Loading AI tools
Romanform Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Ein historischer Roman ist ein fiktionales Prosawerk, dessen Handlung in einer historischen Zeit spielt und dessen Inhalt in belletristischer Form um geschichtliche Vorgänge und Personen kreist, ohne dass ein zwangsläufiger Anspruch auf wissenschaftliche Richtigkeit besteht.
Der historische Roman gilt laut Rainer Schönhaar als ein „Romantypus, der historische Gestalten und Vorfälle behandelt oder doch in historisch beglaubigter Umgebung spielt und auf einem bestimmten Geschichtsbild beruht“.[1]
Die zeitliche Distanz macht in der Regel eine aufwendige Recherche, bestehend aus der Lektüre von Geschichtsdarstellungen, oder einen direkten Zugang zu Quellen unumgänglich. Die Forderung nach einer Authentizität des Historischen ist ein Relikt aus der Entstehungszeit der frühen historischen Romane, die zusammenfällt mit den neuzeitlichen Bestrebungen korrekte Darstellungen der Geschichte zu liefern, welche nicht länger bloß Herrscherlob oder die nachträgliche Legitimation politischer Entscheidungen verfolgen, sondern die Geschichte zum Gegenstand einer kritischen Betrachtung erheben. Das Werk des französischen Aufklärers Voltaire, darunter seine Schriften Histoire de Charles XII und Le Siècle de Louis XIV riefen aufgrund ihrer bestreitbaren Akkuratesse wie unbestreitbaren Darstellungskunst Kritik hervor. Der historische Roman wird daher seitens Vertretern der Geschichtswissenschaft – obgleich es sich um ein Kunstwerk handelt – bezüglich der Richtigkeit aufgestellter Tatsachen wie aus geschichtspolitischer Sorgfalt kritisiert. Dagegen steht die deskriptive Herangehensweise der Literaturwissenschaft, die beispielsweise Anachronismen auch als eigenständige ästhetische Signale wertet.
Ein historischer Roman kann von fiktiven Personen handeln, die in einer bestimmten Epoche leben, oder von historischen Personen. Im letzteren Fall werden tatsächliche Erlebnisse der Person narrativ aufgearbeitet oder Erlebnisse erfunden. Da Romane den Gesetzen der Erzählkunst folgen und nicht denen der Geschichtswissenschaft, kann ein Schriftsteller dazu neigen, von historischen Fakten stark abzuweichen. Überschneidungen gibt es mit dem Zeit-, Künstler-, Gesellschafts- oder Liebesroman. Nach Walter Scotts Debüt liegen zwischen Zeitraum und Niederschrift des Romans mindestens sechzig Jahre. Die zeitliche Abgrenzung ist jedoch keine feste Größe, weil die beschleunigte Zeitwahrnehmung in der Moderne gleichfalls zur Veränderung der Wahrnehmung der vergangenen Zeit, besonders der jüngeren Vergangenheit als zeitliche Größe geführt hat; so widmen sich Historiker der Zeitgeschichte der jüngeren Vergangenheit. In zahlreichen historischen Romanen des 19. Jahrhunderts war die behandelte Epoche für den Autor eine wirklich historische Epoche, die er nicht selbst miterlebt hat. Der Glöckner von Notre-Dame von Victor Hugo spielt entsprechend dem romantischen Interesse im Mittelalter, I Promessi Sposi von Alessandro Manzoni im 17. Jahrhundert, doch Die Kartause von Parma von Stendhal lediglich vierzig Jahre vor ihrer Niederschrift. Romane mit zeitgeschichtlichem Hintergrund werden daher nicht zu den typischen historischen Romanen gerechnet, da sie die Gegenwart des Autors zum Gegenstand haben, so wie zum Beispiel Sansibar oder der letzte Grund von Alfred Andersch oder Die Blechtrommel von Günter Grass.
