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Arzneimittel, Untergruppe der Psychopharmaka Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Ein Neuroleptikum (Mehrzahl Neuroleptika; von altgriechisch νεῦρον neũron, deutsch ‚Nerv‘, λῆψις lepsis, deutsch ‚ergreifen‘)[1] oder Antipsychotikum ist ein Arzneistoff aus der Gruppe der Psychopharmaka, die eine dämpfende (sedierende) und antipsychotische (den Realitätsverlust bekämpfende) Wirkung besitzen.[2]
Hauptsächlich werden Neuroleptika zur Behandlung von Wahnvorstellungen und Halluzinationen eingesetzt, wie sie etwa im Rahmen einer Schizophrenie oder Manie auftreten können.[3]
Zusätzlich werden sie auch als Beruhigungsmittel verwendet, etwa bei Unruhe, Ängsten oder Erregungszuständen.[4] In diesem Zusammenhang werden sie häufig in Altenheimen eingesetzt.[5][6] In neuerer Zeit werden Neuroleptika zunehmend bei folgenden psychischen Erkrankungen verwendet:
Ausgangspunkt der Entwicklung von Neuroleptika war die deutsche Farbstoffindustrie Ende des 19. Jahrhunderts. Damals stellte die Firma BASF chemische Farbstoffe her, die bald auch in der Histologie Verwendung fanden. Bei bestimmten Farbstoffen stellte man eine antibiotische Wirksamkeit fest, beispielsweise wirkte der Stoff Methylenblau, ein Phenothiazin-Derivat, gegen Malaria. Bei Anwendung der Phenothiazinderivate wie Promethazin stellte man eine sedierende und antihistaminerge Wirkung fest. Dies sollte bei kriegsbedingten Schock- und Stressreaktionen und bei Operationen von Vorteil sein. Die zusätzlichen vegetativen (sympathico- und vagolytischen) Eigenschaften wurden als „künstlicher Winterschlaf“ bezeichnet und sollten bei größeren Operationen hilfreich sein. Zusammen mit Opiaten wurde damals von Neuroleptanästhesie gesprochen.
Der erste Wirkstoff, der als antipsychotisch wirksames Medikament vermarktet wurde, ist das Chlorpromazin.[13] Es wurde im Jahr 1950 erstmals in Frankreich bei Forschungen zu antihistaminisch wirksamen Substanzen vom Chemiker Paul Charpentier bei der Firma Rhône-Poulenc synthetisiert. Seine antipsychotische Wirkung wurde zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht erkannt. Im Jahre 1952 erprobte der französische Chirurg Henri Marie Laborit auf der Suche nach einem wirksamen Anästhetikum mehrere Antihistaminika. Er bemerkte, dass diese Stoffe eine sedierende und angstlösende Wirkung zu haben schienen, allen voran das Chlorpromazin.
Zwischen April 1951 und März 1952 wurden 4000 Proben an über 100 Forscher in 9 Länder verschickt. Am 13. Oktober 1951 erschien der erste Artikel, in dem Chlorpromazin öffentlich erwähnt wurde. Laborit berichtete über seine Erfolge mit der neuen Substanz bei der Anästhesie. Die beiden französischen Psychiater Jean Delay und Pierre Deniker gaben am 26. Mai 1952 bekannt, dass sie eine beruhigende Wirkung bei Patienten mit Manie gesehen hätten. Sowohl die Effekte in der Anästhesie als auch die psychotropen Wirkungen bezeichneten sie als Neurolepsie, was sich auf den neuronalen Einfluss der Medikamente bezog und zur Bezeichnung der neuen Stoffklasse führte.[14] Während Chlorpromazin am Anfang noch gegen viele verschiedene Störungen eingesetzt wurde, zeigte sich später als wichtigste Indikation eine spezifische Wirkung gegen psychomotorische Unruhe, vor allem bei der Schizophrenie.
