst bekannten Werken möglich.
Ein grundständiger musikpraktischer Vollzeitstudiengang für die Musik des Mittelalters bis zur Romantik wird in der Schweiz an der Schola Cantorum Basiliensis – der Hochschule für Alte Musik in Basel – angeboten.
Diplomstudien für Alte Musik werden in Deutschland an folgenden Universitäten angeboten: Hochschule für Künste Bremen, Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ Dresden, Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn-Bartholdy“ Leipzig, Staatliche Hochschule für Musik Trossingen, Hochschule für Musik „Franz Liszt“ Weimar (in Abwicklung; zum Sommersemester 2026 werden letztmalig neue Studierende aufgenommen[42]), Hochschule für Musik Würzburg. Eine zweijährige berufs- oder studienbegleitende Fortbildung zur überlieferten Frühen Musik wird an der Akademie Burg Fürsteneck angeboten. Ferner ist dem Dr. Hoch’s Konservatorium in Frankfurt am Main eine Fachabteilung Alte Musik angegliedert.
In Österreich gibt es Studiengänge für Alte Musik an folgenden universitären Einrichtungen: Anton Bruckner Privatuniversität Linz, Johann-Joseph-Fux-Konservatorium Graz, Universität für Musik und darstellende Kunst Graz, Universität Mozarteum Salzburg (Standort Innsbruck), Konservatorium Wien Privatuniversität.
Zur Wiedergewinnung Alter Musik im 20. Jahrhundert trugen maßgeblich Werkverzeichnisse bei, die einen Überblick über das Schaffen der alten Meister erlaubten und zugleich einen Zugang dazu ermöglichten.
Aufgrund von Neufunden und neuen Bewertungen sind manche Werkverzeichnisse auf dem Gebiet der Alten Musik weiterhin im Fluss und müssen modifiziert werden. Ein weiterer Teil wird von Musikwissenschaftlern erst noch erstellt oder komplettiert und gibt erst Zwischenstände der musikhistorischen Forschung wieder.
Zu den ersten Komponisten, deren Kammermusikwerke bis heute mit ihrer originalen Opusnummer benannt werden, gehört Arcangelo Corelli.
Die Rückgewinnung des Instrumentariums der Alten Musik wurde gleichzeitig durch Musikwissenschaftler, Institute und Verlage unterstützt, die eine Vielzahl alter Werke in Form von Notenausgaben für die Spielpraxis der Moderne gesammelt, systematisch aufbereitet oder wenigstens faksimiliert haben.
Beispiele für Sammelausgaben, die sich auf regionale, instrumentale oder zeitliche Aspekte fokussieren, sind:
Karl Vötterle publizierte im Rahmen des Bärenreiter-Verlages wissenschaftlich-kritische Gesamtausgaben auf dem Gebiet der Alten Musik unter anderem mit den Werken von
Weitere Beispiele für Werkausgaben auf dem Gebiet der Alten Musik sind in chronologischer Ordnung:
Auch in weiteren europäischen Ländern und Instituten wurden im 20. und 21. Jahrhundert große Gesamtausgaben im Bereich der Alten Musik erstellt. Beispiele sind:
Bereits 1902 kritisierte Heinrich Schenker in Wien, dass viele Notendrucke gravierende Fehler enthalten würden. Er regte daraufhin Urtext-Ausgaben an, was zu den Klassiker-Ausgaben der Universal Edition führte. Weitere führende Musikverlage im Bemühen um einen Urtext und zugleich im Blick auf die Alte Musik sind unter anderen der G. Henle Verlag, der Carus-Verlag, der Musikverlag Breitkopf & Härtel oder die Edition Peters. Diese Verlage geben bei ihren Urtext-Ausgaben detailliert Rechenschaft über die editorischen Entscheidungen und die verwendeten historischen Quellen (Autographe, Handschriften, Ausgaben letzter Hand und Erstdrucke) bei ihrem Bemühen um einen Notentext, der sich maximal an den ursprünglichen Willen des Komponisten annähert. In der Regel sind die wissenschaftlichen Bearbeiter von Urtext-Ausgaben erfahrene Musikwissenschaftler, die methodensicher gleichzeitig im Kontext einer musikalischen Fachgesellschaft (Beispiele: Neue Bachgesellschaft, Bach-Gesellschaft Leipzig, Purcell Society) und im Gegenüber zu einem Verlagslektor agieren.
