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psychische Erkrankung Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Die Zwangsstörung oder Zwangserkrankung (englisch obsessive-compulsive disorder bzw. OCD) gehört zu den psychischen Störungen.
Klassifikation nach ICD-10 | |
---|---|
F42 | Zwangsstörung |
F42.0 | vorwiegend Zwangsgedanken oder Grübelzwang |
F42.1 | vorwiegend Zwangshandlungen (Zwangsrituale) |
F42.2 | Zwangsgedanken und -handlungen, gemischt |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Es besteht für erkrankte Personen ein innerer Zwang oder Drang, bestimmte Dinge zu denken oder zu tun. Die Betroffenen wehren sich zwar meist gegen diesen auftretenden Drang und erleben ihn als übertrieben und sinnlos, können ihm willentlich jedoch meist nichts entgegensetzen. Die Störung bringt deutliche Belastungen und Beeinträchtigungen des Alltagslebens mit sich.
Ältere Bezeichnungen für Zwangsstörungen sind Zwangsneurose und anankastische Neurose. Die Zwangsstörung ist von der zwanghaften Persönlichkeitsstörung sowie von Zwangssymptomen im Rahmen anderer psychischer oder neurologischer Erkrankungen zu unterscheiden.[1]
Der Begriff wurde 1867 von Richard von Krafft-Ebing eingeführt,[2] als eigenständiges Krankheitsbild wurde es erst von Carl Westphal 1877 beschrieben.[3] Wichtige Beiträge zur Klassifikation leistete auch Westphals Schüler Robert Thomsen 1895.[4][5]
Die für die diagnostische Klassifizierung nach der ICD-10 maßgebliche Hauptsymptomatik der Zwangsstörung besteht in Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen. Bei mehr als 90 % der Betroffenen finden sich beide Symptome. Typisch ist auch die große Bandbreite an möglichen Symptomen, so dass fast jeder Betroffene sein eigenes, individuelles Symptombild aufweist.[6]
Bei Zwangsgedanken handelt es sich um zwanghaft sich aufdrängende Denkinhalte, die üblicherweise als unsinnig erkannt werden.[7] Diese meistens „ich-dystonen“ Zwangsgedanken können aber auch übersteigert bis hin zu magischem Denken[8] oder überwertigen Ideen[9] bestehen. Einige Betroffene leiden zudem zusätzlich an formalen Denkstörungen, vor allem an Perseveration, Gedankenkreisen, eingeengtem Denken oder Gedankenarmut. In der Regel lösen Zwangsgedanken Abwehrrituale auf verhaltens- oder kognitiver Ebene aus. Selten vorkommende Zwangsgedanken ohne Gegenreaktion werden im angloamerikanischen Raum vereinzelt auch mit dem Begriff „Pure-O“ (engl. „pure obsessive“) bezeichnet.[10][11]
Zwangsgedanken kann man einteilen in:
Bei Zwangsgedanken geht es also häufig um angstvolle Gedanken und Befürchtungen, sich selbst oder einer anderen Person zu schaden (z. B. durch Verunreinigung, durch aggressive Handlungen oder durch sogenannte „magische Handlungen“), in eine peinliche Situation zu geraten, oder durch Unterlassen von Handlungen indirekt bzw. durch eigene Handlungen direkt für ein Unheil oder Unglück verantwortlich zu sein. Die Zweifel und Befürchtungen können nicht befriedigend abgeschlossen werden, sodass sie sich ständig wieder aufdrängen und bearbeitet werden müssen, ohne zu einem realen Ergebnis zu gelangen.[14]
Häufig leiden Betroffene auch an quälendem Zweifel. 1838 verlieh daher in Frankreich bereits Jean Esquirol den Zwangsstörungen den Beinamen „Maladie du doute“ (dt.: „Krankheit des Zweifels“).[15] Im deutschen Sprachraum setzte sich dagegen der vom Wiener Psychiater Richard von Krafft-Ebing geprägte Begriff „Zwangsvorstellung“ durch.[16] Klinische Erfahrungen zeigen zudem, dass Menschen mit einer Zwangsstörung die Eintrittswahrscheinlichkeiten negativer Ereignisse überschätzen.[17] Häufig zeigt sich bei den Betroffenen auch eine Hypervigilanz.[18]
