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Mit seinen Inspektionsreisen im Inland folgte Kaiser Joseph II. dem Beispiel Friedrichs II. von Preußen, mit seinen Auslandsreisen jenem Peters I. von Russland. Laut Derek Beales[1] war er während eines Viertels seiner Regierungszeit (1765–1790) unterwegs und legte dabei in der Pferdekutsche eine Strecke zurück, die den Umfang der Erde übertrifft.[2]
Über die Reisen des Kaisers in den Staaten des Hauses Österreich[3] schrieb Paul von Mitrofanov: „Wohl kein einziger Monarch, der große Friedrich nicht ausgenommen, kannte so genau alle lokalen Verhältnisse in seinem Reiche (…) wie der unermüdliche, rastlose Joseph II.“[4] Gemäß Beales legte kein anderer Herrscher so viel Wert darauf, dass seine Untertanen freien Zugang zu ihm hatten.[5] Wie im „Controleurgang“ der Hofburg gewährte er auf seinen Reisen im Inland jedermann Audienz und nahm eine große Zahl Bittschriften entgegen. Neben seinen heterogenen eigenen Besitzungen bereiste der kosmopolitische und polyglotte Kaiser auch Staaten Deutschlands und Italiens, Frankreich, Spanien, die Schweiz, Polen, Russland und die Vereinigten Niederlande. Auffällig ist sein geringes Interesse für die Staaten des zusammengeschrumpften Heiligen Römischen Reiches, dessen Oberhaupt er auf dem Papier war.[6] Nach anderen Erdteilen, deren Besuch ihm selber verwehrt war, entsandte er Forschungsreisende.[7]
Der Graf von Falkenstein
Die Reisen scheinen für den vereinsamten, arbeitssüchtigen Monarchen geradezu eine Lebensnotwendigkeit dargestellt zu haben.[8] Wegen seines unersättlichen Appetits auf Realitätswahrnehmung waren sie nichts weniger als erholsam. Als seine Maximen auf Reisen nannte Joseph 1769: auf Bequemlichkeiten und Vergnügungen verzichten, nur das Nützliche und das Nötige tun, jede Etikette, jede Gesellschaft, Festlichkeiten und Gastmähler meiden, einfachste Equipage, kleinstes Gefolge und tägliche Niederschrift der gemachten Beobachtungen.[9]
Um die Fesseln des Zeremoniells abzuschütteln und den Aufwand für Repräsentation zu vermindern, reiste Joseph inkognito, wie dies Angehörige des Hochadels und auch regierende Fürsten damals häufig taten. Außerhalb der Staaten des Hauses Österreich führte er dabei den Titel „Graf von Falkenstein“, nach einer Grafschaft in der Pfalz, die er von seinem Vater Kaiser Franz I. von Lothringen geerbt hatte und ohne deren Besitz er zu Lebzeiten seiner Mutter Maria Theresia von Österreich[10] nicht Römischer König und Kaiser hätte sein können.[11]
Während er im Ausland wie ein Privatmann gekleidet war, trug er im Inland statt des weißen Uniformrocks der Generalität den grünen des mährischen Chevau-légers-Regiments Kaiser Nr. 1. Um besser gesehen zu werden, durchfuhr er Ortschaften im Stehen, weshalb sein Wagen mit Halteriemen versehen war.[12] Mit leutseligem Verhalten gegenüber Geringen und schroffer Abweisung von Großen gab er zu verstehen, dass für ihn alle Menschen gleich seien.
Nachtstationen, Distanzen, Dauer
Von seinen Übernachtungen außerhalb Wiens entfielen 157 auf Prag und den Truppenübungsplatz Hloubětín (Tiefenbach), 98 auf Pest und Buda (Ofen), 93 auf Brünn (tschechisch Brno) und den Truppenübungsplatz Turany (Turas), 63 auf Florenz, 50 auf Paris und Versailles, 47 auf Lwiw (Lemberg), 45 auf Mailand, 43 auf Innsbruck und Umgebung, 28 auf Neapel und Umgebung, 27 auf Hermannstadt (rumänisch Sibiu), 26 auf Rom, 24 auf den Truppenübungsplatz Lužice u Mostu (Luschitz bei Brüx), je 22 auf Königgrätz (tschechisch Hradec Králové) sowie auf Sankt Petersburg und Umgebung, 21 auf Brüssel sowie 20 auf Frankfurt am Main und Umgebung. Hinzu kamen die Hauptquartiere während des Bayerischen Erbfolgekriegs 1778 – Rtyně v Podkrkonoší (Ertina) mit 33, Jičín (Jitschin) mit 31 sowie Oleśnica (Oels) mit 28 – und während des Türkenkriegs 1788 – Zemun (Semlin) mit 138 sowie Lugoj (Lugosch) mit 21 Übernachtungen.[13]
Am längsten dauerten mit je 4 ½ Monaten Josephs Reisen nach Italien 1769 und nach Siebenbürgen/Galizien 1773 sowie mit je 4 Monaten jene nach Frankreich 1777, nach Russland 1780 und nach Italien 1783/84. Die größten Distanzen legte der Kaiser auf den Reisen nach Frankreich 1777 sowie nach Russland 1780 und 1787 zurück, die bis nach San Sebastián, nach Moskau und auf die Krim führten.[14]
Am längsten von Wien abwesend war Joseph im Bayerischen Erbfolgekrieg (7 ½ Monate) und im Türkenkrieg (9 ½ Monate).
