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deutsche Literaturwissenschaftlerin Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Sigrid Weigel (* 25. März 1950 in Hamburg) ist eine deutsche Literatur- und Kulturwissenschaftlerin.
Sigrid Weigel wurde 1977 mit einer Arbeit zur „Flugschriftenliteratur 1848 in Berlin“ am Literaturwissenschaftlichen Seminar der Universität Hamburg zum Dr. phil. promoviert, wo sie im Anschluss von 1978 bis 1982 als Dozentin tätig war. 1986 habilitierte sie sich am Fachbereich Neuere Deutsche Literatur und Kunstwissenschaft der Universität Marburg. 1984 wurde sie als Professorin an das Literaturwissenschaftliche Seminar der Universität Hamburg berufen, wo sie einen Schwerpunkt zur interkulturellen Literaturwissenschaft aufbaute und gemeinsam mit Inge Stephan eine Arbeitsstelle für Frauen in der Literaturwissenschaft gründete, deren internationale Tagungen in den 1980er Jahren zur Etablierung der Genderforschung an deutschen Universitäten beitrugen.[1]
1990 wechselte Sigrid Weigel in den Vorstand des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, wo sie eine interdisziplinäre Fellow-Gruppe zur Gedächtnisforschung betreute und eine Gruppe zu ‚Topographie der Geschlechter’ leitete: eine „Arbeitsgruppe von sieben brillanten Frauen“[2] (Aleida Assmann, Christina von Braun, Sigrid Schade, Renate Schlesier, Heide Schlüpmann, M. Wagner), die im Folgenden als Professorinnen entscheidend zur Etablierung der Kulturwissenschaften an deutschen Universitäten beitragen sollten. 1993 erhielt sie den Ruf auf eine Professur für Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar der Universität Zürich, wo sie eine jährliche Poetikvorlesung initiierte, die 1996 mit Anne Duden begann; hier trug W. G. Sebald 1997 erstmals seine Vorlesung „Luftkrieg und Literatur“[3] vor. Während der Jahre, in denen sie als Präsidentin der ‚Kommission für interdisziplinäre Veranstaltungen an Universität und ETH’ fungierte, wurden deren Ringvorlesungen zu einem Zentrum der Debatten über die „Nazi-Gold-Affäre“ in der Schweiz.[4]
1998 übernahm sie die Leitung des Einstein Forums Potsdam. Von 2005 bis 2016 war sie Permanent Visiting Professor am German Department der Princeton University.
1999 erhielt sie den Ruf als Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZfL) und als Professorin an der Technischen Universität Berlin und fungierte bis zu ihrer Emeritierung 2015 zudem als Vorstandsvorsitzende der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin.[5] Das 1996 von Eberhard Lämmert gegründete ZfL entwickelte sich in dieser Zeit "zu einem profilierten, national und international sichtbaren Forschungszentrum [...] und zu einem maßgeblichen Ort in Deutschland einerseits für die theoretischen Auseinandersetzungen zwischen historisch-philologischen und kulturwissenschaftlichen Ansätzen in den Geisteswissenschaften sowie andererseits für eine interdisziplinäre Beschäftigung mit den Natur- und Technikwissenschaften", so der Wissenschaftsrat 2006, mit dessen positiver Evaluierung der erste Schritt zur Verstetigung der ursprünglich auf 12 Jahre gegründeten Einrichtung eingeleitet wurde.[6] Das ZfL ist Beispiel für eine kreative Zusammenarbeit der Wissenskulturen aus Ost und West, da hier Wissenschaftler aus dem Zentralinstitut für Literaturgeschichte der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der DDR mit Wissenschaftlern einer meist jüngeren Generation aus der alten BRD in Team- und Projektarbeit an einem zukunftsweisenden Forschungsprofil arbeiteten.[7]
