Tübinger Stift ist eine Weiterleitung auf diesen Artikel. Siehe auch katholisches Wilhelmsstift in Tübingen.
Das Tübinger Stift ist ein Studienhaus der evangelischen Landeskirche in Württemberg. Evangelische Studierende, die ein Pfarramt in Württemberg oder das Lehramt an Gymnasien in Baden-Württemberg anstreben, erhalten hier für neun Semester ein Stipendium in Gestalt von Verpflegung, Wohnmöglichkeit und wissenschaftlicher Begleitung.[1] Es wurde 1536 von Herzog Ulrich in Tübingen im mittelalterlichen Gebäude des aufgehobenen Augustinerklosters (erbaut nach dem Beschluss von 1262) gegründet, um nach der Reformation die theologische Ausbildung begabter Landeskinder zu evangelischen Pfarrern sicherzustellen. Darüber hinaus sollte das Stift auf dem Boden des lutherischen Glaubens in Verbindung mit der Universität eine geistliche und geistige Elite heranziehen. Traditionell wird sehr großer Wert auf eine gründliche philosophische, sprachliche und kirchenmusikalische Ausbildung gelegt. Aus dem Stift sind viele bedeutende Theologen, Philosophen, Schriftsteller und andere Gelehrte hervorgegangen, die großen Einfluss auf die Entwicklung der deutschen und europäischen Geistesgeschichte hatten.
„Die Leitung des Evangelischen Stifts liegt in den Händen des Kuratoriums, des Stiftsrates und des Ephorus.“ (Stiftsordnung C.I.1)
Dem Kuratorium obliegt die maßgebliche Entscheidungskompetenz. Es trifft grundsätzliche Entscheidungen, die sich auf das Stipendium, die Studien- oder die Hausordnung beziehen. Das Kuratorium verabschiedet den Haushaltsplan und ist an Stellenbesetzungen beteiligt. Es tagt in der Regel zweimal in einem Semester. Ihm gehören außer den vier Vertretern des Stiftsrats (Ephorus, Seniorrepetent und zwei Studierendenvertreter) zwei Vertreter des Oberkirchenrats, ein Vertreter der Landessynode und ein Vertreter der Evangelisch-theologischen Fakultät an. An seinen Sitzungen nehmen außerdem die übrigen Mitglieder des Stiftsrats sowie die gewählten Kuratoriums-Stellvertreter der beiden Stiftsältesten teil.
Der Stiftsrat befasst sich mit den Tagesgeschäften. Er konstituiert sich aus dem Ephorus, dem Studieninspektor, dem Stiftsmusikdirektor (Stimmrecht nur in Musikangelegenheiten), dem Seniorrepetenten, dem Konseniorrepetenten und den beiden Stiftsältesten.
Das Amt des Ephorus des Evangelischen Stiftes hat von 1987 bis 2005 der Theologe Eberhard Jüngel versehen. Seit 2005 wird das Amt von Volker Henning Drecoll bekleidet. Die Stelle der Studieninspektorin ist seit dem Wintersemester 2017/18 durch Viola Schrenk besetzt. Stiftsmusikdirektor ist Frank Oidtmann.
Die Stiftsältesten werden von der Vollversammlung aller Stiftsstudierenden (Forum) für jeweils ein Semester gewählt. Sie sind dem wöchentlich tagenden Forum verpflichtet. Die Stiftsältesten werden auch „X(a)“ und „Y(a)“ genannt. „X(a)“ und „Y(a)“ sind sowohl im Stiftsrat als auch im Kuratorium des Evangelischen Stifts stimmberechtigt. Sie vertreten in diesen paritätisch besetzten Gremien die Belange der Stiftsstudierenden.