Quellen
Unterwegs diktierte der Kaiser bis zum Antritt der Alleinherrschaft jeden Abend, was und wen er gesehen hatte. Eine wichtigere Geschichtsquelle als Josephs Tagebücher, die mehr den äußeren Rahmen der Reisen dokumentieren, sind seine (von den Herausgebern des 19. Jahrhunderts zensurierten) Briefe an die Mutter, an Staatskanzler Kaunitz, Feldmarschall Lacy, die Fünf Fürstinnen[15] usw. Solange er noch Mitregent war, verfasste er nach Reisen innerhalb der Monarchie auch ausführliche Berichte, in denen er die zum Teil noch mittelalterlichen Zustände anprangerte und Reformen vorschlug.
Die zahllosen Anekdoten über den inkognito reisenden Kaiser sind keine Geschichtsquellen im eigentlichen Sinn. Bei viel zitierten Briefen Josephs II.[16] handelt es sich um Fälschungen, die ein gewisser Joseph Grossing fabriziert haben dürfte[17]. Die volkstümliche Literatur, welche sich um die Reisen des Herrschers rankte[18], wurde von Fritz von Herzmanovsky-Orlando in Kaiser Joseph und die Bahnwärterstochter parodiert. In dem Stück fährt der Graf von Falkenstein mit den „Kaiserlich Erbländisch Antizipierten Eisenbahnen“. Ebenso ahistorisch ist, dass ein Attentat auf ihn verübt wird – obwohl Joseph auf Leibwachen verzichtete, wurde er nie angegriffen.
Nachstehend in chronologischer Reihenfolge die wichtigeren Reisen, einschließlich der Feldzüge (wo nichts weiter angegeben ist, handelt es sich in der Regel um den Besuch von Truppenübungen):
Bis 1765 fanden Josephs Reisen im Stil seiner Eltern statt, mit barockem Pomp, ermüdenden Festivitäten und hohen Kosten.
Krönung Maria Theresias in Pressburg 1741
Bei seiner ersten Reise war Joseph gerade einmal drei Monate alt: Seine Mutter Maria Theresia nahm den Stammhalter im Juni nach Pressburg (1536–1783 Hauptstadt von Ungarn, seit 1919 Bratislava) mit, wo sie sich zur Königin von Ungarn krönen ließ.
Krönung in Frankfurt am Main 1764 (42 Tage)
Wahl und Krönung zum Römischen König (im März beziehungsweise April) sicherten Joseph die Nachfolge seines Vaters Franz I. als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Auf der Fahrt nach Frankfurt am Main hatten Franz, Joseph und dessen Bruder Leopold (II.) so viel Gefolge, dass an jeder Poststation 450 Pferde bereitgestellt werden mussten.[19] Die Rückreise erfolgte ab Donauwörth mit dem Schiff.
Bergwerke Ungarns 1764
Im Juli besuchten Franz, Joseph und Leopold die Gold- und Silberbergwerke Ungarns[20].
Böhmen 1764
Im Oktober waren Joseph und Leopold in Prag.
Steiermark, Kärnten, Tirol 1765 (65 Tage)
Im Juli fuhr die ganze Kaiserfamilie zu Leopolds Hochzeit mit Maria Luisa von Spanien nach Innsbruck, wo auf diesen Anlass hin die Triumphpforte errichtet wurde. Joseph unternahm einen kurzen Ausflug an den Gardasee. Der Aufenthalt in der Hauptstadt Tirols endete tragisch, indem Franz I. während einer Theatervorführung starb. Damit wurde sein Ältester Kaiser, Mitregent Maria Theresias in den Staaten des Hauses Österreich und Oberbefehlshaber der k. k. Armee. Zurückgefahren wurde im September auf Inn und Donau.
Böhmen, Sachsen, Österreichisch Schlesien, Mähren 1766 (43[21] beziehungsweise 50[22] Tage)
Bei dieser ersten größeren Reise, die Joseph allein unternahm, musste er sich noch auf die Besichtigung von Militärischem – von Schlachtfeldern des Siebenjährigen Kriegs und von Festungen – beschränken.