Ab 1953 wurde das Chlorpromazin als Megaphen (Deutschland 1. Juli 1953) oder Largactil in Europa vermarktet, 1955 kam es in den USA unter dem Namen Thorazine auf den Markt. Die heute gebräuchliche Bezeichnung „Neuroleptikum“ wurde 1955 von Delay und Deniker eingeführt. Sie hatten beobachtet, dass Reserpin und Chlorpromazin sehr ähnliche extrapyramidale Nebenwirkungen haben.[15] Das neue Medikament wurde in den USA als „chemische Lobotomie“ beworben,[16][17][18] ähnlich wie später die medikamentöse „Lobotomie“ mit dem Medikament Reorganin (Guajacolglycerinaether) der Firma Dr. Christian Brunnengräber in Lübeck.[19]
Neuroleptika revolutionierten[17] die Behandlung von psychotischen Störungen.[20] Vor Einführung der Neuroleptika stand Menschen, die an einer akuten Psychose litten, keine symptomatische Behandlungsmethode zur Verfügung. Sie wurden gegen ihren Willen mit kalten Duschen übergossen oder angekettet,[21] im Mittelalter auch ausgepeitscht oder gar auf dem Scheiterhaufen verbrannt.[22] Aber auch bis hinein in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts stand vielen keine adäquate Behandlungsmöglichkeit zur Verfügung. Oft mussten Erkrankte aufgrund fehlender Selbständigkeit oder drohender Eigen- und Fremdgefährdung in eine psychiatrische Klinik eingeliefert und solange dort behalten werden, bis die Symptome mit der Zeit abklangen. Als Behandlungsmöglichkeiten standen dort lediglich Schutzmaßnahmen wie Freiheitsentzug oder medikamentöse Sedierung zur Verfügung, um die Patienten daran zu hindern, sich selbst oder Dritte in ihrem wahnhaften Zustand zu schädigen. In den USA wurde, um Erkrankte ruhig zu stellen, bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die Lobotomie angewandt; eine neurochirurgische Operation, bei der die Nervenbahnen zwischen Thalamus und Frontallappen getrennt sowie Teile der grauen Substanz entnommen werden.
Mit Einführung der Neuroleptika konnten die Symptome der Patienten erstmals gezielter bekämpft werden, was die Dauer des krankhaften Zustandes und damit auch die nötige Aufenthaltsdauer in den Kliniken reduzierte. Die Verwendung von Neuroleptika setzte sich vor allem in Europa schnell durch. In den USA waren noch längere Zeit andere Behandlungsmethoden wie Lobotomie und Psychoanalyse gebräuchlich. Heute ist die Gabe von Neuroleptika in den Industrieländern die Standardmethode bei behandlungsbedürftigen Psychosen.[23]
Die klassischen Neuroleptika verursachten neben der erwünschten antipsychotischen Wirkung eine Reihe von Nebenwirkungen, darunter das sogenannte extrapyramidale Syndrom. Dabei handelt es sich um Störungen der Bewegungsabläufe, die sich beispielsweise in Form einer Sitzunruhe oder einer Muskelstarrheit ähnlich wie bei Parkinson-Erkrankten äußern. Der Psychiater Hans-Joachim Haase war auf der Suche nach der optimalen Dosierung von Neuroleptika zu der Überzeugung gelangt, dass eine Substanz umso stärker antipsychotisch wirke, je größer diese extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen seien. Er führte 1961 die Begriffe „neuroleptische Schwelle“ und „neuroleptische Potenz“ ein.[24]
Die neuroleptische Schwelle definierte Haase als die minimale Dosis eines Wirkstoffes, bei der messbare extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen auftreten. Als Messverfahren entwickelte er einen Test der feinmotorischen Fähigkeiten, der auf Beobachtung der Handschrift basiert und später als Haase-Schwellentest bekannt wurde. Die neuroleptische Schwellendosis war laut Haase zugleich die minimale antipsychotisch wirksame Dosis.[24][25]
Die neuroleptische Potenz definierte er als ein Maß für die Wirksamkeit einer Substanz. Je höher die neuroleptische Potenz eines Wirkstoffes, desto geringer ist die Dosis, die zum Erreichen der neuroleptischen Schwelle nötig ist.[24]
Haases Beobachtungen führten nach ihrer Veröffentlichung zu einer massiven Verringerung der in Europa und den USA verabreichten Neuroleptika-Dosierungen.[26][27]
Für die später eingeführten Neuroleptika der zweiten Generation, den sogenannten atypischen Neuroleptika, verloren die Konzepte von Haase ihre Gültigkeit, da bei ihnen kein direkter Zusammenhang mehr zwischen der antipsychotischen Wirkung und dem Auftreten von extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen besteht.[24][25]
