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Testverfahren mit Einsatz von Tieren Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Ein Tierversuch oder ein Tierexperiment ist ein wissenschaftliches Experiment an oder mit lebenden Tieren (Versuchstieren). Ziele von Tierversuchen sind Erkenntnisgewinn in der Grundlagenforschung sowie die Entwicklung und Erprobung neuer medizinischer Therapiemöglichkeiten. Die Forschung mit Versuchstieren wird in Universitäten und Forschungseinrichtungen, Pharmaunternehmen und Dienstleistungsunternehmen durchgeführt. Die meisten Tiere werden eigens für Forschungszwecke gezüchtet, nur sehr wenige werden dafür gefangen. Schätzungen zufolge wurden im Jahr 2005 weltweit zwischen 58 und 115 Millionen Wirbeltiere – vor allem Zuchtformen der Hausmäuse und Wanderratten, aber auch Hamster, Meerschweinchen, Kaninchen, Frettchen, Hunde und Primaten – für Tierversuche verwendet.[1] 2017 belief sich die Schätzung auf 50–100 Millionen Wirbeltiere weltweit.[2] Viele Versuchstiere sterben während der Experimente oder werden anschließend getötet. Die Aussagekraft (Relevanz für den Menschen) und ethische Vertretbarkeit von Tierversuchen sind umstritten.[3][4]
Die ersten überlieferten Berichte von Tierversuchen stammen aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. im antiken Griechenland. Zu den griechischen Forscher, die in der Antike Untersuchungen an Tieren vornahmen gehören etwa Alkmaion, Empedokles und Diogenes von Apollonia.[5] In der hippokratischen Schrift Über das Herz werden um 300 v. Chr. Untersuchungen an lebenden Tieren zur Erforschung des Herzens und des Schluckvorgangs erwähnt.[6] Am Anfang der Neuzeit sezierte Andreas Vesalius Leichen und Kadaver, um anatomische Einsichten zu erhalten.[7] René Descartes sezierte um 1633 auch lebende Tiere, etwa um die Blutzirkulation zu beobachten. Dabei vertrat er die zu dieser Zeit neuartige These, dass Tiere keinen Schmerz empfinden würden.[8]
Der lateinische Begriff Vivisektion war lange Zeit für alle Arten des Tierversuchs international gebräuchlich:
Als „Meister des Tierversuchs“ galt im 19. Jahrhundert der Anatom und Physiologe Georg Meissner, der unter anderem Robert Koch einen behutsamen Umgang mit Versuchstieren lehrte.[11]
Ende des 20. Jahrhunderts hatte sich im deutschen Sprachraum der Begriff Tierversuch als grundlegende Bezeichnung für den experimentellen Einsatz von lebenden Tieren in Pharmakologie, Physiologie und anderen Disziplinen durchgesetzt.[12]
Die Gesetzgebung innerhalb der Europäischen Union beruht auf der Richtlinie 86/609/EWG aus dem Jahr 1986. Diese soll dem 1959 von dem Zoologen William Russel und dem Mikrobiologen Rex Burch erwähnten „3-R-Prinzip“ (Reduction, Refinement, Replacement) zum Durchbruch verhelfen.
Die Richtlinie 86/609 wurde am 22. September 2010 durch die Richtlinie 2010/63/EU des Europäischen Parlamentes und des Rates abgelöst. Grundlage dieser Richtlinie ist Artikel 13[14] des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Diese Richtlinie erweitert Richtlinie 86/609 insbesondere um weitere Aspekte zur Zucht und zum Schutz der Versuchstiere.
Ein wichtiges Anliegen für die frühe Tierschutzbewegung im deutschen Kaiserreich war neben der Anlage von Tierheimen insbesondere auch ein Verbot der Vivisektion. Prominente Vorreiter wie Richard Wagner forderten neben der Abschaffung von Tierversuchen, die für Wagner und viele seiner Anhänger zusammen mit dem rituellen Schächten „das Böse und das Jüdische“[15] in Reinstform symbolisierten, auch eine Abkehr vom Fleischverzehr. Bis auf den „Gossler-Erlaß“ 1885 in Preußen, der die vorhandenen Bestimmungen moderat verschärfte, wurden Initiativen zum Tierschutz regelrecht ignoriert. Tierschutzanliegen fanden Zuspruch bei Antisemiten und Deutschnationalen wie auch bei Lebensreformern, die eine Abkehr von der modernen, „jüdischen“ Wissenschaft hin zu einer deutschen Volks- und Naturmedizin forderten. Von 1871 bis 1933 wuchsen die Tierschutzorganisationen von etlichen Dutzend auf über 700 verschiedene Vereine und Organisationen an.
Dieses Anliegen wurde vom NS-Regime aufgenommen und sofort nach 1933 mit großem propagandistischem Aufwand in die Tat umgesetzt.[16][17] Für die Nationalsozialisten war der Tierschutz damit ein willkommenes populäres Thema – auch weil Pelzhändler wie praktische und akademische Mediziner und Biologen vielfach Juden waren und mit Tierschutzargumentationen nicht nur deren berufliche Existenz in Frage zu stellen, sondern über das Verbot des religiös bedingten Schächtens hinaus auch ihr kulturelles Leben unter Druck zu setzen war. Nach der Machtübernahme 1933 wurde bereits ab dem 1. April 1933 mit Hochdruck und unter intensiver Mitarbeit der Tierschutzverbände an einem pathozentrischen Tierschutzgesetz gearbeitet. Am 16. August 1933, über drei Monate vor Erlass des Reichstierschutzgesetzes, hatte Hermann Göring in seiner Funktion als preußischer Ministerpräsident die „Vivisektion an Tieren aller Art für das gesamte preußische Staatsgebiet“ per Erlass als verboten erklärt. Die gleichzeitige Androhung von KZ-Lagerhaft für Tierexperimentatoren im Rahmen einer Radioansprache war eine der ersten öffentlichen Erwähnungen der Konzentrationslager und stellte Tiertester mit hochrangigen politischen Gegnern des Regimes auf eine Stufe.[17] Es blieb allerdings nicht bei einem kompletten Verbot der Tierversuche, es wurden aber signifikante Restriktionen und ein externes Genehmigungsverfahren eingeführt. Die Tierschutzverbände wurden bei den Genehmigungsverfahren nicht beteiligt und nach 1933 gleichgeschaltet.