Ungarn, Banat, Slawonien 1768 (57 Tage)
Im Banat von Temeschwar (rumänisch Timișoara)[23] durfte Joseph erstmals auch Wirtschaft und Verwaltung unter die Lupe nehmen. Mit sieben „Kavalieren“[24], 13 Wagen und 76 Pferden waren Gefolge und Tross immer noch weit größer als bei späteren Reisen. Zu Ehren des Gastes wurde eine Vorstadt von Timișoara in Iosefin (Josefstadt) umbenannt.[25]
Nicht nur von den militärischen Anlagen, von den Spitälern, Kerkern und Bergwerken wollte er sich ein detailliertes Bild machen, sondern zuvorderst von der Lage der Siedler.[26]
Über das Gesehene verfasste der Mitregent einen extrem kritischen Bericht. Die Folge war, dass Maria Theresia das Banat reorganisierte und es Ungarn angliederte.[27] Der in dem Gebiet aufgewachsene Johann Friedel schrieb später: „Man sprach von dieser Reise wenig; und doch war sie eine der glänzendsten, die Joseph that. Er tödtete die lernäische Hydra, die nichts als Gift und Verderben unter die Seinen sprühte, und pflanzte in die Fußstapfen des verscheuchten Elendes goldne Früchte Hesperiens hin.“[28]
Kirchenstaat, Neapel, Toskana, Parma, Mantua, Mailand, Piemont, Venedig (ca. 140 Tage[29])
Seit Karl V. war kein Kaiser mehr in Rom gewesen. Umso mehr Aufsehen erregte, dass Joseph im März unangekündigt und nur von Oberststallmeister Dietrichstein begleitet dort eintraf, als nach dem Tod von Clemens XIII. das Konklave tagte. Er wählte diesen Zeitpunkt nicht, weil er Einfluss auf die Wahl des neuen Papstes nehmen wollte[30], sondern weil die Sedisvakanz das Protokoll vereinfachte. So konnte er mit Leopold, der beim Tod des Vaters das Großherzogtum Toskana erhalten hatte, vierzehn Tage lang wie ein Privatmann die Ewige Stadt besichtigen.
Es folgten anderthalb Wochen bei seiner Schwester Maria Carolina, die im Jahr zuvor Ferdinand IV. von Neapel geheiratet hatte. Der Kaiser ließ den ohne Erziehung aufgewachsenen König seine geistige Überlegenheit spüren, was diesen begreiflicherweise verstimmte. In Pompei, das er besichtigte, heißt eines der ausgegrabenen Häuser nach ihm.[31] Anschließend leistete er fünf Wochen lang seinem Bruder in Florenz Gesellschaft, der sich von der Pockenimpfung erholte.[32] Schon 1768 hatte sich Joseph ausgemalt, wie sie den ganzen Tag in der Villa La Petraia zusammen sein würden – im Frack, ohne Degen, einen Strohhut auf dem Kopf.[33] Zwischendurch besuchte er Parma, dessen Herzog Josephs Schwester Amalia heiraten sollte.
Sechs Wochen verbrachte der Mitregent in den Herzogtümern Mailand und Mantua. Diese hatten mit den Österreichischen Niederlanden gemeinsam, dass sie keine Landverbindung mit den übrigen Staaten der Monarchie besaßen und nicht dem Staatsrat, sondern dem Staatskanzler (Außenminister) unterstanden. Anders als in Belgien hatte Kaunitz in der Lombardei Reformen durchführen können. Über deren Erfolg informierte sich Joseph bei Regierenden und Regierten mit der ihm eigenen Gründlichkeit. Seinem Wunsch entsprechend wurde 1770 die Steuerpacht abgeschafft.