Die Einführung der Neuroleptika stellte zwar einen Durchbruch dar, bei 30–40 % der Patienten waren sie jedoch unwirksam.[20] Mit dem Clozapin wurde im Jahre 1971 eine neue Generation von Neuroleptika eingeführt, die sogenannten atypischen Neuroleptika. Sie versprachen eine vergleichbare antipsychotische Wirkung bei geringen oder fehlenden extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen,[28][29] zudem wirkten sie auch auf die sogenannten Negativsymptome der Schizophrenie.[20][29] Sie lösten die älteren Medikamente als Mittel der ersten Wahl ab[30] und wirkten häufig auch bei Patienten, die auf die bisherigen Medikamente nicht ansprachen.[28][20][29] Zur Abgrenzung gegen die bisherigen Neuroleptika werden diese neuen Wirkstoffe als atypische Neuroleptika oder Neuroleptika der zweiten Generation (seit 1994) bezeichnet, die alten Wirkstoffe hingegen als typische, konventionelle oder klassische Neuroleptika.[25] Seitdem wurde eine Reihe weiterer atypischer Neuroleptika erforscht und auf den Markt gebracht.[28]
Der genaue Wirkmechanismus von Neuroleptika ist nicht vollständig geklärt und Gegenstand aktueller Forschung. Nach der gängigen Dopaminhypothese der Schizophrenie werden sogenannte Positivsymptome wie Halluzinationen und Wahngedanken durch eine erhöhte Konzentration des Neurotransmitters Dopamin im mesolimbischen Trakt des Gehirns verursacht.[31]
Neuroleptika hemmen die Signalübertragung von Dopamin im Gehirn durch ihre antagonistische Wirkung auf postsynaptische D2-Rezeptoren. Die daraus resultierende Hemmung der mesolimbischen Bahnen könnte demzufolge die antipsychotische Wirkung erklären.[32]
Die klassischen, auch als dopamin-antagonistisch bezeichneten Neuroleptika wirken in dieser Hinsicht jedoch wenig spezifisch, da sich ihre dopaminhemmende Wirkung nicht nur auf die mesolimbischen Bahnen, sondern auf das gesamte dopaminerge System erstreckt. Dadurch entstehen neben der erwünschten antipsychotischen Wirkung auch eine Reihe von Nebenwirkungen. Im nigrostriatalen System wirken Neuroleptika störend auf körperliche Bewegungsabläufe, bei denen Dopamin eine wichtige Rolle spielt. Auch wirken klassische Neuroleptika nicht auf die sogenannten Negativsymptome der Schizophrenie, sondern können sie sogar verschlimmern, da sie gemäß der Dopaminhypothese durch eine verminderte Dopaminkonzentration im mesokortikalen System des Gehirns verursacht werden.[32][31]
Die neueren atypischen Neuroleptika haben eine mit den klassischen Neuroleptika vergleichbare antipsychotische Wirkung, verursachen aber weniger extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen und wirken zusätzlich auch auf die sogenannten Negativsymptome der Schizophrenie. Diese Eigenschaften werden auf Besonderheiten ihres Rezeptorbindungsprofils zurückgeführt, das sich je nach Wirkstoff signifikant unterscheiden kann. So wird etwa eine spezifischere Bindung an die mesolimbischen D2-Rezeptoren vermutet. Die Interaktion mit Rezeptoren weiterer Neurotransmitter wie Serotonin, Acetylcholin, Histamin und Noradrenalin könnte die zusätzliche Wirkung auf die Negativsymptome erklären.[32]
Neuroleptika wirken symptomatisch, können also psychische Krankheiten nicht im eigentlichen Sinne heilen. Symptome wie Halluzinationen, Wahn oder Erregungszustände können aber zumindest für die Dauer der medikamentösen Behandlung unterdrückt werden. Dies ermöglicht dem Patienten eine Distanzierung von der Erkrankung, sodass er seinen eigenen Zustand als krankhaft erkennen kann.
Die möglichen unerwünschten Wirkungen hängen stark vom jeweiligen Wirkstoff und der Dosierung ab.
Bei den unerwünschten Wirkungen sind solche vegetativer Art (hormonelle und sexuelle Störungen, Muskel- und Bewegungsstörungen, Schwangerschaftsschäden, Körpertemperaturstörungen etc.) und solche psychischer Art (sedierende Wirkungen unter anderem mit erhöhter Sturzgefahr, Depressionen, Antriebslosigkeit, emotionale Verarmung, Verwirrtheit, Delir und andere Wirkungen auf das Zentralnervensystem mit erhöhter Sterblichkeit bei Demenzkranken[33]) zu unterscheiden.