Der nationalsozialistische Tierschutzgedanke gewährte ausgewählten Tieren als Bestandteil einer arisch-naturverbundenen Volksgemeinschaft Schutz, welcher Opfern von Menschenversuchen mit oft tödlichem Ausgang nicht zugesprochen wurde. Darüber hinaus wurden für sogenannte „kriegswichtige“ Projekte und im Dienste der „Volksgesundheit“ Tierversuche als durchaus legitim angesehen und auch bedenkenlos durchgeführt, beispielsweise bei Sterilisationsexperimenten und Versuchen für die Luftfahrttechnik.
Rechtliche Grundlage ist in Deutschland das Tierschutzgesetz, insbesondere §§ 7–10a.[18] Nach § 1 des deutschen Tierschutzgesetzes werden Tiere als „Mitgeschöpfe“ anerkannt und das Zufügen von Schmerzen, Leiden oder Schäden ohne vernünftigen Grund ist verboten. Tierversuche werden in §§ 7–9 Tierschutzgesetz geregelt. Darin werden zunächst Grundsätze für Tierversuche festgelegt (Definition; Vermeidung von Schmerzen, Leiden oder Schäden; ethische Vertretbarkeit, Unerlässlichkeit für das wissenschaftliche Forschungsvorhaben). Laut § 7 dürfen Tieren Schmerzen, Leiden und Schäden zum Vorbeugen, Erkennen oder Behandeln von Krankheiten, zum Erkennen von Umweltgefährdungen, zur Prüfung von Stoffen oder Produkten auf ihre Unbedenklichkeit und im Rahmen der Grundlagenforschung zugefügt werden.[19]
Tierversuche im Sinne des deutschen Tierschutzgesetzes sind Versuche an lebenden Tieren. Die Tötung eines Tieres, um zum Beispiel an seinen Organen oder Gewebe Versuche durchzuführen, ist also kein Tierversuch im gesetzlichen Sinne. Die Veränderung des Erbguts von Tieren fällt unter den Begriff Tierversuch, „wenn sie mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für die erbgutveränderten Tiere oder deren Trägertiere verbunden sein können“.[19]
Nach § 8 sind Tierversuche bei Wirbeltieren generell genehmigungspflichtig, außer die Durchführung erfolgt aufgrund von Gesetzen, Verordnungen, richterlicher Anordnung, zu Zwecken der Impfung, der Blutentnahme oder sonstiger diagnostischer Maßnahmen. Nach § 8a müssen diese ausgenommenen Fälle, wie auch Tierversuche an Dekapoden und Cephalopoden, der zuständigen Landesbehörde nur angezeigt werden. Im Tierschutzgesetz wird detailliert geregelt, welche Unterlagen dem Antrag beizufügen sind. So muss z. B. detailliert wissenschaftlich begründet werden, warum man diesen Versuch unbedingt am Tier durchführen muss. Außerdem sind Nachweise über eine geeignete personelle, räumliche und organisatorische Ausstattung vorzulegen. Bestimmte Versuchsvorhaben sind von der Genehmigungspflicht ausgenommen, sie müssen aber bei der Behörde in entsprechender Form angezeigt werden. Dabei handelt es sich zum einen um Versuche, die durch nationale Gesetze oder Rechtsakte der Europäischen Union vorgeschrieben sind, zum anderen um Versuche, die mit keinen Schmerzen, Leiden oder Schäden für die Tiere verbunden sind (z. B. Blutabnahme zur Gewinnung von Zellen für Zellkulturen). Aufgrund des verstärkten Einsatzes tierversuchsfreier Testmethoden sinkt der Anteil von durch Rechtsvorschriften durchgeführten Tierversuchen tendenziell seit Jahren: Im Jahr 1991 lag ihr Anteil bei 35 % (rund 842.000 Tiere), 2000 waren es 21 % (389.000) und 2004 waren es 15 % (350.000 Tiere). Im Jahr 2005 ist die Anzahl der Tiere wieder angestiegen (454.000 = 19 %).[20]
Im Weiteren ist festgelegt, dass jede Einrichtung, die Tierversuche durchführen möchte, einen Tierschutzbeauftragten benennen muss. Diese müssen entweder Tierärzte, Ärzte oder Biologen der Fachrichtung Zoologie sein. Sie sind dafür verantwortlich, im Betrieb auf die Einhaltung der tierschutzrechtlichen Regelungen zu achten sowie die Personen, die mit den Tieren umgehen, zu beraten.
Nach dem Tierschutzgesetz dürfen nur Personen mit entsprechender Qualifikation Versuche an Tieren durchführen. Dazu gehören das Studium der Veterinärmedizin oder eine vergleichbar qualifizierende naturwissenschaftliche Ausbildung (z. B. im Fach Humanmedizin, Biochemie, Biologie oder als entsprechende technische Assistenten) in Verbindung mit einer entsprechenden Weiterbildung (Sachkundenachweis).
Das Tierschutzgesetz sieht als oberste Prämisse an, Schmerzen, Leiden oder Schäden an Tieren möglichst gering zu halten. Deshalb müssen potentiell schmerzhafte Tierversuche (z. B. Operationen, Gewebstransplantationen) grundsätzlich unter Betäubung und ausreichender Schmerzstillung vorgenommen werden. Ausnahmen sieht das Gesetz nur vor, wenn entweder die Narkose für das Tier belastender wäre als der Eingriff allein oder es dem Versuchszweck entgegensteht.
Die Genehmigungsbehörden, meist das zuständige Regierungspräsidium oder die Landesgesundheitsämter, werden bei der Entscheidung über die Genehmigung von Tierversuchen von einer Ethikkommission unterstützt (§ 15 TierSchG). Diese Kommissionen sind sowohl mehrheitlich mit fachkundigen Veterinären, Ärzten und Naturwissenschaftlern als auch zu mindestens einem Drittel aus Vorschlagslisten von Tierschutzorganisationen zu besetzen.