Im Hinblick auf den ‚cultural turn’ in den Geisteswissenschaften der 1980/90er Jahre spricht Sigrid Weigel von der ‚ersten Kulturwissenschaft’; sie bezeichnet damit eine Konstellation der intellektuellen Geschichte um 1900, in der überwiegend jüdische deutschsprachige Autoren wie Sigmund Freud, Aby Warburg, Georg Simmel, Ernst Cassirer, Helmuth Plessner, Walter Benjamin ihre Fachgrenzen überschritten und ein Arbeiten an Übergängen[8] praktizierten. Sie betrachtet diese Autoren als Außenseiter, deren Denkweise der Kehrseite der kolonialen und nationalistischen Vergangenheit Europas entstammt[9], und plädiert dafür, dieses epistemische Potenzial für die Gegenwart zu nutzen. Wesentliche Komponenten sind für sie eine Geschichtstheorie jenseits der Fortschrittsgeschichte, die Detailforschung sowie die Aufmerksamkeit für das Nachleben von Religion, Mythus, Ritual in der Moderne und für Korrespondenzen zwischen europäischen und nicht-europäischen Kulturen. Vorläufer zur ersten Kulturwissenschaft sieht sie in der Literatur, wie sie am Beispiel der Nähe von Freud und Warburg zu Heinrich Heine[10] zeigt. In der Nachfolge der ersten Kulturwissenschaft stehen für sie und Autoren wie Gershom Scholem, Hannah Arendt, Stéphane Mosès und Susan Taubes. Der Nachlass dieser jüdischen Philosophin und Schriftstellerin, den Weigel bei den Erben ausfindig gemacht hat, wird von ihr betreut und herausgegeben. Ein Ziel der Direktorin des ZfL war es, das Archiv dieser Art Kulturwissenschaft durch Editionen zugänglich zu machen (u. a. Aby Warburgs Schriften in einem Band, Gershom Scholems Poetica). Als Autorin hat Weigel eine Reihe neuer kulturwissenschaftlicher Themen profiliert, beispielsweise mit den Arbeiten zur Geschichte des Generations-Konzepts, zur Genea-Logik, zu Zeugnis/Zeugenschaft, zum Topographical Turn, zu Märtyrer-Porträts. Und die von ihr begründete Zeitschrift Trajekte des ZfL (zweimal jährlich von 2000 bis 2015) hatte mit der Skizzierung aktueller Forschungsthemen (WissensKünste, Archäologie als Methode und Metapher, Fälschung, Erbe/Vererbung, Ausdruck/Affekt, Überleben, Ost-West-Passagen, Archiv, Interdisziplinäre Begriffsgeschichte, Archive der Natur u. a.) eine Rolle als Seismograph und Impulsgeber der Kulturwissenschaften.
Eine besondere Stellung in Weigels Schriften nimmt Walter Benjamin ein, insbesondere mit Denkfiguren wie Lesbarkeit, historischer Index, Schauplatz/Topographie, Leib- und Bildraum und mit seiner erkenntnistheoretischen Schwellenkunde. Sein Denken sei „weder theologisch noch säkular“, sondern geprägt durch eine Doppelreferenz auf das biblische und profane Sprachregister. Gegen Giorgio Agamben gerichtet betont sie die Differenzen zwischen Benjamin und Carl Schmitt, indem sie deren Souveränitätstheorien aus der Perspektive der jeweiligen Gegenfiguren (Märtyrer und Partisan) liest und zeigt, dass die Nähe z. T. auf entstellenden Übersetzungen beruht, z. B. „ungeheure Fälle“ als „exceptional cases“.[11] Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Benjamin-Studien betrifft seine umfangreiche Beschäftigung mit Bildern, nicht nur Film und Fotografie, sondern auch Gemälden, die Weigel als Grundlage seiner bildlichen Epistemologie begreift. Und erstmals hat sie die in Benjamins Schriften verborgene Musiktheorie systematisch herausgearbeitet.[12]