Das Forum wählt außerdem die Stiftsvertretung. Dieser gehören neben den Stiftsältesten weitere sieben studentische Vertreter, die sogenannten „Ressorts“ an. Die Stiftsvertretung führt die laufenden Geschäfte der Studierenden und bereitet Beschlüsse der Gremien des Hauses vor bzw. nach. Die verschiedenen „Ressorts“ der Stiftsvertretung erfüllen folgende Aufgaben:
„Ressort 1“: Berechnung und Verwaltung der hausinternen Dienste, die jeder und jede Studierende abzuleisten hat, Kommunikation mit den Angestellten des Hauses sowie Koordination der Zimmerverteilung
„Ressort 2“: Kommunikation und Koordination mit der Fachschaft, der IGWT (Interessensgemeinschaft Württembergischer Theologiestudierender) sowie dem Albrecht-Bengel-Haus
„Ressort 3“: Ausrichten und Organisieren der Stiftsfeste, die 3-mal im Semester stattfinden müssen.
„Ressort 4“: Erstellung des ASB (Autonomer Semesterbericht der Stiftsstudierenden)
Unterstützt wird die Stiftsvertretung (StV im Stiftsjargon) durch die sogenannten Ehrenämter, die sich beispielsweise um die Stocherkähne, Sportgegenstände oder die Studentische Bibliothek („Schöngeistige Bibliothek“) kümmern.
16. Jahrhundert
David Chyträus (1530–1600), Theologe, Historiker und Schulorganisator
„Wer im Land etwas werden will, muß im Stift gewesen sein. Wer außerhalb des Landes etwas werden will, muß aus dem Stift geflogen sein. Tertium non datur.“
„In demselben Jahre [1536] wurde die erste Ordnung für Errichtung des theologischen Stifts zu Tübingen, der noch auf den heutigen Tag blühenden Bildungsanstalt evangelischen Geistlichen, entworfen. […] aus welchem seit dreihundert Jahren viel fromme und gelehrte Männer und einige große Geister, unsterbliche Zierden des Staats, der Kirche und der Schule, hervorgegangen sind.“
„Was war früher so ein Stiftsrepetent gewesen! Jeder den Marschallsstab im Tornister und alle höchsten Höhen des Geistes greifbar vor sich. Hatten nicht David Friedrich Strauß und Friedrich Theodor Vischer, diese Repetenten Germaniens, vor allen zu ihnen gehört? Und wenn schon, wie die Geschichte lehrte, aus einem gewöhnlichen Stiftler schlechthin alles zwischen Himmel und Erde werden konnte, wie viel mehr dann aus einem Stiftsrepetenten?[…] Eine Tatsache, der denn auch das gehobene Selbstbewußtsein der Repetenten zu allen Zeiten voll entsprochen hatte, so daß sogar ein Vers über Napoleon als geflügeltes Wort umging: Den Größenwahn kriegt’ er am End / Und meint’ er wär’ Stiftsrepetent…“
„Wenn ich doch nur ein bisschen mehr Esprit hätte! Ich trinke und trinke, damit ich ein wenig leichter werde – und werde doch nur schwerer... Hölderlin raucht auch zuviel. Obwohl – dafür trinke ich mehr. Rauchen und Trinken – das ist unsere Opposition, wie jämmerlich. Aber was bleibt einem sonst hier. Besser noch im Boulanger zu hocken, als im Stift zu beten...“
– Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Tagebuch, 17. Juni 1792 (laut Boulanger Tübingen)
Martin Leube: Geschichte des Tübinger Stifts. Bd. 1: 16. und 17.Jahrhundert. Bd. 2: 18. Jahrhundert (1690-1770). Bd. 3: Von 1770 bis zur Gegenwart. (= Blätter für württembergische Kirchengeschichte, Sonderhefte 1, 3, 5) Scheufele, Stuttgart, 1921, 1930, 1936.
Ernst Müller, Theodor Haering, Hermann Haering: Stiftsköpfe. Schwäbische Ahnen des deutschen Geistes aus dem Tübinger Stift. Salzer, Heilbronn, 1938.
Martin Leube: Das Tübinger Stift 1770–1950. Geschichte des Tübinger Stifts. Steinkopf, Stuttgart 1954.