Im Jahr 2018 adressierte die Ständige Senatskommission für tierexperimentelle Forschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Probleme in der Praxis der Genehmigungsverfahren für Tierversuche seit der Novellierung des Tierschutzgesetzes 2013.[21] Diese behinderten das Ziel der Förderung einheitlicher Tierschutzstandards und hätten negative Folgen für die biomedizinische Forschung in Deutschland. Basis der Stellungnahme sind eine bundesweite Umfrage und mehrere Gesprächsrunden mit Experten.[22]
Welche Tierversuchsvorhaben von den zuständigen Landesbehörden genehmigt werden, kann in der Datenbank AnimalTestInfo recherchiert werden.[23] Die Datenbank AnimalTestInfo für Tierversuchsvorhaben in Deutschland enthält allgemein verständliche Projektzusammenfassungen der Tierversuchsvorhaben, deren Durchführung von wissenschaftlichen Forschungsinstituten der Universitäten, der Industrie und des Bundes beantragt und von den zuständigen Behörden der Bundesländer genehmigt wurden. Die Antragsteller sind für den Inhalt der veröffentlichten Projektzusammenfassungen verantwortlich. Die Datenbank ist beim Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) angesiedelt. Der Gesetzgeber hat dem BfR den gesetzlichen Auftrag erteilt, die Projektzusammenfassungen von genehmigten Tierversuchsvorhaben in Deutschland anonym zu veröffentlichen (§ 41 Absatz 1 Satz 1 TierSchVersV).
Am BfR ist auch das Deutsche Zentrum zum Schutz von Versuchstieren (Bf3R) angesiedelt. Das Zentrum koordiniert bundesweit alle Aktivitäten mit den Zielen, Tierversuche auf ein unerlässliches Maß zu beschränken und für Versuchstiere den bestmöglichen Schutz zu gewährleisten. Darüber hinaus sollen durch die Arbeit des Zentrums national und international Forschungsaktivitäten angeregt und der wissenschaftliche Dialog gefördert werden.[24] Integraler Bestandteil des Bf3R ist die ZEBET – die „Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch“. Die ZEBET ist einer von fünf Kompetenzbereichen des Bf3R. Sie wurde 1989 mit dem Ziel gegründet, den Einsatz von Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken auf das unerlässliche Maß zu beschränken und Alternativen zum Tierversuch zu entwickeln. Die ZEBET erforscht, entwickelt und validiert im eigenen Labor Alternativmethoden nach dem 3RPrinzip. Das Bf3R führt auch das Animal Study Registry, ein Online-Register, in dem Forscher freiwillig ihre Forschungsvorhaben, die Tierversuche beinhalten, registrieren können. Die Angaben in diesem Register sind nicht anonym und werden spätestens fünf Jahre nach Eintragung öffentlich.
In Österreich gilt das Gesetz über Versuche an lebenden Tieren (Tierversuchsgesetz)[25]. Der Eingriff muss vorher von den zuständigen Behörden genehmigt werden. Der Tierversuchsleiter bekommt für diesen einen Tierversuch auch eine Genehmigung der Behörden. Das österreichische Tierversuchsgesetz sieht eine Kontrollkommission vor, die jährlich jedes Tierversuchslabor unangemeldet kontrollieren kann. Ein „Nicht-Bestehen“ dieser Kontrolle oder ein Verstoß gegen die Gesetzeslage wird mit sofortigem Außerkraftsetzen der Genehmigung und mit einem Strafverfahren geahndet. Tierversuche für Kosmetika sowie Tierversuche an Menschenaffen sind gesetzlich verboten. Des Weiteren werden jährlich staatliche Förderungen und Staatspreise für Entwicklungen von Alternativen zum Tierversuch ausgeschrieben, gefördert und finanziert.
Für Tierversuche werden meistens speziell gezüchtete Tiere verwendet, da man für aussagekräftige Resultate genaue Daten über diese Tiere braucht, z. B. ihre durchschnittliche Lebensdauer, aber auch Daten darüber, welche Krankheiten (Krebs, Diabetes etc.) wie häufig in der Population auftreten. Nach deutschem und europäischem Recht ist vorgeschrieben, dass nur für Versuchszwecke gezüchtete Tiere eingesetzt werden dürfen und lediglich in begründeten Ausnahmefällen davon abgewichen werden darf. In der freien Wildbahn eingefangene Tiere werden aus diesen Gründen sehr selten verwendet.
Mit 64,3 % wurden 2018 in der Schweiz die meisten Tierversuche im Bereich der medizinischen Grundlagenforschung durchgeführt.[26]
21 % der bei Tierversuchen in Deutschland verwendeten Tiere wurden 2005 zur Erforschung und Entwicklung von Produkten und Geräten für die Human-, Zahn- und Veterinärmedizin benötigt.[20] Da viele Erkrankungen des Menschen bei Tieren spontan nicht vorkommen, werden durch verschiedene Verfahren im Tier Symptome herbeigeführt, die menschlichen Krankheiten ähneln (siehe hierzu auch: Modellorganismus). Die weitaus meisten Tiere in dieser Kategorie sind Mäuse und Ratten (2005: 92 %).
In den 21 % aller Tierversuche sind die vorgeschriebenen toxikologischen oder andere Sicherheitsüberprüfungen von Arzneimitteln und Medizinprodukten nicht enthalten. Laut Angaben des Verbandes forschender Arzneimittelhersteller (VFA) entfallen 86 % der im pharmazeutischen Bereich durchgeführten Tierversuche auf die Überprüfung von Arzneimitteln auf ihre Unbedenklichkeit, Qualität und Wirksamkeit (Pharmaforschung).[27]
Knapp 14 % der Tierversuche entfielen 2005 auf den Bereich der Produktherstellung und Qualitätskontrolle.[20]
Die Toxizitätsbestimmungen standen 2005 mit 6,6 % an Platz 5 der offiziellen Tierversuchs-Statistiken.[20] Neue Wirkstoffe und Chemikalien werden auf mögliche schädigende Wirkungen getestet. Mit dem Inkrafttreten der EU-Chemikalien-Richtlinie REACH-Verordnung am 1. Juli 2007 wurde ein erheblicher Anstieg der Tierversuche im toxikologischen Bereich erwartet. 30.000 Chemikalien, die vor 1981 auf den Markt gekommen sind, sollen hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit für Mensch und Umwelt zu großen Teilen in Tierversuchen getestet werden.
Tierversuche werden außerdem zur Diagnose von Krankheiten wie Tollwut und zur Prüfung von Schädlingsbekämpfungsmitteln durchgeführt.[20] Weiterhin werden Tierversuche auch in der Raumfahrt zum Test von Lebenserhaltungssystemen und zur Erforschung von Auswirkungen kosmischer Umweltbedingungen ausgeführt. Besondere Berühmtheit erlangte 1957 die Hündin Laika, die als erstes Lebewesen in die Umlaufbahn der Erde geschickt worden war und dort, vermutlich an Stress und Überhitzung, starb.