Nicht zu den historischen Romanen zählt man die Fantasy-Romane, die mit Versatzstücken aus dem Mittelalter spielen und oft auch übernatürliche Elemente einführen. Auch die Neubearbeitungen von Sagen und Legenden gehören nicht dazu, ebenso wenig stark schematisierte Genres wie Wild-West- oder Rittergeschichten. Einer von vielen Grenzfällen ist die Romantetralogie Joseph und seine Brüder von Thomas Mann, die um den biblischen Joseph herum angelegt ist; doch sind Datierung und selbst Historizität der biblischen Figur nicht zu sichern. Populärwissenschaftliche oder feuilletonistische Darstellungen, die sich auf reale Personen und Ereignisse beziehen, sind ebenfalls nicht historische Romane. Beispiele sind die Biografien von Stefan Zweig über Marie-Antoinette oder Joseph Fouché. Werden aber Personen und Ereignisse hinzuerfunden (etwa weil die überlieferte faktische Grundlage sehr dünn ist), handelt es sich wiederum um Romane, wie die Romanbiografien I, Claudius von Robert Graves und Geliebte Theophanu von Eberhard Horst.
Ein wichtiger antiker Vorläufer des modernen historischen Romans ist laut Tomas Hägg der wohl im 1. Jahrhundert n. Chr. entstandene Roman Chaireas und Kallirhoë des Chariton von Aphrodisias.[2]
Der historische Roman in Deutschland hat seine Vorläufer im Barock mit Autoren wie Andreas Heinrich Bucholtz (1607–1671) und Daniel Casper von Lohenstein (1635–1683), an die die Schriftstellerin Benedikte Naubert (1752–1819) anknüpfen kann. Ihre historischen Romane wurden teilweise auch ins Französische und Englische übersetzt, so dass Walter Scott sie kennenlernte und von ihnen inspiriert wurde. In Romanen wie Ulrich Holzer, Walter von Montbarry und anderen nutzt sie bereits das Prinzip, Nebenpersonen der Geschichte zu Hauptpersonen ihrer Romane zu machen, das von Walter Scott übernommen wurde. Heute ist Benedikte Naubert im Gegensatz zu Walter Scott weitgehend unbekannt.
Die frühen historischen Romane in Europa gehören zu einem allgemeinen Strom, zum romantischen Interesse für die Geschichte, das auch andere Kunstgattungen und auch die Geschichtswissenschaft und Sprachwissenschaft gefördert hat. Das Erscheinen des Glöckners von Notre Dame von Victor Hugo förderte in Frankreich die Bewegung zur Erhaltung des gotischen Kulturguts, was zur Gründung der staatlichen Behörde Monuments historiques führte. Charles Dickens’ Roman Eine Geschichte aus zwei Städten beschreibt die Französische Revolution aus britischer Perspektive.
Zu den bedeutenden deutschsprachigen Beiträgen zum historischen Roman des 19. Jahrhunderts zählen Wilhelm Hauff Roman Lichtenstein, Adalbert Stifters Witiko und Theodor Fontanes Vor dem Sturm. Gemein ist beiden erstgenannten Werken eine restaurative Tendenz. In der Nachfolge von Novalis romantisch motivierten Versöhnung von Adel und Volk, welche ein ungleiches Abhängigkeitsverhältnis zwischen beschützendem und mächtigen Landesherrn wie dem treu ergebenen Volk voraussetzt, lässt Hauff den Landesherrn Ulrich an seiner mangelnden Wertschätzung des Volkes zugrunde gehen. Obgleich Adalbert Stifter an Walter Scott anknüpft, kann sein Fragment Witiko als Anti-Scott gelesen werden.