2015 hat Weigel eine Bildtheorie vorgelegt, die von dem Satz „Es gilt die Spur vor dem Seienden zu denken“ aus Jacques Derridas Grammatologie ausgeht. Im Gegensatz zur Spur als Hinterlassenem befragt sie die Spuren, die dem Bild vorausgehen, und entwirft eine Theorie des An-Ikonischen. Im Zentrum steht die Frage, wie etwas, das selbst kein Bild ist oder auch visuell nicht zugänglich ist (Gefühle, Trauer, Ehre, Schande, Transzendenz, Denken), selbst zum Bild werden kann. Weil die Figur des Engels ein Bild von Transzendenz ist, deutet Weigel Darstellungen von Engeln in Philosophie, Kunst und Wissenschaft als Symptom der Bildfrage. In bildtheoretischer Hinsicht geht es um Konzepte wie indexikalisches Bild, Effigie, Kultbild. Andreas Beyer bewertet Weigels Grammatologie der Bilder als „integralste Bildtheorie, über die wir zur Zeit verfügen“, sie habe „alles was es braucht, ein Klassiker zu werden“.[13] Auch Wolfgang Ulrich erkennt bei Weigels Bildtheorie das Potenzial zu einem Standardwerk der Bildwissenschaft; er betont die Klarheit der Gedankenführung und bezeichnet das Kapitel über die Karikatur als meisterhaft, er zeigt aber auch eine gewisse Reserviertheit gegenüber ihrer Bezugnahme auf die Religion.[14]
„Die Grenze zwischen dem Körper, der empirischen Methoden zugänglich ist, und der Sprache im weitesten Sinne (einschließlich der Gebärden, Gefühle, Bilder, Musik etc.), die auf Entzifferung und Verstehen angewiesen ist, ist eine heiße Zone der Forschung: umkämpftes Gebiet und chancenreiches Feld interdisziplinärer Forschung zugleich. Hier herrscht bisher nur kleiner Grenzverkehr“, schrieb Weigel in einem Artikel, der 2007 (Jahr der Geisteswissenschaften) mit dem Titel Für den großen Grenzverkehr in der Financial Times Deutschland erschien.[15] Sie bezieht sich dabei auf eigene Kooperationen mit Kollegen aus der Biologie, Medizin, Neurowissenschaften und klinischen Psychoanalyse in Forschungsprojekten – so zum Beispiel zum Verhältnis von biologischen, ökonomischen und sozialen Aspekten der Vererbung, zum Wechselverhältnis von Sigmund Freud und Neurowissenschaften, zur Empathie in Philosophiegeschichte und aktueller Laborforschung. Aufgrund der Sprachbarriere zwischen den Zwei Kulturen und der Missverständnisse, die aus unterschiedlichen Bedeutungen derselben Begriffe erwachsen, diagnostiziert Weigel den Mangel einer Begriffsgeschichte naturwissenschaftlicher Terminologie und hat am ZfL die Erforschung interdisziplinärer Begriffe initiiert.[16]
In den letzten Jahren konzentriert sich ihre Arbeit auf Gesicht,[17] Kopf und Mimik. Sie untersucht, welche Auswirkungen es für diese drei Themenfelder geben könnte, wenn sie vor dem Hintergrund ihrer Wissens- und Bildgeschichte zunehmend zum Objekt von Laborforschung, Chirurgie und Digitalisierung werden. Die von ihr konzipierte Ausstellung zum Gesicht im Deutschen Hygiene-Museum[18] war 2017 ein Publikumserfolg.
2019 hat eine vom Institut für Auslandsbeziehungen in Auftrag gegebene Studie von Weigel zur Transnationalen Auswärtigen Kulturpolitik – Jenseits der Nationalkultur eine öffentliche Debatte ausgelöst.[19][20] Weigel diagnostiziert ein Glaubwürdigkeitsproblem der auswärtigen Kulturpolitik, weil deren Ziele, wie die Unterstützung der Menschenrechte oder eine verantwortliche und nachhaltige Gestaltung der Globalisierung, von der deutschen Innenpolitik immer weniger gedeckt werden, und plädiert dafür, die auswärtige Kulturpolitik politisch aufzuwerten und deren Wissen über andere Kulturen und den interkulturellen Austausch auch im Innern, bei der Integrationspolitik etwa, besser zu nutzen. Zur Frage der Nation diskutiert sie die Gefährdung der vorrechtlichen Gemeinsamkeit als Grundlage unserer Verfassung und warnt, wie schon in früheren Debatten, vor der Renaissance der Idee der Kulturnation,[21] da diese einem xenophoben nationalistischen Diskurs entstammt, der an der ideologischen Vorbereitung des Ersten Weltkriegs beteiligt war.
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