In einer Untersuchung von Salman Akhtar (1975) wurden die Themen der Zwangsgedanken von Betroffenen erfragt. Am häufigsten wurden dabei genannt:[19][20]
Auch wenn dies die statistisch am häufigsten genannten Inhalte von Zwangsgedanken sind, eignet sich jedes Thema als Zwangsgedanke. Die Unterscheidung zwischen Zwangsgedanken und normalen Gedanken besteht also vor allem im oftmals unangemessen, beunruhigenden oder irrationalen Charakter der Zwangsgedanken sowie im Leidensdruck, der Unkontrollierbarkeit und die starken negativen Emotionen, wie Angst und Unbehagen, die mit den Zwangsgedanken einhergehen.[21]
Zwanghafte Gedanken können sich (als ein Beispiel von vielen denkbaren Varianten) im Fall aggressiver Zwangsgedanken darin äußern, dass eine Mutter befürchtet, Mann und Kinder vergiften zu wollen, oder eine Tochter befürchtet, ihre Mutter die Treppe hinunterzuwerfen.[22]
Der Dokumentarfilm Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben von Oliver Sechting erklärt das Phänomen Zwangsgedanken anschaulich aus der Perspektive eines Betroffenen.[23]
„Zwanghaft gegen oder ohne den Willen ausgeführte Handlungen. Beim Versuch, die Handlungen zu unterlassen, treten massive innere Anspannung und Angst auf.“[24] Zwangshandlungen sind Stereotypien, die ständig wiederholt werden müssen. Die meisten Betroffenen wissen, dass ihr Verhalten übertrieben und unvernünftig ist, und versuchen anfangs, Widerstand zu leisten, geben jedoch auf, wenn die Angst sie überfällt. Danach fühlen sie sich für gewöhnlich für eine kurze Zeitspanne weniger ängstlich. Abgesehen von dieser Spannungsreduktion empfinden die Betroffenen keine Freude am Ausführen der Handlung selbst.
Manche Menschen bauen die zwanghafte Handlung zu einem Zwangsritual aus: Die Zwangshandlung wird in einer bis ins Detail ausgearbeiteten Art und Weise ausgeführt. Die Betroffenen müssen das Ritual jedes Mal in exakt derselben Weise, nach bestimmten, sorgfältig zu beachtenden Regeln durchlaufen. Wenn es nicht gelingt, die Handlung abzuschließen, entsteht weitere Angst, und das Ritual muss häufig von Anfang an wiederholt werden.
Beispiele:
Gemäß ICD-10 (Code F42)[25] sollten für eine Diagnose folgende Bedingungen erfüllt sein:
Das amerikanische psychiatrische Diagnosesystem (das DSM) unterscheidet mehrere Abstufungen, je nach Grad der gegebenen Einsicht in die Zwangsproblematik. Die aktuell gültige 5. Auflage führt die Störung erstmals in einem eigenen Kapitel unter dem erweiterten Oberbegriff „Zwangsstörung und verwandte Störungen“ auf – zuvor war sie dem Kapitel „Angststörungen“ zugeordnet. Zu den verwandten Störungen zählen dabei die „Körperdysmorphe Störung“, „Zwanghaftes Horten“, „Trichotillomanie“, „Dermatillomanie“ sowie analoge Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen, Medikamenten und anderen medizinischen Bedingungen.[26]
Zur genaueren Diagnosestellung können Fremdratingskalen (Fragebögen zur Fremdbeurteilung) verwendet werden, z. B.:
Es gibt mehrere Fragebögen zur Selbstbeurteilung:[28]
Gemäß ICD-11 (Code 6B20) gehört die Zwangsstörung zu der Gruppe der Zwangsstörung oder verwandten Störungen. Sie ist somit nicht mehr den Angststörungen zugeordnet.[29]
Zu den verwandten Störungen der Gruppe gehören:
Wie auch bei anderen Angststörungen ist bei der Zwangsstörung zu beobachten, dass sie häufig gemeinsam mit anderen affektiven Störungen und Angststörungen auftritt. Die Zwangsstörung tritt am häufigsten in Kombination mit Depression, Panikstörung und sozialer Phobie auf. Rund 80 Prozent der Betroffenen weisen depressive Symptome auf, die aber nicht immer die Diagnose „Depressionen“ rechtfertigen. Ein gutes Drittel leidet mindestens einmal im Leben an einer Depression. Bei 12 Prozent der Kranken tritt die körperdysmorphe Störung auf.[22]
Bei 50 Prozent der Betroffenen liegt gleichzeitig eine Persönlichkeitsstörung vor. Die unter den Erkrankten am häufigsten auftretenden Persönlichkeitsstörungen sind die abhängige und die selbstunsicher-vermeidende. Eine komorbide zwanghafte Persönlichkeitsstörung liegt dagegen deutlich seltener vor. Generell weisen Zwangskranke häufig problematische Interaktionsmuster bzw. Persönlichkeitszüge auf.[36]
Tic-Symptome treten auch im Rahmen von Zwangsstörungen bisweilen auf. Diese können je nach Art und Ausprägung der Zwangsstörung selber zugeordnet oder als separate Ticstörung bzw. als Tourette-Syndrom diagnostiziert werden.[37]
Das Vorhandensein von Zwangssymptomen muss nicht gleich das Vorhandensein einer Zwangsstörung bedeuten. Zwangsgedanken und Zwangshandlungen können unabhängig von der klassischen Zwangsstörung auch als Symptome im Rahmen anderer neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen vorkommen. In der englischsprachigen Wissenschaftsliteratur ist in diesem Fall von „Obsessive Compulsive Symptoms“ (OCS) die Rede. Unter anderem ist dies der Fall im Rahmen des Tourette-Syndroms,[38] des Autismus,[39] bei Schädel-Hirn-Trauma,[40] Schizophrenie[41] sowie bei neuropsychiatrischen Syndromen wie PANS bzw. PANDAS. In der Regel sprechen die Zwangssymptome in diesen Fällen auf eine Behandlung der verursachenden Grunderkrankung an.
Bis Mitte der 1990er Jahre war die Zwangserkrankung in der Bevölkerung noch relativ unbekannt. Dadurch entstand bei den Betroffenen das Gefühl, isoliert mit dieser Erkrankung zu sein, was die Suizidgefahr erhöhte und die Chance minimierte, sich in therapeutische Behandlung zu begeben. Gemäß mehrerer Studien leidet zwischen 1 % und 3 % der Bevölkerung einmal im Leben an einer Zwangsstörung (Lebenszeitprävalenz). Für Deutschland ermittelte eine 2012 veröffentlichte Studie, dass innerhalb eines Jahres 3,8 % der erwachsenen Bevölkerung eine Zwangsstörung aufwiesen (Ein-Jahresprävalenz).[1]
Die Inhalte und Formen der Zwangsstörungen ähneln sich über verschiedene Kulturen hinweg. Kulturelle Unterschiede finden sich nur in Details der Symptomatik.[1]
Weil die Krankheit in der Bevölkerung wenig bekannt ist, wird sie oft nicht richtig erkannt und behandelt: Oft dauert es sieben bis zehn Jahre, bis die Betroffenen zielführend behandelt werden können. Es scheint keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Häufigkeit der betroffenen Personen zu geben.[42]
Die Erkrankung beginnt meist im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter vor dem 30. Lebensjahr. Jungen und Männer erkranken im Durchschnitt früher als Frauen. Die Erkrankung verläuft meist langsam zunehmend und verschlimmert sich ohne wirksame Therapie stetig, zu zwei Dritteln chronisch, zu einem Drittel schubweise mit akuten Verschlechterungen unter besonderen Belastungen. Der Ausbruch in Kindheit oder frühem Erwachsenenalter kommt bei Jungen häufiger vor als bei Mädchen. Dabei liegt das Ersterkrankungsalter bei circa 25 % der Jungen unter zehn Jahren.[43] Je früher mit der Behandlung begonnen wird, desto besser sind die Prognosen. Durch die Behandlung mit psychotherapeutischen Methoden oder geeigneten Medikamenten ist die Prognose deutlich zu verbessern, auch wenn eine vollkommene Symptomfreiheit selten erreicht wird.