[3] Die politische Implikation des Geschichtsromans ist unübersehbar. Als Reaktion auf die 1848 Unruhen verfasste er die auf drei Bände angelegte Geschichte von der Begründung des Adelsgeschlechtes der Witigonen. Die mangelnde Entscheidungsfähigkeit des Protagonisten, die durch ihn verantwortete Aufrüstung der ländlichen Bevölkerung gegen den Usurpator Konrad von Znaim[4] sowie die Inszenierung entwicklungsfreier Landschaften und eine durch breite Gespräche undramatische wie emotionsschwache Handlung, konstruieren bewusst ein Gegenbild zu den blutigen Unruhen im Habsburgerreich. Das Genre des Bildungsromans wird gleichfalls atypisch erfüllt, denn Witiko gelangt zu höchsten Meriten nicht aufgrund einer inneren Reifung, sondern wegen der beharrlichen Einhaltung seiner antisubversiven Tugenden. Dennoch führte gerade Stifters Ansatz, historische Entwicklung und sittliche Reifung gleichzusetzen, zum unweigerlichen Eingeständnis, dass dies in einem ahistorischen Zustand mündet.[5][6]
Zahlreiche Romane der Weltliteratur wie Krieg und Frieden (1867) von Leo Tolstoi, Gustave Flaubert’ Salambo, The Scarlet Letter von Nathaniel Hawthorne oder I Promessi Sposi (1842) des Italieners Alessandro Manzoni, Valdemar Seier des Dänen Bernhard Severin Ingemann, Drottningens juvelsmycke (1834) des Schweden Carl Jonas Love Almqvist, Pigen fra Norge[7] (1861) von Norwegen Andreas Munch, Az utolsó Bátori (1837) des Ungarn Miklós Jósika sind historische Romane.[8][9][10]
Im Laufe des 19. Jahrhunderts erreichte der historische Roman im deutschen Sprachraum auch die breiten Massen (Unterhaltungsliteratur). Ein vielgelesener Autor war Willibald Alexis, der in seinem Roman mit dem bezeichnenden Titel Ruhe ist die erste Bürgerpflicht vor einer möglichen Degeneration des preußischen Bürgertums wie zur Zeiten Napoleons warnte. Die Darstellungskunst seines Vorgängers Hauff vertiefte er durch die Psychologie seiner Figuren. Den größten Erfolg jedoch hatte der Franzose Alexandre Dumas der Ältere mit seinen Abenteuer- und Historienromanen, darunter die Die drei Musketiere (1844) und Der Graf von Monte Christo (1844–1845) die Bekanntesten sind. Historische Romane dienten außerdem in vielen Fällen der Förderung des Nationalgefühls. Die Waverley-Romane von Scott (siehe unten) förderten bereits das Interesse an der Geschichte Schottlands. Felix Dahn schrieb mit Ein Kampf um Rom einen Bestseller, darin er sozialdarwinistisch das Germanentum verherrlichte und mit dem Sendungsbewusstsein des erstarkten Kaiserreichs zusammenbrachte. Der Pole Henryk Sienkiewicz, 1905 Literaturnobelpreisträger, beschrieb in seinen Romanen die Konflikte zwischen Polen und dem Deutschritterorden, rebellierenden Kosaken und den Schwedeneinfällen. Eine ähnliche Bedeutung für die norwegische Geschichte erlangte Sigrid Undset mit dem Roman Kristin Lavransdatter, mit dem sie 1928 ebenfalls einen Literaturnobelpreis gewann.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Genre teilweise weiter trivialisiert, die nationalistische Stoßrichtung intensiviert oder als Kunstform wieder belebt. Adolf Bartels verherrlichte in Die Dithmarscher (1898) den Freiheitskampf der Dithmarscher Bauernrepublik gegen das Königreich Dänemark. Hermann Löns stilisierte in seinem Roman Der Wehrwolf die Heidebauern als Verteidiger ihrer Scholle gegen landloses Gesindel und marodierende Truppen. Die Bauern – eine soziale Gruppe die im 20. Jahrhundert aufgrund der Urbanisierung und vorangeschrittenen Industrialisierung stark marginalisiert wurde – stellen als verschworene, nichtzivilisierte Kampfgemeinschaften ein imaginiertes Gegengewicht zu der realen Mehrheitsbevölkerung der Städte dar. Weiterhin werden sie zu einer überhistorischen Größe erklärt, womit sie unabhängig von ihrer Zeit als Vorbild für eine geschlossene Gemeinschaft dienen.