Martin Brecht: Die Entwicklung der Alten Bibliothek des Tübinger Stifts in ihrem theologie- und geistesgeschichtlichen Zusammenhang. Eine Untersuchung zur württembergischen Theologie. Tübingen 1961, (Tübingen, Universität, Dissertation, vom 28. Febr. 1961, maschinschriftlich; gekürzte Fassung in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte. Bd. 63, 1963, S. 3–103).
Joachim Hahn, Hans Mayer: Das Evangelische Stift in Tübingen. Geschichte und Gegenwart – zwischen Weltgeist und Frömmigkeit. Theiss, Stuttgart 1985, ISBN 3-8062-0372-5. (→ mit Tabelle der Superattendenten, Magistri Domus, Inspektoren, Ephoren und einer Liste berühmter Stiftler seit der Gründung)
Friedrich Hertel (Hrsg.): In Wahrheit und Freiheit. 450 Jahre Evangelisches Stift in Tübingen (= Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte, Bd. 8). Calwer, Stuttgart 1986, ISBN 3-7668-0785-4.
Bernhard Lang: Der alte Kasten macht's noch lang – das Tübinger Stift ist 450 Jahre alt, in: Lutherische Monatshefte 25 (1986), 6. S. 260–262.
Wolfgang Schöllkopf: Schwäbischer Olymp und württembergische Pfarrerschmiede. 450 Jahre Evangelisches Stift Tübingen 1536–1986. Evangelisches Stift Tübingen, Tübingen 1986.
Siegfried Hermle, Rainer Lächele, Albrecht Nuding (Hrsg.): Im Dienst an Volk und Kirche. Theologiestudium im Nationalsozialismus. Erinnerungen, Darstellungen, Dokumente und Reflexionen zum Tübinger Stift 1930 bis 1950. Quell-Verlag, Stuttgart 1988, ISBN 3-7918-1407-9.
Martin Biastoch: Tübinger Studenten im Kaiserreich. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung (= Contubernium. Tübinger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte. Bd. 44). Thorbecke, Sigmaringen 1996, ISBN 3-7995-3236-6, (Zugleich: Tübingen, Universität, Dissertation, 1993/1994).
Reinhard Breymayer: Freimaurer vor den Toren des Tübinger Stifts: Masonischer Einfluss auf Hölderlin? In: Sönke Lorenz, Volker Schäfer (Hrsg.): Tubingensia. Impulse zur Stadt- und Universitätsgeschichte. Festschrift für Wilfried Setzler zum 65. Geburtstag (= Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte. 10). Thorbecke, Ostfildern 2008, ISBN 978-3-7995-5510-4, S. 355–395.
Volker Schäfer: Das Stammbuch des Tübinger Stiftlers August Faber mit seinem Hölderlin-Eintrag von 1789. In: Sönke Lorenz, Volker Schäfer (Hrsg.): Tubingensia. Impulse zur Stadt- und Universitätsgeschichte. Festschrift für Wilfried Setzler zum 65. Geburtstag (= Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte. 10). Thorbecke, Ostfildern 2008, ISBN 978-3-7995-5510-4, S. 397–426.
Volker Henning Drecoll (Hrsg.): 750 Jahre Augustinerkloster und Evangelisches Stift in Tübingen. Mohr Siebeck, Tübingen 2017, ISBN 978-3-16-155646-3.
Götz Homoki: Identität – Habitus – Konformität. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zu württembergischen Herzoglichen Stipendiaten in der Frühen Neuzeit (= Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte, Bd. 25). Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2021, ISBN 978-3-374-06895-1.
Wilfried Setzler: Tübingen. Auf alten Wegen Neues entdecken. Ein Stadtführer. 4. Auflage. Verlag Schwäbisches Tagblatt, Tübingen 2005, ISBN 3-928011-54-5, S. 29–30.
Theodor Lorenz Haering: Der Mond braust durch das Neckartal. Ein romantischer Spaziergang durch das nächtliche Tübingen nebst allerlei nützlichen und kurzweiligen Betrachtungen über Gott und Welt, Raum und Zeit, Natur und Geist und insonderheit über die Menschen untereinander. Wunderlich, Tübingen 1935, DNB573635331, S. 117 f.