Getrennt lebende oder geschiedene Personen und Arbeitslose sind unter den Personen mit Zwangsstörung in der Regel leicht überrepräsentiert. Dies überrascht nicht, wenn man bedenkt, welche Schwierigkeiten die Störung in Beruf und Beziehungen hervorrufen kann.[44]
Das Risiko einer Verschlimmerung der Zwangssymptome während Schwangerschaft und Stillzeit liegt bei 60–70 %. Auch haben Patientinnen mit einer Zwangsstörung ein erhöhtes Risiko für eine Wochenbettdepression.[45]
Bis in die 1960er Jahre beherrschten psychoanalytische Erklärungsmodelle das Bild der Zwangsstörung. Nach der Entwicklung verhaltenstherapeutischer Entstehungstheorien in der zweiten Hälfte des zurückliegenden Jahrhunderts stehen in den letzten Jahren die genetischen und neurophysiologischen Zusammenhänge im Fokus.[46][47][48][49] Der aktuelle Forschungsstand legt nahe, dass ein individuell unterschiedliches Zusammenwirken[50][51][52] aus genetischer Veranlagung und psychischen Ursachen (z. B. biographische Faktoren oder Stress)[53] der Grund für die Entwicklung einer Zwangserkrankung ist.
Die unterschiedlichen psychologischen Forschungs- und Arbeitsrichtungen (z. B. Psychoanalyse, Verhaltenstherapie) haben verschiedene Erklärungsmuster für das Entstehen und die Erhaltung einer Zwangsstörung.
Verhaltenstherapeutische Erklärungen
Die Zwei-Faktoren-Theorie von Mowrer[54][55] erklärt die Entstehung und Aufrechterhaltung von Zwängen und Ängsten – die Entstehung über das lerntheoretische Modell der klassischen Konditionierung, die Aufrechterhaltung über die operante Konditionierung.
Eine kognitiv-verhaltenstherapeutische, von Paul Salkovskis vorgeschlagene Theorie[57] zur Entstehung von Zwangsstörungen geht davon aus, dass Zwangsstörungen durch die negative Bewertung von sich aufdrängenden Gedanken, die auch bei gesunden Menschen von Zeit zu Zeit auftreten, und deren (anschließende) Vermeidung entstehen. Die Vermeidung der auftretenden Gedanken kann kognitiv oder auf Verhaltensebene geschehen: Entweder wird versucht, die Gedanken zu unterdrücken oder sie durch Handlungen zu „neutralisieren“ (bspw. bei Angst vor Kontaminationen durch Händewaschen). Beide Vermeidungsreaktionen führen jedoch nicht zu den erwünschten Effekten: Die Neutralisierungshandlung führt nur kurzfristig zu einer Erleichterung, da sich die Gedanken, die das Verhalten ausgelöst haben, weiterhin aufdrängen. Dennoch hat die Person gelernt, dass sie sich durch die Handlung, wenn auch nur kurzfristig, Erleichterung verschaffen kann. Das Verhalten wird somit negativ verstärkt (C-/). Gedankliches Unterdrücken hat andererseits einen paradoxen Effekt: Durch das aktive Unterdrücken verstärken sich die Gedanken zusätzlich („rebound effect“).[58][59]
Die kognitionspsychologische Forschung identifizierte mehrere Faktoren, aufgrund deren „normale“ Gedanken von Menschen mit Zwangsstörungen als so störend empfunden werden:[60]
Psychoanalytische Erklärungen
Psychoanalytiker gehen davon aus, dass sich Zwangsstörungen dann entwickeln, wenn Kinder ihre eigenen Es-Impulse zu fürchten beginnen und Abwehrmechanismen einsetzen, um die resultierende Angst zu verringern. Der Kampf zwischen Es-Impulsen und Angst wird auf bewusster Ebene ausgetragen. Die Es-Impulse erscheinen gewöhnlich als Zwangsgedanken, die Abwehrmechanismen als Gegengedanken oder Zwangshandlungen.