Unterbrochen wurde der Aufenthalt im Mailändischen von einem zehntägigen Abstecher nach Turin, der Hauptstadt des Königreichs Sardinien. Den Rückweg nahm Joseph über Venedig. Dabei soll er im Dogenpalast das Gemälde von Zuccari, auf dem sich Friedrich Barbarossa dem Papst unterwirft, mit jenem „Tempi passati!“ kommentiert haben, das zum geflügelten Wort wurde.[34] Nach dem Besuch beeilte sich die Serenissima, die Verwaltung ihrer Besitzungen auf dem Festland (Terraferma) zu reformieren. Im Juli war Joseph wieder in Wien.[35]
Mähren, Zusammenkunft mit Friedrich II. in Nysa (Neisse), Böhmen 1769 (29 Tage)
Das Treffen mit dem Erzfeind des Hauses Österreich, bei dem Joseph von acht Generälen begleitet war, fand im August in Schlesien statt. Auf der Fahrt dorthin ging bei Slavíkovice (Slawikowitz) in Mähren der Wagen des Kaisers zu Bruch. In der erzwungenen Ruhepause hatte Joseph seinen glücklichsten Einfall: Er nahm einem Bauernkrecht den Pflug aus der Hand und zog damit wie die Kaiser von China Furchen. Dadurch gab er sich nicht nur als Anhänger der Physiokraten zu erkennen, die (im Gegensatz zu den Merkantilisten) im Ackerbau die Grundlage der Volkswirtschaft sahen, sondern bekundete auch sein Mitgefühl für die Leibeigenen, welche gerade in den Ländern der Böhmischen Krone mit Frondienst (Robot) für den Adel überhäuft waren.[36]
Ungarn, Slawonien, Banat 1770 (67 Tage)
Von April bis Juni inspizierte Joseph die Grenzen der Länder der Ungarischen Krone (ohne Kroatien und Siebenbürgen), wobei er sich nirgends länger aufhielt.
Mähren, Böhmen 1770 (15 Tage)
Begegnung mit Friedrich II. in Uničov (Mährisch Neustadt) 1770
Im September erwiderte der Preußenkönig Josephs Besuch, indem er in dessen Feldlager in Mähren reiste.
Mähren, Böhmen, Oberösterreich 1771 (47 Tage)
1770 und 1771 gab es Missernten. Die resultierende Hungersnot kostete Böhmen – das Herzstück der Monarchie – 600 000 seiner 4 Millionen Einwohner. Die Ursache sah der Kaiser in der Profitgier des Adels und im Schlendrian der Behörden. Im Herbst besuchte er das Katastrophengebiet. In der Folge ließ er die Not der Bevölkerung durch Getreidelieferungen aus Ungarn lindern.[37]
Ungarn, Banat, Siebenbürgen, Galizien, Österreichisch Schlesien, Mähren 1773 (131 Tage)
Von Mai bis September inspizierte Joseph, nach einem dritten Besuch des Banats, zwei weitere Sorgenkinder der Monarchie: Zwei Monate verbrachte er im Großfürstentum Siebenbürgen (Transsilvanien), sechs Wochen im Königreich Galizien. Mit dem Letzteren war Maria Theresia im Jahr zuvor abgefunden worden, als Friedrich II. und Katharina II. Teile Polens annektiert hatten.
Den Kaiser empörte, wie in Siebenbürgen römisch-katholische Ungarn (Szekler) und lutherische Deutsche (Sachsen) orthodoxe und griechisch-katholische Rumänen (Walachen) unterdrückten und in Galizien römisch-katholische Polen griechisch-katholische Ukrainer (Ruthenen) sowie Juden. Er besuchte lutherische Österreicher, die von seiner Mutter zwangsweise nach Siebenbürgen umgesiedelt worden waren. Allein in dem Großfürstentum soll er 15 000 Bittschriften entgegengenommen haben. In Hermannstadt wurde aus dem Gasthaus, in dem er nächtigte, das heutige Hotel Împăratul Romanilor (Römischer Kaiser).
Der Ritt entlang der Grenzen Galiziens, wo ihm Wanzen und Läuse zusetzten[38], war wohl sein strapaziösestes Unternehmen. Hätte ihn sein Begleiter Laudon nicht davon abgehalten, die polnisch gebliebene Grenzfestung Kamjanez-Podilskyj zu betreten, hätte ihn deren Kommandant Jan de Witte als Geisel genommen.[39] In der Folge ging das neu erworbene Königreich aus der Zuständigkeit der Staatskanzlei in jene der Böhmisch-Österreichischen Hofkanzlei über. Auch erreichte Joseph, dass es arrondiert wurde: auf Kosten Polens durch das Vorschieben der Ostgrenze bis zum Sbrutsch, auf Kosten des Osmanischen Reiches durch die Annexion der zwischen Siebenbürgen und Galizien gelegenen Bukowina (1775).[40]
Steiermark, Slawonien, Ungarn 1774 (22 Tage)
Böhmen, Mähren 1774 (20 Tage)
Kroatien, Slawonien, Küstenland, Venedig, Kirchenstaat, Modena, Parma, Toskana, Kärnten 1775 (73 Tage)
Diese von April bis Juni dauernde Reise galt primär Kroatien und Slawonien, die damals Nebenländer Ungarns waren, und dem vom Kommerzienrat verwalteten Küstenland (italienisch Litorale).[41] Gemäß Josephs Vorschlägen wurde dann der Freihafen Rijeka (Fiume) den Ungarischen Erbländern angegliedert, jener von Triest den Österreichischen. Nach Venedig nahm Joseph diesmal seine Brüder Leopold, Ferdinand und Max Franz mit. Während des abschließenden Aufenthalts in Florenz verbrachte er längere Zeit in der Villa del Poggio Imperiale, wo er Spiele für Leopolds Kinder erfand.[42]