Die Verwendung von Tieren zu Zwecken, die nicht von § 7 und § 8 des TierSchG abgedeckt sind und daher keine Tierversuche im gesetzlichen Sinn darstellen, werden in Deutschland in den regelmäßigen Veröffentlichungen der Tierverwendungsstatistiken durch die zuständigen Landesämter neben den Tierversuchen aufgeführt.
In Deutschland werden rund 2,3 % der Versuchstiere im Rahmen der Aus- und Weiterbildung verwendet.[28] Dabei geht es vor allem um die Veranschaulichung des theoretischen Lehrstoffs im Studium der Biologie, Human- und Tiermedizin. Zum Beispiel werden Ratten getötet, um an ihnen den Aufbau und die räumliche Anordnung der inneren Organe eines Säugetiers kennenzulernen. An getöteten Fröschen kann beispielsweise das Zusammenspiel von Nerven und Muskeln vorgeführt werden, da diese Organe auch nach dem Tod noch einige Zeit funktionsfähig bleiben.
Studenten an Hochschulen in Nordrhein-Westfalen und im Saarland können sich mit Hilfe des Hochschulrahmengesetzes dieser Länder von Übungen an eigens zu diesem Zweck getöteten Tieren oder Teilen von ihnen befreien lassen.[29]
Rund 25 % der 2005 verwendeten Tiere wurden getötet, um Zellen oder Organe zu gewinnen.[20] Die gewonnenen Zellen werden häufig für Zellkulturen benötigt, die dann wiederum Tierversuche ersetzen.
In Deutschland sind seit 1998 und in der EU seit 2004 Tierversuche für Kosmetika verboten. Die EU-Kosmetikrichtlinie (2003/15/EG) sieht zudem ein in zwei Stufen (2009 und 2013) umgesetztes EU-Einfuhrverbot für neue, in Tierversuchen getestete Kosmetikprodukte vor.[30] Ein Verzicht auf den Tierversuch von Endprodukten schließt aber nicht aus, dass einzelne Inhaltsstoffe im Tierversuch getestet werden, da sich die Richtlinie auf Inhaltsstoffe bezieht, die ausschließlich für die Verwendung in Kosmetika entwickelt und hergestellt werden, und es sich bei den Inhaltsstoffen um neue, nach Inkrafttreten der Richtlinie entwickelte Stoffe handeln muss. In Tierversuchen getestete Inhaltsstoffe, die auch zu anderen Zwecken, beispielsweise unter der EU-Chemikalienrichtlinie, verwendet werden, können weiterhin eingeführt werden.
Je nach Zielsetzung und verwendeten Tieren können sehr unterschiedliche Versuchsaufbauten zum Einsatz kommen.
In der medizinischen Forschung am häufigsten sind Testreihen mit je acht bis zehn Tieren (meist Mäuse oder Ratten, die genaue Zahl richtet sich nach der biometrischen Versuchsplanung), denen je Testreihe eine unterschiedlich große Dosis eines bestimmten Wirkstoffs gespritzt wird. Nach einer bestimmten, vorgegebenen Zeit wird dann zum Beispiel Blut entnommen, um Abbauprodukte des Wirkstoffs zu analysieren. In den meisten Fällen werden die Testtiere am Versuchsende getötet, um den Einfluss des Wirkstoffs auf innere Organe untersuchen zu können.
Die Wirkungen und Nebenwirkungen von Hormonpräparaten wie der Antibabypillen werden in aller Regel an jugendlichen weiblichen Ratten untersucht, denen vor Gabe des Wirkstoffs die Eierstöcke entfernt wurden. Diese Medikamente, die nahezu täglich und oft jahrelang von gesunden jungen Frauen eingenommen werden und deshalb besonders sicher sein müssen, sind ein Beispiel dafür, dass viele Arzneimittelwirkstoffe noch immer im lebenden Tier getestet werden müssen: Nur im Tiersystem kann die Hauptwirkung (die Aufrechterhaltung einer bestimmten Hormonkonzentration im Körper) in unmittelbarer Verbindung mit möglichen Nebenwirkungen (Veränderung der Fett- oder Wassereinlagerung im Gewebe) und den natürlichen Abbauprodukten der Wirkstoffe analysiert werden.