Die Katastrophe des Ersten Weltkrieges stellte eine Zäsur dar. Ricarda Huchs Der große Krieg in Deutschland (1915), darin eine historische Gestalt wie Wallenstein noch in der Tradition Thomas Carlyles als großer Einzelner gezeichnet werden konnte, war wegen der entindividualisierten Kriegsführung nicht mehr nachvollziehbar. Die Sorgfalt in der Darstellung der historischen Schauplätze wurde weiterhin verfolgt, galt aber gemäß der kritischen Tradition des historischen Romans, darin eine Auseinandersetzung mit der eigenen Epoche gesucht wurde, nicht mehr als ausschlaggebendes Qualitätskriterium. In Alfred Döblin Wallenstein beispielsweise wurde der epischen Erzählung größeres Gewicht beigemessen als der Richtigkeit des Ablebens einzelner Figuren. Als Gegenprogramm zur Ideologisierung und Mystifizierung des historischen Romans wurde verstärkt Aufklärungsarbeit verfolgt, so von Lion Feuchtwanger (z. B. Jud Süß, die Josephus-Trilogie), oder eine humanistische Utopie entworfen wie in Heinrich Manns Die Jugend des Königs Henri Quatre. Joseph Roths Roman Radetzkymarsch nimmt sich – orientiert am Narrativ der Dekadenzliteratur – der jüngsten Vergangenheit Österreichs an.[11] Weitere bedeutende historische Romane sind Die vierzig Tage des Musa Dagh von Franz Werfel, darin der Prozess der Nationalstaatswerdung im Osmanischen Reich als Ursache des unter den Jungtürken begangenen Völkermordes benannt wird wie Der Tod des Vergil von Hermann Broch. Aus der englischsprachigen Literatur ist William Faulkners Absalom, Absalom! zu nennen. Die personale Multiperspektivität wie die Schilderung der rücksichtslosen Landnahme problematisieren die Erlangung historischer Kenntnisse wie ihre Reduktion auf Meistererzählungen und dekonstruieren den Südstaatenmythos.
Während es Vertretern der Klassischen Moderne wie Döblin und Faulkner gelang den Geschichtsroman als ernste Gattung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederherzustellen, etablierte sich zwischen der Biographie als Hauptgattung der Geschichtswissenschaft und dem historischen Roman der biografische Roman, darin der Ereignisgeschichte folgend die vermeintlich psychologische Entwicklung einer historischen Figur ausgeschildert wurde. Trotz des Ansinnens überwog im biografischen Roman zumeist die psychologische Schematisierung der psychologischen Figurenzeichnung. Erfüllten die Ideenromane Feuchtwangers, Manns und Werfels noch den Anspruch die Historie als einzigartige Abfolge von Zeit auszuweisen und damit den Ablauf historischer Entscheidungen durch die Figurenpsyche zu erklären, implementierten Stefan Zweig, Emil Ludwig, Hermann Kesten, Alfred Neumann oder Bruno Frank schlicht psychologische Mechanismen in unterschiedliche Geschichten. Das Historische wurde trotz der ereignishistorischen Anbindung hierdurch verleugnet, so meinte Ludwig, dass „das Ewig-Menschliche fesselnder und zugleich belehrender ist als das Zeitlich-Gewandelte, dass die Geschichte eines großen Herzen bedeutungsvoller ist als die Veränderung einer Spezialkarte zwischen 1790-1810“ und Zweig befand die „wahrhaft erregenden Momente sind immer erst die kataraktischen, wo riesige Kräfte gegen das Schicksal stoßen, wie das Wasser gegen den Felsen“. Zweigs Geschichtsnovellen zeigen stets den Kampf eines Heroen der Geschichte gegen innere und äußere Widerstände, daran er schicksalshaft wächst und sei dies nur eine sittliche Reife wie bei Maria Stuart. Ähnlich verfuhren Bruno Frank (Cervantes), Hermann Kesten oder Alfred Neumann. Als Unterhaltungsliteratur boten die biografischen Romane den Lesern im Gegensatz zur Dekonstruktion der Geschichte bei Döblin oder Faulkner ein nunmehr komprimierte teleologische Deutung der Geschichte an, während die Konzentration auf Figuren – auch hier dem 19. Jahrhundert folgend – eine historische Figur als alleinigen Akteur verabsolutierten.
Der triviale Historienroman orientiert sich im Aufbau am Geschichtsroman scottscher Prägung.[12] Martin Neubauer meint gar, dass der historische Roman deswegen „vielfach […] bestenfalls als Übergangslektüre, geeignet nur für ein jugendliches Publikum, als nostalgisch verklärte Wegmarke in der individuellen Leserbiographie“ reiche.[13] Romane wie Die Säulen der Erde, Der Medicus, Die Päpstin oder Die Wanderhure wurden Bestseller und erfüllen für große Teile der Leserschaft die Vorstellung von einem historischen Roman.