Ungarn 1776 (13 Tage)
Böhmen, Mähren 1776
Bayern, Württemberg, Baden, Frankreich, Spanien, Schweiz, Vorderösterreich, Tirol, Salzburg 1777 (123 Tage)
Am meisten Aufsehen erregte Josephs Frankreichreise.[43] Seine Lieblingsschwester Marie-Antoinette war seit 1770 mit Ludwig XVI. verheiratet. Schon lange hatte er sie wiedersehen und ihre neue Heimat – das Laboratorium der Aufklärung – kennen lernen wollen. Als die Reise 1777 endlich stattfinden konnte, war das von Kaunitz ausgehandelte Bündnis zwischen Wien und Paris nur noch toter Buchstabe. Maria Theresia wünschte, dass sich der Kaiser für dessen Fortbestand einsetze. Namentlich sollte er erreichen, dass Marie-Antoinette dem König Kinder gebar. Der Staatskanzler riet ihm, der Schwester keine Vorwürfe zu machen (zum Beispiel wegen ihres Hangs zum Glücksspiel), Verhandlungen über den Erwerb Bayerns durch das Haus Österreich anzubahnen, von dem sich verschärfenden Konflikt Frankreichs mit England (Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg) zu warnen und sich für einen Abbau des französischen Haushaltsdefizits einzusetzen.[44]
Den Kaiser begleiteten der schweigsame Joseph von Colloredo, der stotternde[45] Philipp von Cobenzl und (von Paris bis Freiburg im Breisgau) der schwerhörige[46] Ludwig von Belgioioso. Die gesamte Reisegesellschaft bestand anfangs aus 25 Personen in drei sechsspännigen Wagen, worunter einer Garderobenkalesche, und zwei vierspännigen Kaleschen.[47] Die Hinreise nach Paris erfolgte über München und die französischen Garnisonsstädte Straßburg und Metz.
Wie sehr Marie-Antoinette den Kaiser beeindruckte, zeigt die Tatsache, dass er – entgegen seiner Gewohnheit – im Tagebuch festhielt, was sie bei ihrer ersten Begegnung trug: „Die Königin war in einer weißen Polonoise mit einem schwarzen Corse Hut, worauf Federn waren.“[48] Schon bei dieser ersten Begegnung sagte er ihr, wenn sie nicht seine Schwester wäre und er mit ihr vereint sein könnte, würde er nicht zögern, wieder zu heiraten, um sich eine so bezaubernde Gesellschaft zu verschaffen.[49] An Fürstin Clary schrieb er später über die Schwester: „(…) ich glaube, dass ich mit einer Frau wie ihr ein angenehmes Leben hätte führen können (…)“[50] Der Mutter berichtete er: „Ich habe Versailles mit Mühe verlassen, da ich wirklich an meiner Schwester hänge; ich habe dort ein angenehmes Leben kennen gelernt, auf das ich verzichtet hatte, an dem ich aber augenscheinlich immer noch Geschmack finde.“[51]
Das seit sieben Jahren verheiratete Königspaar gestand dem Kaiser, dass es die Ehe noch nicht vollzogen hatte. Nicht nur erwiderte Marie-Antoinette die Liebe Ludwigs XVI. nicht – die beiden wussten nicht einmal, worin eigentlich ihre ehelichen Pflichten bestanden. Niemand hatte gewagt, sie aufzuklären. Der Kaiser holte dies nach und ermöglichte ihnen so, Kinder zu bekommen, wie es die Staatsräson gebot.[52] Auch hinterließ er Marie-Antoinette freundschaftliche Ermahnungen, in denen er bereits auf die Möglichkeit einer Revolution hinwies.[53]
Der als Normalsterblicher verkappte Monarch war im schnelllebigen Paris der Held des Tages.[54] Die Salonière Madame du Deffand berichtete nach London: „Er hat während sechs Wochen Aufenthalt nichts gemacht oder getan, das Kritik verdient hätte. Man kann nicht tätiger, beredter und gleichzeitig einfacher, natürlicher und vorsichtiger sein.“[55]
Im Anschluss unternahm Joseph eine Rundfahrt an die Atlantik- und Mittelmeerküste Frankreichs. Wie er seine Reisen plante, zeigt ein Brief, den er zuvor an Leopold schrieb: „Ich rechne damit, in acht oder zehn Tagen abzureisen, und ich habe meine Zeit und den zurückzulegenden Weg berechnet. Ich habe noch sechsunddreißig Tage Zeit vor meinen Feldlagern und insgesamt neununddreißig Tage zu fahren, demzufolge bleiben mir siebenundzwanzig Tage für Besichtigungen, die ich nicht zum Voraus aufteilen kann, da ich mich danach richten will, welche Gegenstände sich als interessant erweisen.“[56]
Zu den Etappenzielen seiner Tour de France gehörten aus aktuellem Anlass die Kriegshäfen Brest und Toulon. Mehrtägige Aufenthalte schaltete er auch in den Handelsstädten Bordeaux, Marseille und Lyon ein. Selbst für einen Abstecher ins spanische Baskenland reichte die Zeit.