Ein Testverfahren im Bereich der chemischen und Kosmetikindustrie ist beispielsweise die Prüfung auf schleimhautreizende Eigenschaften von Stoffen an Kaninchen, der Draize-Test. Hierzu werden den Testtieren oft erheblich konzentrierte Mengen der zu testenden Substanzen in die Augen getropft, die ähnlich empfindlich reagieren wie menschliche Augen. Damit sichergestellt ist, dass sie die Substanzen nicht aus den Augen wischen können, werden die Kaninchen während der Testreihen in Boxen gesperrt, aus denen ihr Kopf ins Freie ragt. Bereits in den 80er Jahren wurden mehrere alternative Verfahren mit Zellkulturen und bebrüteten Hühnereiern entwickelt. Teilweise werden diese Testsysteme heute bereits eingesetzt. Im Jahr 2005 wurden in Deutschland für den Schleimhautreizungstest 505 Kaninchen verwendet.[20]
Nachdem der Biologe Clarence Little (1888–1971) sich mit Gregor Mendels Werk auseinandergesetzt hatte, fing er an, Mäuse für seine Forschung einzusetzen.[31] Seitdem gelten Mäuse als die am meisten verwendeten Tier für Forschungsversuche. Dies nahm in den 1980er Jahren durch Fortschritte in der Gentechnik stark zu, nämlich durch die Schaffung der Knockout-Maus, die Krebsmaus und das Cre/loxP-System.[31] Dadurch konnten Mäuse gezüchtet werden, die Alzheimer oder Diabetes haben, übergewichtig sind, Herzkrankheiten aufweisen, blind oder taub sind, Zwangsstörung haben, schizophren sind, oder Drogensüchtig sind.[31] In den 2000er Jahren wurde die Anzahl der Mäuse in Forschungslaboren auf 20 bis 80 Millionen geschätzt und sollten etwa 90 % aller für die Forschung eingesetzten Tiere darstellen.[31] Als Gründe für diese Verbreitung werden genannt, dass das Genom der Maus zu 99 % mit dem des Menschen übereinstimmt, die Reproduktion von Mäusen günstig sei und schnell vonstatten gehe, und dass Mäuse kaum menschliche Fürsprecher haben.[31] Clarence Little sagte, Menschen haben kaum Mitgefühl für Mäuse, anders als für Hunde oder Katzen. Man müsse „die uralte Feindschaft zwischen Frau und Muridae“ ausnutzen, um die Forschung voranzubringen.[32] Little sagte, auf Tierversuche dürfe man nicht emotional reagieren. Sie seien wichtig für die Forschung und ohne sie sei die Humanbiologie verdammt.[32] Es stünde zu viel auf dem Spiel, um darauf zu verzichten.[32]
Seit dem 1. Januar 1989 besteht in Deutschland durch die Versuchstier-Meldeverordnung[33] eine gesetzliche Verpflichtung zur Erfassung der für wissenschaftliche Versuche verwendeten Tiere. Das deutsche Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft veröffentlicht seither jedes Jahr entsprechende Statistiken. Bei diesen Zahlen ist zu bedenken, dass sie „nur diejenigen Tiere erfassen, die innerhalb eines genehmigten Tierversuchsvorhabens tatsächlich verwendet wurden. Allerdings wird zur Schaffung einer neuen genetischen Linie mit den erwünschten Eigenschaften eine wesentlich größere Anzahl von Tieren benötigt. Ein Großteil dieser Tiere kann mangels anvisierten Phänotyps in keinem Tierversuch eingesetzt werden und ist somit überzählig. Dies kann auch eine optimale Versuchs- und Zuchtplanung nicht verhindern.“[34]
Die Zahlen gingen zunächst von 2,6 Millionen im Jahr 1989 auf 1,5 Millionen im Jahr 1997 zurück. Seither steigen sie wieder an.[20] Für das Jahr 2014 spricht das Ministerium von rund 2,8 Millionen Wirbeltieren, die für wissenschaftliche Versuche eingesetzt wurden.[35]
Im Jahr 2017 wurden etwa zwei Millionen Tiere für wissenschaftliche Tierversuche in Deutschland eingesetzt.[36] Mit 1,37 Millionen Tieren wurden Mäuse am häufigsten in jenem Jahr verwendet. Der Rest verteilt sich auf 255.000 Ratten, 240.000 Fische, 3.472 Affen sowie 3.300 Hunde und 718 Katzen. Etwa 50 % aller Tiere wurden im Bereich der Grundlagenforschung eingesetzt. Bei 27 % ging es um die Herstellung oder Überprüfung von Arzneimitteln. Bei weiteren 15 % wurden Krankheiten erforscht. Ca. 740.000 der zwei Millionen Tiere starben bzw. wurden getötet.[36]
Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hat seit 2021 den gesetzlichen Auftrag vom BMEL übernommen, jährlich die von den Versuchstiereinrichtungen erhobenen und von den zuständigen Behörden an das BfR übermittelten Daten zusammenzustellen und an die Europäische Kommission zu übermitteln. Des Weiteren wird ebenfalls jährlich die Anzahl der Tiere erfasst, welche getötet wurden, um deren Organe und Gewebe für wissenschaftliche Zwecke zu verwenden. Die Anzahl der getöteten, aber nicht für Versuchszwecke eingesetzten Tiere, wird gemäß Artikel 2 Durchführungsbeschluss (EU) 2020/569[37] zur Richtlinie 2010/63/EU nur einmal alle fünf Jahre an die Europäische Kommission übermittelt. Im Rahmen der deutschen Versuchstierstatistik werden jedoch die Anzahl aller als getötet gemeldeten Versuchstiere jährlich veröffentlicht. Diese Statistiken[38] sind auf der Homepage des Bf3R[39] zu finden.
Im Jahr 2005 wurden in Österreich 167.312 Tiere in Versuchen verwendet, darunter 128.634 Mäuse, 11.920 Ratten, 18.439 Kaninchen, 3.149 Meerschweinchen, 1.199 Fische, 85 Hunde, 12 Katzen und 56 Affen.[40] Im Jahr 2012 stieg die Anzahl leicht auf 184.610 Tiere. Darunter befanden sich 149.440 Mäuse, 7.270 Ratten, 15.480 Kaninchen, 2.790 Meerschweinchen, 3.823 Fische, 74 Hunde und 33 Katzen. Affen wurden 2012 nicht verwendet.[41] Es ist zu beachten, dass in der österreichischen Statistik nur Tiere aufscheinen, die tatsächlich in Tierversuchen verwendet wurden. Tiere, die mit Genehmigung extra für Versuche gezüchtet, anschließend aber getötet wurden, weil sie überzählig waren und Föten und Embryonen müssen nicht an die Behörde gemeldet werden.[42]
In der Schweiz werden die Tierversuchszahlen jährlich in der Tierversuchsstatistik des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV veröffentlicht.[43] Die Belastungen, die Tiere in den Versuchen erfahren, werden dabei in Schweregrade von 0 (keine Belastung) bis 3 (schwere Belastung) eingeteilt.[44]
Seit 2014 wird auch die Anzahl Tiere, die in Versuchstierhaltungen gezüchtet und importiert werden, erfasst. Über die Hälfte dieser Tiere wird jeweils nicht in Tierversuchen verwendet, weil sie etwa nicht über die benötigten genetischen Merkmale verfügen.[45] Die meisten dieser Tiere werden getötet.[45][46] 2022 wurden 1.262.383 Tiere in der Versuchstierhaltung geboren oder aus dem Ausland importiert, der Großteil davon Mäuse (82 %).[45]
Seit den 2000er-Jahren stagnieren die Tierversuchszahlen, zuletzt stiegen sie wieder (Stand Tierversuchsstatistik 2022).[47] 2022 wurden 585.991 Tiere in Versuchen eingesetzt, darunter 352.367 Mäuse, 79.706 Fische, 50.769 Ratten, 64.686 Vögel, 15.703 Rinder, 7.694 Amphibien und Reptilien, 2.056 Hunde, 581 Kaninchen, 309 Katzen und 200 Primaten.[48] Rund 60 % der Tiere (366.750) wurden in belastenden Versuchen (Schweregrade 1 bis 3) verwendet.[49] Die Anzahl der Tiere, die in Versuchen von Schweregrad 3 eingesetzt wurden, hat sich seit 2013 verdoppelt (Stand Tierversuchsstatistik 2022).[49]
Im Jahr 2005 wurden 550.505 Tiere zur Verwendung in Versuchen getötet, unter anderem 361.693 Mäuse, 136.657 Ratten, 10.818 Fische, 6.488 Kaninchen, 6.757 Vögel, 3.071 Hunde, 409 Katzen und 408 Affen. Ursache der vergleichsweise hohen Zahl ist die Bedeutung der Schweizer Pharma- und Chemie-Industrie.