Weitere Initiativen auf dem Gebiet der historisch-kritischen Musikausgaben und Urtextausgaben sind:
Manche Ensembles, Orchester und Chöre drücken durch entsprechende Namensgebung einen stilistischen Schwerpunkt ihres Repertoires im Bereich der Alten Musik aus. Andere ehren durch die Namengebung einen Meister der Tonkunst aus dem Bereich Alter Musik. Als Beispiele seien (chronologisch) genannt:
Bachchor, auch Bach-Chor, oder Bachverein ist die Bezeichnung eines Chores, der sich schwerpunktmäßig dem Musikwerk Johann Sebastian Bachs verpflichtet fühlt und mit der Aufführung seiner großen geistlichen Chorwerke an die Öffentlichkeit tritt.
Das Telemann-Kammerorchester Michaelstein ist ein 1952 gegründetes Kammerorchester mit Sitz in Blankenburg (Harz) und erinnert an Georg Philipp Telemann.
Der Monteverdi-Chor Hamburg wurde im Jahre 1955 von Jürgen Jürgens als „Chor am Italienischen Kulturinstitut“ gegründet. Im gleichen Jahr wurde er auf Anregung des Institutsleiters in „Monteverdi-Chor“ umbenannt, zu einem Zeitpunkt, als Claudio Monteverdi noch ein weitgehend unbekannter Komponist war.
Der Mešani Pevski Zbor Jakob Petelin Gallus – Gemischter Chor Jakob Petelin Gallus ist ein slowenisch- und deutschsprachiger Chor aus Klagenfurt in Kärnten, der 1960 gegründet wurde. Benannt wurde der Chor nach dem Renaissance-Komponisten Jacobus Gallus.
Das Telemann-Kammerorchester Osaka wurde in Japan 1963 gegründet und widmet sich der Historischen Aufführungspraxis Alter Musik.
Das Hassler-Consort wurde 1992 vom Organisten und Cembalisten Franz Raml gegründet. Seinen Namen leitet das Ensemble von dem süddeutschen Musiker und Organisten Hans Leo Hassler ab.
Die Chorgemeinschaft des 1993 gegründeten Heinrich-Schütz-Ensemble in Vornbach erinnert an Heinrich Schütz und besteht aus ausgebildeten Musikern und Amateursängern, die sich auch mit den Höhepunkten der A-cappella-Literatur auseinandersetzen.
Les Muffatti ist ein 1996 von jungen Musikern in Brüssel gegründetes Barockorchester, nach dem Komponisten und Organisten Georg Muffat benannt ist.
2018 wurde in Husum der Nicolaus-Bruhns-Chor gegründet, der sich besonders den Werken Nikolaus Bruhns’ und seiner Zeitgenossen widmet.[47]
An einigen Orten haben sich bereits im 20. Jahrhundert regelmäßig wiederkehrende Tage für Alte Musik oder auch Festivals etabliert, bei denen in Konzertserien Werke der Alten Musik von spezialisierten Instrumentalisten und Ensembles dem Publikum präsentiert werden:
Speziell im Blick auf das Schaffen von Johann Sebastian Bach:
Auf manchen dieser Festivals geht es inzwischen um die Grenzen der Alten Musik, um Grenzüberschreitungen hin zu anderen Epochen und Stilen bis hin zu Folk, Pop und Jazz.