Eine Folge der hemmenden Wirkung auf den Überträgerstoff Dopamin ist die Störung von körperlichen Bewegungsabläufen, da Dopamin daran wesentlich beteiligt ist. Da diese Störungen das extrapyramidalmotorische System betreffen, werden sie auch als extrapyramidales Syndrom zusammengefasst.[34] Sie lassen sich weiter unterteilen in folgende Symptome:
Ein Anticholinergikum wie Biperiden kann diesen Symptomen entgegenwirken und daher ergänzend verabreicht werden.[35] Spätdyskinesien sprechen darauf allerdings nicht an.
Die Behandlung mit hochpotenten Neuroleptika kann zu einem dosis- und zeitabhängigen Umbau der Struktur des Gehirns mit einer Verschiebung des Verhältnisses von grauer zu weißer Substanz und einer Verringerung des Volumens verschiedener seiner Strukturen (Neurodegeneration) führen.[36]
Zwar geht bereits eine Schizophrenie als solche mit einem geringeren Hirnvolumen gegenüber gesunden Vergleichspersonen einher, es gibt jedoch eindeutige Hinweise in zahlreichen Studien und Befunden, dass die Medikamente unabhängig davon eine weitere Reduktion des Hirnvolumens bewirken können. Es gibt Hinweise, dass die Volumenreduktion mit einer Verschlechterung kognitiver Fähigkeiten einhergeht, etwa einer schlechteren Orientierung, Defiziten bei verbalen Aufgaben, nachlassender Aufmerksamkeit und einem geringeren Abstraktionsvermögen. Diese Beeinträchtigungen stehen in direktem Zusammenhang mit der Höhe der verabreichten Dosis. Dabei sind besonders ältere Empfehlungen problematisch, die auf heute als unnötig hoch erachteten Dosierungen und zu langen Behandlungszeiträumen basieren. Geringere und zeitlich beschränkte Dosierungen können demnach die Schädigungen begrenzen.[37] Die wichtigste deutsche Fachvereinigung für Psychiater, die DGPPN, behandelte die Problematik, die in neuerer Zeit immer mehr Beachtung findet, im Rahmen ihres Jahreskongresses.[38]
Weitere mögliche unerwünschte Wirkungen sind Leber- oder Nierenfunktionsstörungen, Herzrhythmusstörungen (mit Veränderung der QT-Zeit), Funktionsstörung der Bauchspeicheldrüse, Einschränkungen von Sexualität und Libido, Gewichtszunahme,[39] Hormonstörungen (u. a. bei Frauen: Störungen der Regelblutung). Fallkontrollstudien zeigten auch ein um etwa ein Drittel erhöhtes Risiko für eine Thromboembolie.[40]
Eine Reihe von Neuroleptika zeigen anticholinerge Wirkungen (so Chlorpromazin, Thioridazin, Fluphenazin, Perazin, Melperon und Clozapin).[41]
Bei Vorliegen einer entsprechenden Disposition können Neuroleptika der Auslöser für sogenannte Gelegenheitsanfälle sein.
Seltene (bis zu 0,4 %), aber unter Umständen lebensgefährliche Nebenwirkungen sind das maligne neuroleptische Syndrom mit Fieber, Muskelsteifigkeit und Bewegungsstarre, Bewusstseinsstörungen, starkem Schwitzen und beschleunigter Atmung sowie Störungen der Bildung weißer Blutkörperchen (Agranulozytose).
Bestimmte Neuroleptika dürfen unter anderem nicht eingenommen werden bei einigen Blutbildveränderungen (z. B. Clozapin), Hirnerkrankungen, akuten Vergiftungen, bestimmten Herzerkrankungen sowie bei schweren Leber- und Nierenschäden. Die Einnahme von Neuroleptika zusammen mit Alkohol oder Beruhigungsmitteln kann zu einer gefährlichen Wirkungsverstärkung führen. Tee, Kaffee und andere koffeinhaltige Getränke können die Wirkung von Neuroleptika verringern. Durch Neuroleptika kann es zu einer Beeinträchtigung des Reaktionsvermögens kommen. Die Fahrtüchtigkeit kann eingeschränkt sein, und es kann zu einer Gefährdung am Arbeitsplatz (zum Beispiel beim Bedienen von Maschinen) kommen.