Den Rückweg nahm Joseph über Genf, die Schweiz und Vorderösterreich. Offenbar hatte er wenig Lust, zu Hause wieder die Rolle des gehorsamen Sohnes zu spielen. Nachdem ihm schon Lyon als Wohnsitz gefallen hätte, spielte er mit dem Gedanken, auf den Thron zu verzichten und an den Genfer See zu ziehen.[57]
In Frankreich hatte er viele Berühmtheiten getroffen[58], nicht aber Rousseau, wie behauptet wurde[59]. Nun unterließ er den erwarteten Besuch bei Voltaire in Ferney. Dies wohl nicht so sehr der bigotten Mutter zuliebe, als weil der Dichterfürst sein Inkognito missachtet hatte.[60] Die Brüskierung Voltaires kostete ihn viele Sympathien.[61] In Bern besuchte er Albrecht von Haller, dessen Nachlass er später kaufte.
Vorderösterreich hätte Joseph gerne um den schweizerischen Thurgau vergrößert.[62] Im Freiburger Münster demonstrierte er, dass Religiosität ohne Brimborium auskommt: Statt den bereitgestellten Betstuhl zu benützen, kniete er auf dem nackten Boden nieder.[63] In Waldshut bekundeten seine Bedienten Lavater gegenüber „große Sehnsucht nach Hause zurück – das Hin- und Herreisen, Auf- und Abpacken schien ihnen sehr verleidet zu seÿn.“[64] Vor Schaffhausen bewunderte Joseph die „Gewalt“ des Hochwasser führenden Rheinfalls.[65]
Im Tagebuch dieser Reise[66] nahm der Kaiser rund 850 Wertungen vor, von denen knapp 60 Prozent positiv ausfielen. Unter 74 besonders positiven Wertungen betreffen je 12 Grünanlagen und Schlösser, je 8 die bildenden Künste, Militärisches und das Theater, 7 Landschaften, 4 Industrien, 3 den Landbau und 2 Gelehrte. Von 47 besonders negativen Wertungen entfallen 14 auf Militärisches, insgesamt 8 auf die bildenden Künste und die Denkmalpflege, je 4 auf die Lage der Bauern und die Schifffahrt, je 3 auf Kranken-/Zuchthäuser, das Theater und die Viehzucht sowie je 2 auf Grünanlagen und Straßen. Nach der Reise sprach Joseph laut dem französischen Botschafter Breteuil nur noch vom Handel. Er wünsche, dass in den Häfen der Monarchie ein regeres Leben pulsiere.[67]
Steiermark, Ungarn 1777 (22 Tage)
Böhmen, Mähren 1777 (26 Tage)
Bayerischer Erbfolgekrieg 1778 (227 Tage)
Nach dem Tod des Kurfürsten Maximilian III. Joseph von Bayern erhob Joseph aufgrund von Verwandtschaftsbeziehungen und von Abmachungen mit dem kinderlos Verstorbenen Anspruch auf dessen Besitzungen. Friedrich II. gelang es, die übrigen deutschen Fürsten dagegen zu mobilisieren. Dieser Erfolg ließ ihn glauben, nun seinerseits dem Haus Österreich Böhmen entreißen zu können.