Sigmund Freud postulierte, dass manche Kinder in der sogenannten analen Phase (mit etwa zwei Jahren) intensive Wut und Scham empfinden. Diese Gefühle heizen den Kampf zwischen Es und Ich an und stellen die Weichen für Zwangsstörungen. In diesem Lebensabschnitt ist Freud zufolge die psychosexuelle Lust der Kinder an die Ausscheidungsfunktion gebunden, während zugleich die Eltern mit der Sauberkeitserziehung beginnen und von den Kindern analen Befriedigungsaufschub fordern. Wenn die Sauberkeitserziehung zu früh einsetzt oder zu streng ist, kann dies bei den Kindern Wut auslösen und zur Entwicklung aggressiver Es-Impulse führen – antisozialer Impulse, die immer wieder nach Ausdruck drängen. Die Kinder beschmutzen vielleicht ihre Kleidung erst recht und werden allgemein destruktiver, schlampig oder dickköpfig. Wenn die Eltern diese Aggressivität unterdrücken, kann das Kind auch Scham- und Schuldgefühle sowie das Gefühl, schmutzig zu sein, entwickeln. Gegen die aggressiven Impulse des Kindes stellt sich jetzt ein starker Wunsch, diese Impulse zu beherrschen. Dieser heftige Konflikt zwischen Es und Ich kann sich das ganze Leben lang fortsetzen und sich schließlich zu einer Zwangsstörung auswachsen.
Zahlreiche Ich-Psychologen wandten sich von Freud ab und führten die aggressiven Impulse nicht auf die strenge Sauberkeitserziehung zurück, sondern auf ein unbefriedigtes Verlangen nach Ausdruck des eigenen Selbst oder auf Versuche, Gefühle wie Angst vor Verwundbarkeit oder Unsicherheit zu überwinden. Sie stimmen mit Freud aber darin überein, dass Menschen mit einer Zwangsstörung starke aggressive Impulse sowie ein konkurrierendes Kontrollbedürfnis gegenüber diesen Impulsen besitzen.[61]
Genetische Faktoren
Zahlreiche Studien konnten inzwischen zeigen, dass die Zwangsstörung moderat erblich ist bzw. dass bestimmte genetische Konstellationen die Entstehung der Erkrankung wahrscheinlicher machen. Dies könnte ein bisweilen zu beobachtendes familiär gehäuftes Auftreten von Erkrankungen aus dem Zwangsspektrum mitbedingen. Allerdings konnten die relevanten Genabschnitte bisher nicht zweifelsfrei identifiziert werden.[62][63][64][65]
Neurobiologische Faktoren
Zwangsstörungen gehen mit Veränderungen im Hirnstoffwechsel einher.[66][67][68][69] Ob diese Veränderungen ursächlich verbunden sind oder Begleiterscheinung der Zwangsstörung darstellen, ist nicht geklärt.
Immunologische Erklärungsansätze
Stereotype Zwangssymptome und Tics im Zusammenhang mit infektiösen bzw. immunologischen Faktoren bei Streptokokkeninfektionen im Kindesalter (PANDA-Syndrom) bzw. anderen Erregern (PANS/PITAND Syndrom)[71][72] führten zu immunologischen Studien.[73][74][75][76][77] Es bestehen Hinweise auf die Wirksamkeit immunmodulatorischer Therapieansätze mittels Plasmapherese oder i. v.-Immunglobulinen und eine langfristige Besserung des klinischen Bildes durch die antibiotische Prophylaxe. Des Weiteren liegen Befunde vor, die auf erhöhtes B-Lymphozytenantigen D8/17 hinweisen. Zusätzlich wurden autoimmunologische Parameter, z. B. pathologische Autoantikörper, nachgewiesen. In einer Untersuchung fand sich bei Patienten mit zwanghaften Bewegungsstörungen, vergleichbar zur Chorea Sydenham, eine erhöhtes Auftreten von Anti-Basalganglien-Antikörpern.[78][79][80][81][82][83]