1985 wurden in der Schweiz 170 Pferde, 690 Katzen, 705 Rinder, 736 Affen, 1.386 Schafe und Ziegen, 1.525 Schweine, 3.096 Hunde, 4.531 Amphibien und Reptilien, 20.396 Vögel, 34.608 Fische und 1.489.000 Ratten, Mäuse, Hamster und Meerschweinchen getötet, insgesamt damit 1.556.843 Tiere.[50]
Für Europa ergeben sich für das Jahr 2005 diese Zahlen (nebenstehende Tabelle; dabei sind Tiere erfasst, die bei Tests eingesetzt wurden, durch die Schmerzen, Leiden und dauerhafte Schäden verursacht wurden.[51]) Die Verwendungszwecke der 12,1 Mio. im Jahr 2005 verwendeten Tiere teilte sich wie folgt auf: mehr als 60 % für Forschung auf den Gebieten Humanmedizin, Tiermedizin, Zahnmedizin und Biologie, 8 % toxikologische Versuche und andere Sicherheitsbeurteilungen. 78 % waren Nagetiere und Kaninchen, 15 % Kaltblüter und 5 % Vögel.[13]
In Großbritannien werden jährlich etwa 3 Millionen Tiere in Versuchen verwendet.[52]
Für die USA liegen keine genauen Statistiken vor, da Ratten, Mäuse und Vögel von den Bestimmungen des Animal Welfare Act ausgenommen sind, aber den größten Anteil der benutzten Tiere ausmachen. Konservative Schätzungen für die Anzahl der jährlich verbrauchten Tiere beginnen bei 20 Millionen.[52] Unter bestimmten Voraussetzungen genügt in den USA für die Zulassung eines neuen Arzneimittels ein Wirksamkeitsnachweis im Tierversuch (Animal Efficacy Rule).
Die EU-Kommission führte anlässlich der anstehenden Revision der Richtlinie 86/609/EWG zum Schutz der in Versuchen eingesetzten Tiere von Juni bis August 2006 eine Online-Bürgerbefragung zum Thema Tierversuche durch.[53] Die überwiegende Mehrheit der rund 43.000 Bürger aus 25 Ländern, die sich an der Umfrage beteiligten, sprach sich für mehr Tierschutz aus. So meinten über 90 % der Teilnehmer, dass die EU sowie die Regierung im eigenen Land für deutlich mehr Tierschutz im Bereich Tierversuche sorgen sollten, insbesondere für Affen, Hunde und Katzen. Die überwiegende Mehrheit der Befragten sprach sich für einen verbesserten Schutz von Mäusen (87 %), Fischen (83 %) und Fruchtfliegen (60 %) aus. 40 % der Befragten hingegen hielten Tierversuche für den Zweck der Therapie- und Medikamenten-Entwicklung für akzeptabel. Gleichzeitig führten 85 % der Befragten an, dass Tierschutzorganisationen die Hauptquelle für Informationen über Tierversuche seien. Nahezu alle Teilnehmer wünschten sich mehr Transparenz und Mitspracherecht hinsichtlich der Frage, wann und wie ein Tierversuch durchgeführt werden darf. Den medizinischen Fortschritt oder die Konkurrenzfähigkeit von Europa sahen rund Dreiviertel der Befragten durch Tierschutzbestimmungen keineswegs gefährdet. Ebenso viele Menschen waren für eine stärkere Förderung der Entwicklung und Anerkennung von tierversuchsfreien Methoden.
Vertreter der tierexperimentell ausgerichteten Forschung, wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft,[54] führen an, dass alle wichtigen Erkenntnisse im Bereich der Medizin auf Tierversuche zurückzuführen sind: Versuche an Hunden und Kaninchen hätten zur Entdeckung des Insulins geführt und geholfen, die Wirkung dieses Hormons zu verstehen und neue Therapien für die Zuckerkrankheit zu entwickeln. Weitere Beispiele für den Nutzen von Tierversuchen in der Medizin seien laut der Deutschen Forschungsgemeinschaft die Entwicklung von Impfseren z. B. gegen Diphtherie (Meerschweinchen), gegen Gelbfieber und Kinderlähmung (Maus und Affe) sowie Untersuchungen zur Krankheitsentstehung der Tuberkulose (Schaf und Rind), des Typhus (Maus, Ratte, Affe) und der Malaria (Taube).
In der Chirurgie sind durch Tierversuche neue Techniken entwickelt und Operationsmethoden verfeinert worden.[55] So fanden erste Versuche zur Verpflanzung von Gewebe bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Mäusen statt. Andere wichtige Forschungsbereiche sind Untersuchungen zur Funktionsweise des Nervensystems, des Herz-Kreislauf-Systems und der Wirkungsweise von Hormonen sowie in der Krebsforschung. Ein Verzicht auf Tierversuche würde eine „Verlangsamung des medizinischen Fortschritts bedeuten und damit Heilungschancen für kranke Menschen deutlich schmälern“, heißt es bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Zur Frage der Übertragbarkeit der Ergebnisse führen Tierversuchsbefürworter die große Ähnlichkeit zwischen Mensch und Tier hinsichtlich Zell- und Organfunktion an. Insbesondere die Bestandteile von Körperzellen und die biochemischen Mechanismen in den Zellen, die allen Lebensvorgängen zu Grunde liegen, weisen bei den verschiedenen Tierarten sehr große Ähnlichkeiten auf. Eine Übertragung vom Tier auf den Menschen sei daher zumal dann möglich, wenn auch die artspezifischen Besonderheiten in Betracht gezogen werden. Diese Grundvermutung gelte sowohl für die erwünschten als auch für die schädigenden und toxischen Wirkungen eines Stoffes. Insbesondere das komplexe Zusammenspiel von Wirkstoffen und deren Abbauprodukten mit unterschiedlichen Organen lasse sich in vielen Fällen nur am lebenden Tier sicher nachvollziehen.