Antipsychotika schränken Problemlösen[42] und Lernen[43] ein. Sie werden mit der Entstehung von Hypophysentumoren in Verbindung gebracht[44] und können im Alter zu Stürzen führen. Nach Auswertungen mehrerer Studien (Metaanalysen)[45][46] führt die Verabreichung von Antipsychotika bei dementiellen Patienten zu einem erhöhten Mortalitätsrisiko im Vergleich zur Placeboverabreichung.
Psychische Nebenwirkungen: Bei 10 – 60 % der mit typischen Neuroleptika Behandelten kommt es zu pharmakogener Anhedonie[47] oder Dysphorie.[48][49][50] Auch bei Atypika treten diese Nebenwirkungen auf, allerdings weniger häufig.[51]
Der Einfluss von Antipsychotika auf die Lebenserwartung ist umstritten. So erklärte Friedrich Walburg, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP), 2007:[52] „Anders als häufig angenommen, erhöhen Neuroleptika aber die Lebenserwartung der Patienten nicht. Vielmehr sinkt sie sogar.“
Eine finnische Studie von 2009, die 66881 Schizophreniepatienten in Finnland umfasste und über elf Jahre (1996–2006) lief, konnte jedoch zeigen, dass Patienten mit einer schizophrenen Erkrankung länger lebten, wenn sie antipsychotisch behandelt wurden.[53]
Auch innerhalb der Psychiatrie gibt es eine andauernde Debatte über die Vor- und Nachteile der Neuroleptika, die als Neuroleptikadebatte in den Medien bekannt geworden ist. Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie hat dazu eine eigene Informationsseite, die mit neuen Informationen aktualisiert wird.[54] Die Soteria Bewegung versucht mit wenig oder keinen Neuroleptika die Schizophrenie zu behandeln.
Seit den 1950er-Jahren finden die trizyklischen Neuroleptika therapeutische Anwendung. Sie besitzen ein trizyklisches Phenothiazin- (Phenothiazine: zum Beispiel Chlorpromazin, Fluphenazin, Levomepromazin, Prothipendyl, Perazin, Promazin, Thioridazin und Triflupromazin) oder Thioxanthenringsystem (Thioxanthene: zum Beispiel Chlorprothixen und Flupentixol). Das trizyklische Promethazin war zudem das erste therapeutisch genutzte Antihistaminikum. Strukturell ähneln trizyklische Neuroleptika weitgehend den trizyklischen Antidepressiva. Unterschiede in der pharmakologischen Wirkung zwischen beiden Substanzklassen werden mit einer voneinander abweichenden dreidimensionalen Konformation des trizyklischen Ringsystems in Verbindung gebracht.
Von den älteren trizyklischen Neuroleptika sind die neueren trizyklischen Dibenzepine (zum Beispiel Clozapin, Olanzapin, Quetiapin und Zotepin) abzugrenzen. Sie verfügen über ein Dibenzothiepin- (Zotepin), Dibenzodiazepin- (Clozapin), Thienobenzodiazepin- (Olanzapin) oder ein Dibenzothiazepin-Ringsystem (Quetiapin), welche eine von den klassischen trizyklischen Neuroleptika abweichende dreidimensionale Anordnung besitzen und somit für deren abweichende (atypische) pharmakologische Wirkung verantwortlich sind.
Die Butyrophenone (z. B. Haloperidol, Melperon, Bromperidol und Pipamperon) zeichnen sich chemisch durch einen 1-Phenyl-1-butanon-Baustein aus. Ausgehend vom Haloperidol wurden zahlreiche weitere Neuroleptika entwickelt, etwa das Spiperon mit klar erkennbarer Strukturverwandtschaft zu den Butyrophenonen. Therapeutische Anwendung finden auch die abgeleiteten Diphenylbutylpiperidine Fluspirilen und Pimozid.
Eine Sonderstellung nehmen die Benzamide (Wirkstoffe Sulpirid und Amisulprid) ein, die außer einem neuroleptischen noch einen gewissen stimmungsaufhellenden, aktivierenden Effekt haben.