Die aktuelle deutsche S3-Leitlinie zur Zwangsstörung empfiehlt Patienten mit einer Zwangsstörung eine „störungsspezifische Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) einschließlich Exposition und Reaktionsmanagement als Psychotherapie der ersten Wahl anzubieten“. Sie besagt zudem, dass eine „medikamentöse Therapie einer Zwangsstörung mit einer Kognitiven Verhaltenstherapie mit Expositionen und Reaktionsmanagement kombiniert werden soll“. Eine alleinige medikamentöse Therapie ohne begleitende Psychotherapie sei nur indiziert, wenn „Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) abgelehnt wird oder wegen der Schwere der Symptomatik keine KVT durchgeführt werden kann“; sowie, wenn „KVT wegen langer Wartezeiten oder mangelnder Ressourcen nicht zur Verfügung steht oder damit die Bereitschaft des Patienten, sich auf weitere Therapiemaßnahmen (KVT) einzulassen, erhöht werden kann.“[84]
Der Hauptnachteil einer rein medikamentösen Behandlung von Zwangsstörungen ist, dass die Rückfallraten nach dem Absetzen der Medikamente sehr hoch sind und bis zu 90 Prozent betragen können.[85][86][87][88] Allerdings weisen auch ca. 20 % der Patienten nach Verhaltenstherapien Rückfälle auf.[89] Bei schweren Verlaufsformen wird eine Kombination von Medikamenten und Expositionstherapie empfohlen.[90][91] Patienten mit Zwangsstörung und einer komorbiden Tic-Störung sollten gemäß der aktuell gültigen Leitlinie „mit einem SSRI und ggf. bei fehlender Therapieresponse zusätzlich mit Antipsychotika wie Risperidon oder Haloperidol behandelt werden“.[92] Die tiefe Hirnstimulation kommt nur unter kritischer Nutzen- und Risikoabwägung bei schwerstbetroffenen Patienten mit therapierefraktärer Zwangsstörung in Frage.[92]
Bei optimaler Therapie ist eine deutliche Besserung der Beschwerden und des Verlaufs in den meisten Fällen zu erwarten. Eine vollständige Heilung ist jedoch selten. Besonders bei abruptem Absetzen der Medikation und ungenügender verhaltenstherapeutischer Begleitung ist eine Verschlechterung der Symptomatik wahrscheinlich.
Es gibt verschiedene psychotherapeutische Verfahren, die zum Einsatz kommen können. Diese unterscheiden sich in Theorie und Methodik deutlich voneinander. Die unterschiedlichen Strategien der verschiedenen Therapieformen sind Gegenstand der Forschung sowie einer weitreichenden Theoriedebatte.[93] Die aktuelle deutsche S3-Leitlinie zur Zwangsstörung benennt verhaltenstherapeutische Verfahren als Mittel der ersten Wahl. Psychoanalytisch begründete Psychotherapieverfahren werden zur Therapie von Patienten mit Zwangsstörungen ebenfalls eingesetzt. Für dieses Verfahren liegt jedoch keine Evidenz aus randomisierten kontrollierten Studien vor.[92]
Mit der Verhaltenstherapie steht ein effektives psychotherapeutisches Behandlungsverfahren zur Verfügung. Eine frühe verhaltenstherapeutische Behandlung sollte nicht verzögert werden, weil eine Behandlung zu Beginn der Störung erfolgversprechender ist. Für Verhaltenstherapie (VT), Kognitive Therapie (KT) und Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) haben sich weder in der Wirksamkeit noch in der praktischen Durchführung Unterschiede ergeben.[92]
Neben der Verhaltenstherapie kommen auch heute noch psychodynamische Therapien wie die Psychoanalyse zum Einsatz. Eine psychodynamische Psychotherapie hat das Ziel, gehemmte Impulse bewusst zu machen und etwaige Konfliktspannungen als unbewusste Inszenierung auf Grundlage daraus abgeleiteter Konflikte aufzuarbeiten (z. B. zwischen Abhängigkeit und Autonomie, Unterordnung und Aufsässigkeit, Gehorsam und Sich-Auflehnen).
Zur Behandlung kommen primär Arzneistoffe aus dem Bereich der Psychopharmaka zum Einsatz. Häufig werden mehrere Medikamente kombiniert und es kann einige Zeit in Anspruch nehmen, bis ein Patient wirksam eingestellt ist.