Seit den 60er Jahren ist der historische Roman eines der beliebtesten Genres der postmodernen Literatur. Für diese Spielart wurde der Begriff der historiografischen Metafiktion geprägt.
Der historische Roman beginnt in der englischen Literatur mit dem schottischen Schriftsteller Sir Walter Scott (1771–1832). Romane, die vor einem geschichtlichen Hintergrund handeln, gab es bereits vorher; die Personen handelten allerdings entsprechend den Sitten und Normen der Gegenwart der Schriftsteller, so dass man hier nicht von historischen, sondern von Schlüsselromanen o. ä. spricht. Es stellt sich die Frage, warum der Romantyp des historischen Romans erst am Anfang des 19. Jahrhunderts entstand und sofort erfolgreich war – der erste historische Roman Walter Scotts „Waverley“ wurde 1814 veröffentlicht.
Die Kriege, die der Französischen Revolution folgten, die Feldzüge Napoleons und die darauf folgende Restauration hatten großen Teilen der europäischen Bevölkerung den Einfluss von Geschichte auf ihr persönliches Leben vor Augen geführt, und dies in kürzerer Zeit und in größerem Maße als je zuvor.
Die Veränderung der Kriegsführung – Massenheere statt kleine Söldnertruppen – ließ Geschichte zu einem Massenerlebnis werden, verpflichtete die Staaten aber auch, die Ziele der Kriege den kriegsführenden Massen zu kommunizieren, was unter Rückgriff auf die nationale Geschichte und deren Höhen und Tiefen geschah.
Man kann davon ausgehen, dass Walter Scott „Waverley“ nicht geschrieben hat, um diesen Bedürfnissen der Staaten gerecht zu werden. Aber er war sich gewiss des Interesses seiner Leser an dem Thema des „Waverley“, des Jakobitenaufstand 1745/46, bewusst und hat seine Romane absichtlich so gestaltet, dass sie der Vermittlung des historischen Stoffs dienen konnten.
Walter Scotts historischen Roman zeichnen nun einige Besonderheiten aus, die es erst erlauben, von einem eigenen Romantypus zu sprechen. Ziel dieses Romantypus soll eine Verlebendigung der Vergangenheit sein. Die Geschichtsschreiber liefern die Fakten, die der Schriftsteller mit Leben füllt. Im konkreten Fall des „Waverley“, der eine damals noch nicht weit zurückliegende Epoche beschreibt, soll der Held zwischen der Gegenwart der Leser und der Vergangenheit vermitteln. Dieser Held, und hier liegt der große Unterschied zum Epos, ist nun der so genannte „mittlere Held“. Personen, die nicht an der Spitze der Gesellschaft stehen und geschichtliche Ereignisse nicht auslösen, sondern darin verstrickt werden. Der Protagonist ist moralisch einigermaßen gefestigt, opfert sich selbst auf, eine menschliche Leidenschaft, die den Leser mitreißt, entsteht allerdings nie. Scotts Hauptfiguren sind: „…national typische Charaktere, aber nicht im Sinne des zusammenfassenden Höhepunktes, sondern in dem der tüchtigen Durchschnittlichkeit.“
Die historischen Persönlichkeiten sind nur Nebenfiguren, treten aber ihrer Rolle entsprechend in bedeutsamen Situationen auf. Zwischen den Auftritten der historischen Persönlichkeiten ist der Schriftsteller innerhalb der historischen Gegebenheiten relativ frei in der Gestaltung des Lebensweges seiner Protagonisten. Dialoge, die der Verlebendigung der Vergangenheit dienen, nehmen ebenso an Wichtigkeit zu wie die Nebenfiguren, die entlang historischer Konfliktlinien verfeindete Seiten vertreten. Scotts Romane beeinflussten eine ganze Reihe von Autoren:
„Balzac, Hugo, de Vigny und Mérimée in Frankreich, Manzoni in Italien, Puschkin und Tolstoi in Russland, Stifter und Fontane im deutschen Sprachraum. (…) In Nordamerika wurde Coopers Lederstrumpf-Saga zum Resonanzboden für Scott.“ (Lukács)
Während aber Manzoni, Puschkin und andere der Tradition Scotts folgten, sich teilweise als dessen Schüler ansehen, wurde in Frankreich, und auch in Spanien, das Scottsche Modell eher reflektiert als reproduziert. Georg Lukács spricht sogar von geistigen Kämpfen um den historischen Roman in Frankreich und einer theoretischen Formulierung des romantischen historischen Romans auf einem höheren Niveau als in den anderen europäischen Ländern.