Zwischen den Atypika Risperidon und Ziprasidon bestehen ebenfalls Strukturparallelen, sie können als entfernt mit Haloperidol verwandt betrachtet werden. Das neuere Aripiprazol weist einige Gemeinsamkeiten mit den älteren Substanzen auf. Während Risperidon besonders stark antipsychotisch wirkt, zeigt Ziprasidon noch einen Noradrenalin-spezifischen Effekt. Aripiprazol und Cariprazin sind Partialagonisten an Dopamin-Rezeptoren und unterscheiden sich dadurch von den meisten anderen Neuroleptika.
Das pentazyklische Rauvolfia-Alkaloid Reserpin hat in der Therapie der Schizophrenie nur noch historische Bedeutung.
Neuroleptika werden in verschiedenen Darreichungsformen angeboten. Am häufigsten ist dabei die orale Einnahme in Tablettenform, seltener in flüssiger Form als Tropfen oder Saft. Flüssige Präparate sind zumeist teurer, haben aber den Vorteil einer besseren Resorption im Magen-Darm-Trakt, auch kann bei unkooperativen Patienten die Einnahme besser kontrolliert werden.[55] In psychiatrischen Kliniken und in der Notfallmedizin werden Neuroleptika auch intravenös verabreicht, um etwa in Krisensituationen einen schnelleren Wirkungseintritt herbeizuführen.
Für die Langzeittherapie existieren sogenannte Depotpräparate, die mit einer Spritze intramuskulär verabreicht werden. Die Bezeichnung „Depot“ kommt daher, dass der injizierte Wirkstoff im Muskelgewebe gespeichert bleibt und von dort langsam in den Blutkreislauf abgegeben wird. Eine Auffrischung der Dosis ist erst nach mehreren Wochen nötig, wenn das Depot erschöpft ist. Dadurch erhöht sich die tendenziell geringe Compliance von Neuroleptika-Patienten, da ein Vergessen oder eigenmächtiges Absetzen der Medikation für diesen Zeitraum ausgeschlossen wird. Depotpräparate besitzen im Vergleich zur oralen und intravenösen Verabreichung pharmakokinetische Vorteile wie eine bessere Verfügbarkeit und durch die langsame, kontinuierliche Freisetzung des Wirkstoffes im Blut einen stabileren Plasmaspiegel, wodurch Nebenwirkungen verringert werden können.[56]
Im Rahmen einer Zwangsbehandlung können Neuroleptika in psychiatrischen Kliniken unter bestimmten Voraussetzungen auch gegen den Willen des Patienten verabreicht werden. Hierbei kommen häufig injizierbare Präparate zum Einsatz, da zur oralen Einnahme bestimmte Präparate von unkooperativen Patienten ausgespuckt oder im Mund versteckt werden können.
Klassische Neuroleptika wurden hinsichtlich ihres Wirkungsspektrums früher in sogenannte hoch- und niederpotente Wirkstoffe eingeteilt. Die Potenz ist ein Maß für die antipsychotische Wirksamkeit eines Wirkstoffs bezogen auf die Menge. Jeder Wirkstoff hat sowohl eine antipsychotische (den Realitätsverlust bekämpfende) als auch eine sedierende (beruhigende) Wirkkomponente, die jeweils unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Ebenso unterscheiden sich die Abbruchraten einer medikamentösen Behandlung aufgrund der jeweiligen Nebenwirkungen. Antipsychotische Neuroleptika wirken hauptsächlich antipsychotisch und weniger sedierend. Sie eignen sich besonders zur Behandlung von sogenannten Positivsymptomen wie Wahn und Halluzinationen. Bei den sedierenden Stoffen ist es umgekehrt, sie wirken hauptsächlich sedierend und kaum antipsychotisch. Daher werden sie bei Symptomen wie Unruhe, Angst, Schlafstörungen und Erregungszuständen verabreicht.[4] Auch eine kombinierte Einnahme ist möglich. Häufig bei der Behandlung einer akuten Psychose ist beispielsweise die tägliche Gabe eines antipsychotisch wirksamen Stoffes, während ein sedierendes Präparat bei Bedarf zusätzlich eingenommen werden kann.[2] Eine Meta-Analyse aus dem Jahr 2013 über 15 Neuroleptika schlug eine feinere Einteilung nach der jeweiligen Indikation und Wirksamkeit vor.[57]