Im April ging Joseph als Oberkommandierender zur Armee. Als die zahlenmäßig überlegenen Preußen im Juli in Böhmen einfielen, war er einer Panik nahe. Er alarmierte die Mutter mit der Aussage: „Die Erhaltung der Monarchie hängt anjetzo (…) von wenigen unglücklichen Augenblicken ab.“[68] Seinem Bruder Leopold schrieb er: „Was ist der Krieg doch für eine schreckliche Sache, die Verwüstung der Felder, der Dörfer, die Klagen der armen Bauern, schließlich der Ruin so vieler Unschuldiger, die Unruhe, die einen Tag und Nacht erfüllt (…) da der kritische Moment gekommen ist (…)“.[69]
Der erste Feldzug des 37-jährigen dauerte bis im November und endete mit dem Rückzug des alten Fritz. Zu einer Entscheidungsschlacht war es nicht gekommen. Maria Theresia hatte hinter dem Rücken des Sohnes Friedensfühler ausgestreckt.[70] Nachdem 1779 der Friede von Teschen geschlossen worden war, soll Joseph zum französischen Botschafter Breteuil gesagt haben, wenn man in seinem Alter die Gelegenheit verpasst habe, Feldherrnruhm zu erwerben, müsse man den Waffen entsagen und Eremit werden.[71]
Mähren, Österreichisch Schlesien, Böhmen, Oberösterreich, Innviertel 1779 (82 Tage)
Die ersten sechs Wochen dieser Reise, die von August bis November dauerte, verwendete Joseph darauf, die Nordgrenze der Länder der Böhmischen Krone zu inspizieren. Nach drei weiteren Wochen in Böhmen nahm er mit dem Innviertel das einzige Stück Bayerns in Augenschein, das der Friede von Teschen der Monarchie belassen hatte.
Ungarn, Mähren, Galizien, Polen, Russland 1780 (117 Tage)
Angesichts der antiösterreichischen Politik Friedrichs II. und des schlechter gewordenen Verhältnisses zu Frankreich strebte Joseph eine Zusammenarbeit mit Katharina II. an. Da die beiden für 1780 planten, benachbarte Teile ihrer Staaten zu besuchen, schlug er der Kaiserin vor, sich bei dieser Gelegenheit kennen zu lernen.[72] Auf Katharinas Zusage hin fuhr er im April nach Galizien und von dort im Mai an den vereinbarten Treffpunkt Mahiljou (Mogilew) in Belarus.
Beim Verlassen der Monarchie übergab er den 28 Personen, die ihn begleiteten, einen eigenhändig geschriebenen Befehl, in dem es u. a. heißt: „Niemand unterfange sich, auch den geringsten Fremden zu beschimpfen oder wohl gar zu schlagen. (…) Die Kutscher sind nicht anzutreiben, und kommen Wagen uns entgegen, dulde man es ohne Murren.“[73] Der Fuhrpark umfasste fünf halbverdeckte Kaleschen und zwei Küchenwagen, die zusammen 40 Pferde benötigten.[74]
Zuerst durchquerte der Kaiser den verbliebenen Rest Polens. Mit Kiew (Ukraine) erreichte er die erste Stadt in Katharinas Reich. Dort studierte er das russische Militär.[75] Feldmarschall Rumjanzew diente ihm als Übungsobjekt für das landesübliche Lobpreisen der Mächtigen. Mit Josephs eigenen Worten: „Um ihn zu rühmen, verbrannte ich viel Weihrauch – ich an seiner Stelle hätte Krämpfe bekommen, er aber schien davon nicht einmal niesen zu müssen.“[76]
Mahiljou erwies sich als hässliche hölzerne Stadt mit Straßen voller Schlamm. In der Gegend wimmelte es von Mücken.[77] Joseph begleitete Katharina bis nach Smolensk und fuhr dann ohne sie nach Moskau, wo er eine Woche verbrachte. Die Größe der Stadt beeindruckte ihn. Im Kaisergarten gefielen ihm die Spaziergängerinnen, „alle nach französischer Mode sehr gut gekleidet, von denen eine Unendlichkeit sehr hübsch war“.[78]
In Sankt Petersburg traf er wieder mit der Kaiserin zusammen. Er beneidete den Kronprinzen Paul (I.) um dessen Gattin Maria Fjodorowna (Sophia Dorothea von Württemberg). Hätte er zehn Jahre früher von einer Prinzessin gewusst – so schrieb er der Mutter –, die das kluge Verhalten und die körperlichen und geistigen Vorzüge der Großfürstin gehabt hätte, wäre er ohne Zögern nochmals vor den Altar getreten.[79] Er musste den Grundstein zum Tempel der Freundschaft legen, den Maria Fjodorowna im englischen Garten ihrer Sommerresidenz Pawlowsk errichten ließ.[80]
Nach drei Wochen Aufenthalt an der Newa und am Bottnischen Meerbusen nahm er den Rückweg über Katharinas Besitzungen im Baltikum und dann über Polen und Galizien. In Jelgava (Mitau) stellte er sich, als ob er im Wagen schliefe, um ein nicht opportunes Zusammentreffen mit dem Herzog von Kurland zu vermeiden.[82] Im litauischen Kaunas (Kowno) schrieb er der Mutter bei einem Juden, wo es nur eine Bank, aber keinen Tisch gab.[83]
Im Verlauf der Reise hatte Joseph erfahren, dass Katharina daran dachte, das Byzantinische Reich zu erneuern[84] und ihren zweitgeborenen Enkel Konstantin als Kaiser in Konstantinopel einzusetzen[85]. Ihrem Gast hatte sie zu suggerieren versucht, er könne sich an Rom und dem Kirchenstaat schadlos halten.[86] Obwohl Joseph diese Pläne für Luftschlösser hielt und den Absichten Katharinas misstraute[87], schloss er mit ihr 1781 ein geheimes Defensivbündnis[88], was ihm einige Jahre später zum Verhängnis wurde.