Die Gründe dafür, dass die Debatte über den historischen Roman in Frankreich am intensivsten war, sind in der französischen Geschichte zu suchen. Während in England die größtenteils unblutig verlaufenen Kämpfe um mehr Rechte für die Bürger ein eher optimistisches Verständnis des Ablaufs von Geschichte ermöglichten, waren die Franzosen mit den weniger optimistisch stimmenden Erfahrungen der Revolution, der darauf folgenden „terreur“ und des Aufbaus einer postrevolutionären Gesellschaft konfrontiert. So war die Diskussion um den historischen Roman in Frankreich dann auch im Grunde eine Debatte über die Geschichtsauffassung, kurz gesagt über die Frage, ob die französische Revolution ein „Betriebsunfall“ der Geschichte, oder die logische Folge früherer Entwicklungen war.
Alfred de Vigny war maßgeblich an dieser Diskussion beteiligt. Sein Geschichtsverständnis äußert sich bereits in dem 1826 veröffentlichten Roman „Cinq-Mars ou une conjuration sous Louis XIII.“, der in der Ära Richelieu spielt. Seine theoretischen Grundlagen hält er dann im Vorwort der vierten Auflage (1829) fest, das Lukács als das bezeichnendste theoretische Manifest der romantischen Richtung im historischen Roman bezeichnet. Vigny lehnt Scott als leicht ab, da hier erfundene Figuren agieren, geschichtliche Figuren nur am Rande vorkommen und nur der Datierung des Zeitraums dienen. Dementsprechend sind die Hauptfiguren seines Romans Kardinal Richelieu, der Gestalter des Absolutismus, und Cinq-Mars, der als Verteidiger feudaler Privilegien auftritt. De Vigny wendet sich also wieder den „Geschichte machenden großen Männern“ dieser Epoche zu. Wichtig sind laut de Vigny nicht die Fakten, sondern deren Fiktionalität. Der Schriftsteller muss die Fakten deuten und ihnen einen Sinn verleihen, ihre moralischen Folgen darstellen, und darf deswegen historische Tatsachen umwandeln. Insofern ist der Schriftsteller auch nicht unbedingt an die reale historische Persönlichkeit beispielsweise Richelieus gebunden, wichtig ist die zu vermittelnde Idee. De Vigny, der sich als Kämpfer für den mittlerweile untergegangenen zweiten Stand sieht und den Absolutismus als Irrweg der Geschichte versteht, der zwangsläufig zur Revolution führen musste, betrachtet die Fakten mit einer „subjektivistischen-moralischen Apriori“, wie Georg Lukács es formuliert.
Das Ziel der romantischen Geschichtsschreibung ist also aus der Reife heraus, die Frankreich erreicht hat, zurückzuschauen und über die Irrtümer der Jugend Rechenschaft abzulegen.
Im Unterschied zum scottschen historischen Roman wird Geschichte nicht nur verlebendigt, sondern gedeutet. Dies geschieht unter Rekurrierung auf die großen Personen der Geschichte.
Auch wenn de Vignys Interpretation der französischen Geschichte und seine Wahrnehmung ihrer Jugendirrtümer nicht von allen geteilt wird, ist sein Verständnis des Typus des historischen Romans durchaus verbreitet und wird von anderen Autoren wie z. B. Victor Hugo geteilt.[14]
Seamless Wikipedia browsing. On steroids.
Every time you click a link to Wikipedia, Wiktionary or Wikiquote in your browser's search results, it will show the modern Wikiwand interface.
Wikiwand extension is a five stars, simple, with minimum permission required to keep your browsing private, safe and transparent.