Zur Einteilung der Wirkstoffe in hoch- und niederpotent kann man ihre sogenannte Äquivalenzdosis heranziehen. Die Äquivalenzdosis ist ein Maß für die antipsychotische Wirksamkeit einer Substanz und wird mit der Einheit Chlorpromazin-Äquivalent (CPZ) angegeben. Als Referenzwert von 1 wurde Chlorpromazin festgelegt, der erste als Neuroleptikum verwendete Wirkstoff. Ein Wirkstoff mit einem CPZ von 2 ist doppelt so stark antipsychotisch wirksam wie Chlorpromazin.[25]
Das Konzept der Äquivalenzdosis ist vor allem im Zusammenhang mit den typischen Neuroleptika von Bedeutung, da sich diese in ihrer Wirkungsweise und den auftretenden Nebenwirkungen ähneln. Sie unterscheiden sich hauptsächlich in ihrem Verhältnis von sedierender zu antipsychotischer Wirkung. Die atypischen Neuroleptika unterscheiden sich wesentlich stärker hinsichtlich ihrer Wirkungsweise, Nebenwirkungen und Einsatzgebiete, wodurch ein direkter Vergleich mittels einer Äquivalenzdosis an Bedeutung verliert.[58]
Die Einteilung der Wirkstoffe (nach Möller, 2001) wird anhand ihrer Chlorpromazin-Äquivalenzdosis vorgenommen:
Neuroleptikum (Arzneistoff) |
Stoffklasse | CPZ- Äquivalent X |
mittlere (–max.) Dosis je Tag in mg |
Handelsname(n) |
---|---|---|---|---|
Hochpotente N.: | ||||
Benperidol | Butyrophenon | 75 | 1,5–20 (–40) | Glianimon |
Haloperidol | Butyrophenon | 50 | 1,5–20 (–100) | Haldol |
Bromperidol | Butyrophenon | 50 | 5–20 (–50) | Impromen |
Flupentixol | Thioxanthen | 50 | 3–20 (–60) | Fluanxol |
Fluspirilen | DPBP | 50 | 1,5–10 mg/Wo. (max.) | Imap |
Olanzapin | Thienobenzodiazepin | 50 | 5–30 (max.) | Zyprexa |
Pimozid | DPBP | 50 | 1–4 (–16) | Orap |
Risperidon | Benzisoxazolderivat | 50 | 2–8 (–16) | Risperdal |
Fluphenazin | Phenothiazin | 40 | 2,5–20 (–40) | Lyogen |
Trifluoperazin | Phenothiazin | 25 | 1–6 (–20) | |
Perphenazin | Phenothiazin | 15 | 4–24 (–48) | Decentan |
Mittelpotente N.: | ||||
Zuclopenthixol | Thioxanthen | 5 | 20–40 (–80) | Clopixol |
Clopenthixol | Thioxanthen | 2,5 | 25–150 (–300) | |
Chlorpromazin | Phenothiazin | 1 | 25–400 (–800) | |
Clozapin | Dibenzodiazepin | 1 | 12,5–450 (–900) | Leponex |
Melperon | Butyrophenon | 1 | 25–300 (–600) | Eunerpan |
Perazin | Phenothiazin | 1 | 75–600 (–800) | Taxilan |
Quetiapin | Dibenzothiazepin | 1 | 150–750 (max.) | Seroquel |
Thioridazin | Phenothiazin | 1 | 25–300 (–600) | |
Niedrigpotente N.: | ||||
Pipamperon | Butyrophenon | 0,8 | 40–360 (max.) | Dipiperon |
Triflupromazin | Phenothiazin | 0,8 | 10–150 (–600) | Psyquil |
Chlorprothixen | Thioxanthen | 0,8 | 100–420 (–800) | Truxal |
Prothipendyl | Azaphenothiazin | 0,7 | 40–320 (max.) | Dominal |
Levomepromazin | Phenothiazin | 0,5 | 25–300 (–600) | Neurocil |
Promazin | Phenothiazin | 0,5 | 25–150 (–1.000) | Prazine |
Promethazin | Phenothiazin | 0,5 | 50–300 (–1.200) | Atosil |
Amisulprid | Benzamid | 0,2 | 50–1.200 (max.) | Solian |
Sulpirid | Benzamid | 0,2 | 200–1.600 (–3.200) | Dogmatil |
(Modifiziert nach Möller 2001, S. 243)
Die Neuroleptika der ersten Generation, auch als typische Neuroleptika bezeichnet, sind bei 30–40 % der Patienten unwirksam.[20] Außerdem verursachten sie neben der erwünschten antipsychotischen Wirkung eine Reihe von Nebenwirkungen, darunter das sogenannte extrapyramidale Syndrom. Dabei handelt es sich um Störungen der Bewegungsabläufe, die sich beispielsweise in Form einer Sitzunruhe oder einer Muskelstarrheit ähnlich wie bei Parkinson-Erkrankten äußern. Je stärker ein typisches Neuroleptikum antipsychotisch wirkt, desto stärker sind auch diese Nebenwirkungen. Zudem wirken die typischen Neuroleptika nicht gegen die sogenannten Negativsymptome der Schizophrenie und können diese sogar verschlimmern.