Trotz wesentlicher Fortschritte im Bereich der Alternativmethoden zum Beispiel mit Zellkulturen und Computersimulationen könne mit diesen Verfahren der „intakte Organismus“ nicht ersetzt werden, heißt es bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Vor allem wenn das komplexe Zusammenwirken mehrerer Organsysteme untersucht werden soll, stoße die Zellkultur an ihre Grenzen. Wenn zum Beispiel die Rolle des Immunsystems im Verdauungstrakt oder die Wirkung von neuen Impfstoffen untersucht werden soll, müsste man sehr viele verschiedene Organe simulieren, da dabei komplexe höhere Regelmechanismen eine Rolle spielten.
In der ethischen Argumentation wird davon ausgegangen, dass die Interessen der Menschen, ihre Gesundheit zu erhalten, grundsätzlich höher zu bewerten sind als der Schutz anderer Lebewesen. Die mit den Versuchen verbundenen möglichen Schäden (Schmerzen, Tod) bei Tieren werden z. B. mit der Entwicklung von Medikamenten für den Menschen gerechtfertigt. 2005 fanden EU-weit 45 Prozent der Befragten, Wissenschaftler sollten ein Recht dazu haben, an Tieren zu forschen, wenn damit gesundheitliche Probleme von Menschen gelöst würden.[56]
Tierversuchsbefürworter sind der Überzeugung, dass die Genehmigungsverfahren unsinnige und ethisch nicht vertretbare Tierversuche ausschließen. Der Forscher müsse schließlich darlegen, dass für den geplanten Versuch eine „Unerlässlichkeit“ gegeben ist, d. h., dass es – gemessen am verfolgten Zweck – keine gleichwertigen Alternativen gebe. Bei der Frage der „ethischen Vertretbarkeit“ gehe es um die Abwägung der Belastung des Tieres auf der einen Seite und der wissenschaftlichen Erkenntnis auf der anderen Seite.
Tierversuche können nach Meinung von Tierversuchsbefürwortern zwar durchaus auch mit Schmerzen und Leiden für die Tiere verbunden sein, starke Belastungen würden aber – wo immer möglich – vermieden, da sie Auswirkungen auf das Versuchsergebnis hätten. Auch führen Tierversuchsbefürworter an, dass die Tiere möglichst artgerecht gehalten werden.
Schließlich weisen Tierversuchsbefürworter darauf hin, dass es ethisch nicht vertretbar ist, klinische Studien und andere Experimente am Menschen ohne vorherige Tierversuche durchzuführen, wenn die Möglichkeit bestehe, die mit der Studie einhergehenden Risiken für die Testpersonen mit Hilfe vorangehender Tierexperimente zumindest abschätzen zu können.
Nach Ansicht von Tierversuchsgegnern wie z. B. den Ärzten gegen Tierversuche[58] sei der Stand der heutigen Medizin, die zu einem wesentlichen Teil auf Tierversuchen basiere, kein Beweis für die Notwendigkeit von Tierversuchen. Zwar werden die erzielten Fortschritte von vielen Tierversuchsgegnern anerkannt, jedoch stünden diese in keinem akzeptablen Verhältnis zum Aufwand und zur eingesetzten Tierzahl. Zudem seien Erkenntnisse inzwischen auch durch andere Methoden, wie die Verwendung von Zellkulturen in vitro, gewinnbar. Beispielgebend ist dabei unter anderem die Arbeit der Preisträger des Herbert-Stiller-Preises, der für die tierversuchsfreie Erforschung menschlicher Erkrankungen verliehen wurde.[59]
Auch wird argumentiert, dass viele Tierversuche nicht in Erkenntnisse münden, die für den Menschen nutzbar seien. So kam eine Studie zur klinischen Relevanz von Tierversuchen zu dem Ergebnis, dass bei 16 untersuchten Tierversuchsvorhaben zehn Jahre nach der Durchführung keine Umsetzung in der Humanmedizin nachweisbar war.[60]
Tierversuchsgegner führen die vielfältigen Unterschiede zwischen Tieren und Menschen hinsichtlich Körperbau, Organfunktion und Stoffwechsel an. Tiere unterschiedlicher Arten würden auf Chemikalien und Medikamente unterschiedlich reagieren. Beispielsweise sei Asbest bei Ratten erst in 300fach höherer Dosis als beim Menschen krebsauslösend.[61] Auch aufgrund von Tierexperimenten für sicher gehaltene Medikamente (z. B. Contergan), die beim Menschen schwerwiegende oder gar tödliche Nebenwirkungen hervorriefen, seien ein Beleg dafür, dass sich die Ergebnisse von Tierversuchen nicht mit der nötigen Zuverlässigkeit auf den Menschen übertragen ließen. Auch die Genantwort in Mäusen unterscheidet sich deutlich von der des Menschen bei Entzündungsprozessen, weshalb die Resultate von Mausversuchen für Menschen nicht immer übertragen werden können.[62]
Tierversuchsgegner zweifeln die Aussagekraft von Tierversuchen an, da es sich bei Tieren zwar um einen ganzen Organismus handele, aber um den falschen. Tierversuchsfreie Methoden mit menschlichen Zellen und Geweben, kombiniert mit speziellen Computerprogrammen, liefern ihrer Meinung nach im Vergleich zum Tierversuch in manchen Bereichen ebenso genaue und aussagekräftige Ergebnisse, bei einer besseren ethischen Vertretbarkeit.[63]
In der tierexperimentellen Forschung würden zudem wichtige Aspekte der Krankheitsentstehung wie Ernährung, Lebensgewohnheiten, Verwendung von Suchtmitteln, schädliche Umwelteinflüsse, Stress, psychische und soziale Faktoren außer Acht gelassen. Als besseren Weg empfinden viele Tierversuchsgegner die Konzentration auf Studien am Menschen, wobei insbesondere die Bereiche der Epidemiologie, klinischen Forschung und Arbeits- und Sozialmedizin ausgebaut werden müssten.