Als wirksam zur Behandlung der Zwangsstörung haben sich in mehreren kontrollierten Studien diejenigen Antidepressiva erwiesen, die überwiegend oder selektiv eine Hemmung der Wiederaufnahme des Botenstoffs Serotonin bewirken, z. B. selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), zum Beispiel Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin oder das trizyklische Antidepressivum Clomipramin; in einer Studie hat sich auch Venlafaxin als wirksam bei Zwangsstörungen erwiesen.[107] In Deutschland sind zur Behandlung der Zwangsstörung Clomipramin, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin und Sertralin zugelassen.[107] Da kein Wirksamkeitsunterschied zwischen den SSRI und Clomipramin besteht, gelten die SSRI aufgrund der besseren Verträglichkeit als Mittel der 1. Wahl.[107] Für die medikamentöse Therapie der Zwangsstörung gelten einige Besonderheiten: Es sind meist höhere Dosen als in der Behandlung einer Depression notwendig; ein Therapieerfolg stellt sich oft erst nach einer Latenzzeit von zwei bis drei Monaten ein. Meist werden nur Besserungen um 40–50 % erreicht; es ist eine längerfristige medikamentöse Erhaltungstherapie (mindestens 12–24 Monate) erforderlich.[107] Bei Behandlungsresistenz kann der Wechsel auf einen anderen SSRI-Wirkstoff oder Clomipramin[108] oder Venlafaxin versucht werden.[107]
Bei alleiniger medikamentöser Therapie ist nach dem Absetzen des Antidepressivums in etwa 90 % der Fälle mit einem Rückfall zu rechnen. Absetzen der Medikamente sollte daher langsam ausschleichend und möglichst nur nach einer parallel durchgeführten Verhaltenstherapie erfolgen.[107] Eine alleinige medikamentöse Therapie ist indiziert, wenn eine geeignete Verhaltenstherapie nicht zur Verfügung steht bzw. eine lange Wartezeit erfordert oder wenn eine Motivation für eine Verhaltenstherapie nicht vorhanden ist.[107]
Bei ausbleibendem oder unzureichendem Ansprechen auf SSRI und Clomipramin und insbesondere bei gleichzeitigem Vorliegen von Tic-Störungen kann als Ergänzung eine zusätzliche Therapie mit den Antipsychotika Risperidon, Haloperidol oder, mit Einschränkung, auch Quetiapin versucht werden.[109] Bei der Behandlung mit Neuroleptika können Nebenwirkungen auftreten wie Müdigkeit, Benommenheit, Störungen von Konzentration und Reaktionsfähigkeit zu Beginn der Behandlung, langfristig Appetitsteigerung und Gewichtszunahme, hormonelle Störungen, sehr selten und nur in höherer Dosierung Bewegungsunruhe und motorische Eingebundenheit. Neuroleptika werden von manchen Autoren besonders dann empfohlen, wenn die Zwangsgedanken magischen Charakter haben, eine unzureichende Distanz zu den Zwangsinhalten besteht oder die Zwänge bizarr wirken.[110] In einer randomisierten klinischen Studie der Columbia University in New York ergaben sich jedoch im Rahmen des Untersuchungsdesigns Zweifel am Nutzen einer Augmentation von SSRI mit Neuroleptika.[111]
Es gibt Hinweise darauf, dass der Wirkstoff Acetylcystein ebenso wie andere Medikamente, die auf die glutaminergen Synapsen des Gehirns einwirken, zu einer Besserung von Zwangssymptomatiken führen kann.[112][113][114] Gleiches gilt für einige H1-Antihistaminika wie Diphenhydramin[115][116][117] und insbesondere Hydroxyzin, das auch ein starker Dopamin- und Serotonin 5-HT2 Antagonist ist.[118][119][120][121][122][123] Daneben gibt es sporadische Studien über diverse andere Wirkstoffe, die auf das serotonerge System (z. B. Inositol)[124][125] sowie die Acetylcholinrezeptoren (Anticholinergika) einwirken.[126][127][128][129]