Die neueren, sogenannten atypischen Neuroleptika zeichnen sich dadurch aus, dass sie in wesentlich geringerem Maße extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen verursachen.[28][29] Sie lösten die typischen Neuroleptika als Mittel der ersten Wahl ab[59] und wirken häufig auch bei Patienten, die auf die bisherigen Medikamente nicht ansprechen.[28][20][29] Zudem wirken sie auch auf die sogenannten Negativsymptome der Schizophrenie.[20][29] Den atypischen Neuroleptika wird ein insgesamt günstigeres Nebenwirkungsprofil zugeschrieben, was sich positiv auf die vergleichsweise geringe Compliance von Neuroleptika-Patienten auswirkt. Im Gegenzug können sie jedoch andere, neue Nebenwirkungen wie starke Gewichtszunahme aufweisen.[39]
Die Unterschiede zwischen typischen und atypischen Präparaten wurden durch eine Vielzahl an vergleichenden Studien untersucht.[60][61][62][63][64] Im Jahre 2009 wurde eine deutschlandweite, durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Studie ins Leben gerufen, die häufig verschriebene atypische Neuroleptika hinsichtlich Wirksamkeit und Nebenwirkungsprofil mit klassischen Neuroleptika vergleicht und bis heute andauert.[65]
Kritisiert wird das Kosten-Nutzen-Verhältnis moderner atypischer Neuroleptika.[66][29] Die neuesten Präparate sind deutlich teurer als diejenigen, die aufgrund des abgelaufenen Patentschutzes als Generika verfügbar sind. Atypische Neuroleptika machten 2011 in Deutschland etwa die Hälfte aller verschriebenen Neuroleptika aus, waren aber für 87 % der erzielten Umsätze verantwortlich.[67] Laut einem von der Barmer GEK veröffentlichten Arzneimittelreport waren im Jahr 2011 unter den 20 am meisten Kosten verursachenden Präparaten mit Seroquel und Zyprexa zwei atypische Neuroleptika vertreten.[68] Der Arzneiverordnungs-Report 2012 kritisiert die hohen Kosten einiger atypischen Präparate und ist der Ansicht, dass ältere, jedoch ähnlich gut wirksame Alternativen zur Verfügung stehen, deren Verwendung deutliche Einsparungen ermöglichen würden.[69]
Neuroleptika sind heute nach den Antidepressiva die am häufigsten verordneten Psychopharmaka, bei den erzielten Umsätzen liegen sie sogar an erster Stelle.[70] Bei der Behandlung der Schizophrenie gelten sie heute als Mittel der Wahl.[23] Aber auch als Beruhigungsmittel sind sie verbreitet, etwa im Bereich der Altenpflege.[3] Etwa 30–40 % der Bewohner in Altenheimen erhalten Neuroleptika.[5][6]
Bisherigen Studienergebnissen zufolge verringert eine präventive Langzeitbehandlung mit Neuroleptika bei Schizophreniekranken die Wahrscheinlichkeit, einen Rückfall zu erleiden.[71] Einer anderen Studie zufolge können jedoch Schizophreniekranke, die nicht mit Neuroleptika behandelt werden, unter Umständen weniger psychotische Rezidive erleiden als solche, die regelmäßig Neuroleptika einnehmen. Personeninterne Faktoren beeinflussen die Wahrscheinlichkeit, ein Rezidiv zu erleiden, möglicherweise stärker als die Verlässlichkeit der Medikamenteneinnahme.[72]
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