Thorsten Preuß stellt im Blick auf die zahlreichen Festivals für Alte Musik fest: „War das zentrale Motiv der Historischen Aufführungspraxis über Jahrzehnte hinweg die möglichst genaue Rekonstruktion der ursprünglichen Aufführungsbedingungen eines Werks, von der Wahl der originalen Partituren und der zeittypischen Instrumente über Besetzungs- und Tempofragen bis hin zur Wiederbelebung der epochenspezifischen Phrasierungen und Verzierungen, so pflegen mehr und mehr Interpreten heute einen kreativen Umgang mit diesen Erkenntnissen – im Wissen um die Unmöglichkeit einer hundertprozentigen Rekonstruktion historischer Spiel- und Rezeptionsweisen und mit Verweis auf den relativ hohen Anteil nicht schriftlich fixierter, improvisatorischer Elemente in der Musik zwischen Mittelalter und Mozart.
Damit einher geht eine Bedeutungsverschiebung beim Begriff der ‚Authentizität‘: ging es früher darum, möglichst „authentisch“ im Sinne der Intentionen des Komponisten zu spielen, steht nun die „Authentizität“ des Interpreten im Vordergrund.
Tatsache ist, dass sich mittlerweile kaum noch ein Alte-Musik-Festival auf Originalklang-Purismus festlegen lässt.“[51]
Als Experte für historische Improvisationspraxis unterrichtete Rudolf Lutz deshalb auch das Fach Improvisation für Tasteninstrumente an der Schola Cantorum Basiliensis.[52]
1958 wurde mit dem Schwerpunkt Alte Musik die Produktionsfirma Deutsche Harmonia Mundi in Freiburg im Breisgau gegründet; auch die Harmonia Mundi entstand 1958 und hat ein ähnliches Profil.
Bei der Teldec bildete der Bereich der Alten Musik in historischer Aufführungspraxis einen Schwerpunkt. Ebenfalls ab 1958 kam es zum eigenen Sub-Label Das Alte Werk. Ab 1964 entstanden die ersten Aufnahmen mit Nikolaus Harnoncourt, der mit dem von ihm gegründeten Concentus Musicus Wien und später mit anderen Orchestern zu einem der Schwerpunktkünstler des Labels wurde.
Eines der größten Projekte dieses Bereichs war die mehrfach mit Schallplattenpreisen ausgezeichnete erste Gesamtaufnahme der Bachkantaten, die von 1970 bis 1989 gemeinsam vom Concentus Musicus Wien unter Nikolaus Harnoncourt sowie vom Leonhardt-Consort unter Gustav Leonhardt zusammen mit verschiedenen Solisten und Chören eingespielt wurden. In der Reihe Das Alte Werk erschienen zusätzlich verschiedene Barockopern, darunter die Ersteinspielungen der rekonstruierten Fassungen von Monteverdis Opern L’Orfeo, Il ritorno d’Ulisse in patria und L’incoronazione di Poppea mit dem Concentus Musicus unter Harnoncourt.
Das schwedische Label BIS Records hat seit 1973 immer wieder wichtige Einspielungen Alter Musik produziert. Gleiches gilt ab 1986 für das deutsche Label classic production osnabrück. 2015 gewann letztere Firma auf dem Gebiet der Alten Musik bei der 57. Grammy-Verleihung einen Grammy für die beste Opernaufnahme, La descente d’Orphée aux enfers des französischen Komponisten Marc-Antoine Charpentier.[53] Im gleichen Jahr wurde die cpo-Einspielung zweier Barockopern von Marc-Antoine Charpentier auch mit dem deutschen Musikpreis Echo Klassik ausgezeichnet.
1980 gründete Jérôme Lejeune das Musiklabel „RICERCAR“, welches inzwischen mehr als 400 CD-Einspielungen, fast alle aus dem Bereich Alte Musik nach den Erkenntnissen der historischen Aufführungspraxis aufweisen kann, zu denen er alle Booklets verfasste.
Seit der Gründung von Carpe Diem Records 1995 liegt dort auch ein deutlicher Schwerpunkt bei der Alten Musik.
Das 1998 durch Jordi Savall gegründete Label „Alia Vox“ konnte bis 2010 mehr als 2.000.000 CDs vermarkten, nicht zuletzt durch Savalls starke Präsenz in den Konzertsälen und in den Medien, sowie durch Label-Niederlassungen in 45 Ländern[54].