Im Rahmen von Anwendungsbeobachtungen zeigte sich unter Einnahme von μ-Opioiden wie Hydrocodon oder Tramadol eine spontane Reduktion von Zwangssymptomen bei ansonsten behandlungsresistenten Patienten.[130][131] Breit angelegte Studien hierzu liegen allerdings nicht vor und Grund sowie Wirkungsweise für den beobachteten Effekt sind bis dato unklar.[132] Der Einsatz von Opiaten bei Zwangssymptomen ist somit experimentell und indikationsüberschreitend („off-label“); zudem sind bei gleichzeitiger Einnahme von CYP2D6-Inhibitoren wie Fluoxetin oder Paroxetin besondere Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, da die therapeutische Breite deutlich reduziert sein kann. Zudem besitzen Opiate ein erhebliches Suchtpotential.[133]
Zur Behandlung starker therapieresistenter Zwangsstörungen besteht die Möglichkeit der „Tiefen Hirnstimulation“ (Deep Brain Stimulation). Dabei werden dauerhaft Elektroden in das Hirn eingepflanzt, die elektrische Impulse eines an der Brust implantierten Schrittmachers in für die Entstehung von Zwangssymptomen entscheidende Hirnareale leiten. In den USA ist dieses Verfahren bereits seit 2009 von der Kontrollbehörde FDA für die Behandlung von Zwangsstörungen zugelassen.[134][135][136][137][138]
Neben der direkten Behandlung einer Zwangsstörung können begleitende Hilfsmaßnahmen wie bspw. das Einbinden des näheren sozialen Umfelds sich als hilfreich erweisen. Dies kann durch eine Familientherapie, Eheberatung oder Maßnahmen der sozialen Arbeit geschehen. Von besonderer Bedeutung sind zudem folgende Interventionen:
Psychoedukation: Darunter versteht man die Schulung und Unterweisung von Erkrankten oder ihren Angehörigen bzw. Bezugspersonen, um besser mit den Konsequenzen einer Zwangserkrankung umgehen zu können. Das Verständnis für die Ursachen und Auswirkungen der Krankheit kann sich auf die Behandlung des Erkrankten ebenso positiv auswirken wie auf seine sozialen Beziehungen. Auch der im Falle einer Zwangserkrankung bestehenden Gefahr einer sozialen Stigmatisierung kann mit psychoedukativen Verfahren begegnet werden.[139][140][141]
Selbsthilfe: Angesichts der großen Behandlungslücke bei Zwang gewinnt die effektive Selbsthilfe zunehmend an Bedeutung: Nur 40 % bis 60 % der Betroffenen suchen therapeutische Hilfe auf.[142][143] Die wenigen bisher durchgeführten Effektivitätsstudien sprechen für den Nutzen von Selbsthilfe bei Zwang.[144] In einer Studie von Tolin und Kollegen[145] erwies sich ein Selbsthilfeansatz (Exposition mit Reaktionsverhinderung) als effektiv, wenngleich die therapeutengeleitete Intervention etwas bessere Ergebnisse erzielte. In allen bisherigen Studien zu Selbsthilfe bei Zwang war jedoch wenigstens ein marginaler direkter Therapeutenkontakt vorgesehen,[144] was die Übertragbarkeit der erzielten Ergebnisse auf reine Selbstanwendung einschränkt. Im deutschen Sprachraum liegen eine Reihe von Selbsthilfebüchern vor (siehe Literatur). Laut einer 2019 publizierten Meta-Analyse führt ein metakognitiver Selbsthilfeansatz[146] zu einer signifikanten Abnahme der Zwangssymptomatik im Vergleich zu Kontrollbedingungen (Effektstärke d = .40).[147]
An einer schweren chronischen Zwangsstörung leidende Patienten, bei denen die Funktionsfähigkeit in Beruf und Sozialleben beeinträchtigt ist, haben die Möglichkeit, ihren Grad der Schwerbehinderung begutachten zu lassen und durch die entsprechenden gesetzlichen Schutzregelungen für Behinderte Erleichterungen in verschiedenen Lebensbereichen zu erfahren. Der Grad der Schwerbehinderung bei einer schweren Zwangsstörung kann bis zu 100 betragen.[148]
Leitlinien
Fachbücher
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