Viele Tierversuchsgegner stellen die Argumentation, wonach menschliche Interessen Vorrang vor Interessen anderer Lebewesen hätten, ganz oder teilweise in Frage. Dem Tier stehe als fühlendem Subjekt eine moralisch ebenbürtige Behandlung wie dem Mitmenschen zu. Insofern sei das Töten von Tieren und das Zufügen von Schmerzen moralisch unzulässig. Diese Argumentation findet sich zum Beispiel auch im Vegetarismus. Im Tierversuch würden Tiere zu Messinstrumenten degradiert, was der Würde des Lebewesens nicht entspreche. Eine rein utilitaristisch orientierte Ansicht, nach der es um bloße Nützlichkeitsabwägungen gehe, könne nicht die Basis für die ethische Beurteilung von Tierversuchen sein.
Der österreichische Tierrechtler Helmut F. Kaplan knüpft an diese Argumentation an und begründet seine ablehnende Haltung gegenüber Tierversuchen folgendermaßen:
„Deshalb ist auch die faktische Frage, ob Tierversuche für den Menschen nützlich sind, moralisch irrelevant: Tierversuche sind falsch, unabhängig davon, ob sie für den Menschen nützlich sind. Die legitime Frage ist nicht: ‚Wieviel Gesundheit können wir maximal erzeugen?‘, sondern: ‚Wieviel Gesundheit können wir auf ethisch zulässige Weise erzeugen?‘ Die – echte oder vermeintliche – Nützlichkeit von Tierversuchen ist überhaupt kein ethisches Argument: Es gibt viele Dinge, die nützlich wären, aber dennoch unmoralisch und verboten sind, zum Beispiel Menschenversuche.“
Es gibt allerdings auch Utilitaristen, die Tierversuche kritisieren. Der Tierethiker Peter Singer fordert eine faire Abwägung der Interessen von Menschen und Tieren. Obwohl diese theoretisch auch zugunsten der Experimente ausfallen könne, wögen die Interessen der betroffenen Tiere in der Regel sehr viel stärker.[65] Er argumentiert, dass die Versuchstiere entweder den Menschen so ähnlich sind, dass für sie auch ähnliche ethische Maßstäbe gelten müssen und somit Tierversuche sich aus denselben ethischen Bedenken wie Menschenversuche verbieten, oder aber uns die Versuchstiere so unähnlich sind, dass die Ergebnisse weniger Nutzen für Menschen haben.
Im Sinne der „3 R“ (Reduction, Refinement and Replacement, dt. „Reduzierung, Verbesserung und Ersatz“)[66] wird heute intensiv an Methoden zum Ersatz von Tierversuchen geforscht, wobei in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte erzielt werden konnten (siehe auch Basler Deklaration).
Heutzutage stehen für viele Fragestellungen sogenannte In-vitro-Verfahren zur Verfügung. Darunter versteht man „im Reagenzglas“ durchgeführte Tests. An Mikroorganismen und Zellkulturen können toxikologische Untersuchungen auch in sehr kleinen Volumina, z. B. in mikrofluidischen Systemen, durchgeführt werden (Mikrotoxikologie). Manche Arzneimittel können heute in silico, also am Computer, entwickelt und an menschlichen Zell- und Gewebekulturen, die z. B. aus Operationen zur Verfügung stehen, getestet werden. Die hautreizenden Eigenschaften von Chemikalien und kosmetischen Stoffen können an künstlicher Haut getestet werden. Für die Untersuchung auf fieberauslösende Verunreinigungen in Medikamenten und Impfstoffen steht heute ein Test mit menschlichem Blut zur Verfügung. Studierende der Biologie, Human- und Tiermedizin können physiologische Zusammenhänge in Filmen, Computersimulationen oder im schmerzlosen Selbstversuch nachvollziehen. Chirurgische Eingriffe können an Modellen geübt werden, die ähnlich wie Flugsimulatoren funktionieren. Amerikanische Wissenschaftler haben einen Weg gefunden, eine Art Organismus mit Stoffwechsel auf einem Mikrochip darzustellen. Winzige Kammern aus Glasröhren sind mit lebenden Zellen ausgekleidet und stellen einzelne Organe dar. In dem künstlichen Körper können neue Wirkstoffe getestet werden.[67] Eine Erforschung des Gehirns kann direkt am Menschen mit nicht invasiven Methoden, zum Beispiel mit der Computertomographie betrieben werden, wobei diese nur eingeschränkte Anwendbarkeit besitzen, da sie mit ihrer makroskopisch-topographischen Betrachtungsweise nicht die nötige Auflösung bieten können, um genau auf Einzel-Zell-Niveau messen zu können, wie es beispielsweise zur Erforschung neuronaler Kodierungsmechanismen in der Neurobiologie benötigt wird.
Für die Validierung, das heißt den Vergleich zwischen tierversuchsfreier Methode und dem entsprechenden Tierversuch sowie die Anerkennung auf nationaler und internationaler Ebene ist die Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch (ZEBET) am Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) zuständig.[68] Das ZEBET betreibt auch eine Datenbank der validierten Alternativmethoden (AnimAlt-ZEBET).[69] Auf europäischer Ebene befasst sich das Europäische Zentrum zur Validierung alternativer Methoden (ECVAM) mit der Erforschung, Entwicklung und Validierung von tierversuchsfreien Methoden.[70] Beide Einrichtungen betreiben Internet-Datenbanken zu tierversuchsfreien Testmethoden. Die Daten des EVCAM sind über die SIS-Datenbank des Zentrums zugänglich.
Der Deutsche Tierschutzbund unterhält eine Kosmetika-Positivliste, in der Hersteller und Vertriebe von Kosmetika verzeichnet sind, die auf Tierversuche verzichten.[71] Die Bestimmungen beinhalten auch das Testen der Rohstoffe und das Testen durch Dritte. Produkte, die demzufolge tierversuchsfrei sind, sind mit einem Warenzeichen gekennzeichnet.
Des Weiteren gibt es ein Prüfzeichen des BDIH,[72] des Bundesverbands deutscher Industrie- und Handelsunternehmen für Arzneimittel, Reformwaren, Nahrungsergänzungsmittel, Körperpflegemittel und dekorative Kosmetik, mit der Aufschrift „Kontrollierte Natur-Kosmetik“, welches Tierversuchsfreiheit kennzeichnet. Die British Union for the Abolition of Vivisection (BUAV) gibt ein international verbreitetes Kennzeichen für tierversuchsfreie (englisch cruelty free) Produkte heraus.[73]
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