Nikolaus Harnoncourt gab im Blick auf die Hermeneutik zu bedenken:
„Wenn einer meint, er kann Monteverdi im Sinne Monteverdis verstehen und aufarbeiten,
ohne in dieser Zeit zu leben,
ohne eine Mutter zu haben, die 1550 geboren ist,
und ohne die Kleidung dieser Zeit zu tragen,
und das Essen dieser Zeit
und das ganze Lebensgefühl,
das ist eine totale Illusion.
Wenn wir das spielen, machen wir dennoch eine reine Aufführung des 20. Jahrhunderts.
Wenn Monteverdi rein käme und das hören würde,
würde er im besten Fall lachen.“[55]
August Wenzinger, einer der ersten Lehrer an der Schola Cantorum Basiliensis, schrieb:
„Es wird uns nie gelingen, so zu singen, zu spielen und zu hören,
wie es ein Zeitgenosse eines vergangenen Jahrhunderts tat.
Jede Aufführung war und ist ein einmaliges Ereignis,
das geprägt ist von so vielen zeitlichen, musikalischen, sozialen, nationalen und persönlichen Einflüssen,
dass es eben keinen allgemeinen ›Kanon der Alten Musik‹ gibt.Es bleibt der Sensibilität, dem Wissen und Können des Ausführenden vorbehalten,
dem inneren Wesen eines Werkes so nahe als möglich zu kommen und es dem Hörer lebendig darzubieten.“[56]
Die von Luigi Dallapiccola (1904–1975) komponierten Werke Tartiniana (1951) und Tartiniana Seconda (1956) greifen auf Themen aus Sonaten des italienischen Barockmeisters Giuseppe Tartinis zurück.
Jacques Loussier (1934–2019) wurde mit seinen verjazzten Interpretationen von Werken Johann Sebastian Bachs bekannt. Auf diese anfangs ungewöhnliche Kombination war Loussier 1959 während seines Studiums gestoßen und gründete dazu mit dem Bassisten Pierre Michelot und dem Schlagzeuger Christian Garros das Play Bach Trio.
Auf dem Album Officium begleitet Jan Garbarek (* 1947) mit seinem Saxophon als „fünfte Stimme“ das Hilliard Ensemble bei Werken aus der Entstehungszeit des Gregorianischen Gesangs bis zur Renaissance.
Angelo Branduardi (* 1950) verbindet als Cantautore die Alte Musik mit traditioneller Volksmusik.
Musiker und Ensembles, die im historisch informierten Bereich der Alten Musik beheimatet sind, laden sich Interpreten mit anderen Backgrounds zu gemeinsamen Projekten ein. Christina Pluhar (* 1965) und ihr Ensemble „L'Arpeggiata“ zählen zu denen, die sich in diesem Feld des Crossovers bewegen.[57]
Die Freitagsakademie tritt ebenfalls mit interessanten Crossover-Projekten hervor; dazu gehört:
„Alte Musik ist Musik mit unterbrochener Aufführungstradition.“
„Alte Musik ist nicht ausschließlich historisch, sondern zu einem großen Teil auch Neue Musik,
indem ein Musiker unserer Zeit notwendigerweise seine Kreativität einbringen muss.
Darin liegt die große Vitalitätschance der Alten Musik.“
„Die Alte Musik, anders als das Repertoire der Romantik,
in dem man vor allem das Aufgesetzte, Schwülstige, Subjektive sah,
schien [in der Jugendmusikbewegung des 20. Jahrhunderts] Werte wie Einfachheit, Wahrhaftigkeit und Tiefe zu verbürgen.
Darum wurde sie zur verbindenden Klammer von Protesthaltungen, die
gegen den zeitgenössischen Musikbetrieb,
gegen das ›Konzertmäßige‹,
gegen das Virtuosentum und schließlich auch
gegen das gebräuchliche Instrumentarium gerichtet waren.“
„Das Wahre, Echte, Gemeinschaftsbildende glaubte man [in der Jugendmusikbewegung des 20. Jahrhunderts] im Repertoire der vermeintlich schlichteren ›Alten Musik‹ und des Volksliedes zu finden.“
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