Mähren, Böhmen 1780 (28 Tage)
Auch nachdem ihm der Tod der Mutter die alleinige Verantwortung für den Vielvölkerstaat aufgebürdet hatte, verzichtete der Kaiser nicht auf lange Reisen im In- und Ausland. Den Feldzug von 1788 eingerechnet, war er zwei der neun Jahre seiner Alleinherrschaft von Wien abwesend. In dieser Zeit übernahm Kaunitz die Rolle eines stellvertretenden Staatsoberhaupts.[89]
Nördlicher Oberrhein, Österreichische Niederlande, Vereinigte Niederlande, Frankreich, Württemberg, Bayern 1781 (85 Tage)
Josephs erste Reise in dieser Periode[90] dauerte von Mai bis August 1781. Der einzige seiner Staaten, den er noch nicht gesehen hatte, waren die Österreichischen Niederlande.[91] Wie Mailand unterstanden sie dem Staatskanzler. Sie hatten den höchsten Lebensstandard Europas[92], aber nahezu mittelalterliche Verfassungen[93]. Ihre Gerichtshöfe trotzten ähnlich den Parlamenten Frankreichs der Zentralgewalt. Der Souveräne Rat von Brabant zum Beispiel baute sich damals in Brüssel einen Palast, der heute als Palast der Nation Belgiens Föderales Parlament beherbergt. Gouverneur Karl von Lothringen (Josephs Onkel) war 1780 gestorben. Zu seinen Nachfolgern hatte Maria Theresia Josephs Schwester Marie Christine und deren Gatten Albert von Sachsen-Teschen ernannt. Die beiden hatten ihr Amt aber noch nicht antreten können, weil der Kaiser darauf bestand, seinen wertvollsten Besitz zuvor persönlich in Augenschein zu nehmen.
Joseph plante, die Organisation der Österreichischen Niederlande jener seiner andern Staaten anzugleichen. Bei seinem Besuch umging er alle üblichen Formalitäten und Zeremonien, trug einfache Uniform und nächtigte in Gasthöfen statt in Palästen und Abteien. Er präsentierte sich als effektiver, dynamischer Landesherr, der alle Aspekte der Verwaltung unter die Lupe nahm – und vieles andere mehr.[94] Sein Gefolge bestand lediglich aus Generalmajor Terzi[95], Oberstabschirurg Brambilla, den Kabinettssekretären Knecht und Anton, zwei Angehörigen der Ungarischen Adeligen Leibgarde, zwei Köchen, fünf Leiblakaien, einem Wagenmeister und einem „Aufseher der Bagage“. Weitere Gardisten gewährleisteten als Kuriere die Kommunikation mit Wien und den anderen Höfen. Der Fuhrpark umfasste drei sechsspännige und drei vierspännige Wagen, für die bei 361 Poststationen Pferde bestellt werden mussten.[96] Als kleine Konzession an seinen Erholungsbedarf gestattete sich Joseph auf der Hinfahrt „einen Umweg, um den fruchtbarsten Teil Deutschlands, nämlich die Bergstraße und die Pfalz, zu sehen“.[97] In einem Kloster in Namur besuchte der Monarch die Marquise von Herzelles, der er nach dem Tod seiner zweiten Gattin einen Heiratsantrag gemacht haben könnte.[98]
Die Reise fand in einer Zeit internationaler Spannungen statt: Während Frankreich und die Vereinigten Niederlande im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg die USA unterstützten, blieb Österreich neutral, was seinem Seehandel zugutekam. Als grau gekleideter „Graf von Falkenstein“ und ohne jedes Begleitfahrzeug unternahm der Kaiser einen Abstecher ins französische Dünkirchen, das mit einem Überfall der Royal Navy zu rechnen hatte. Bis ihn ein Matrose erkannte, hatte er schon den halben Hafen besichtigt.[99] In Ostende, das er zum Freihafen erklärte, musste er aus Rücksicht auf den Bündnispartner Frankreich darauf verzichten, wie einst sein Vater nach England überzusetzen. In Brügge traf er den Herzog von Gloucester, der ihm im Auftrag seines Bruders Georg III. entgegengereist war.[100] Bei Gent und Antwerpen rekognoszierte er Grenzbefestigungen der Vereinigten Niederlande. In Brüssel entfaltete er laut Frankreichs Botschafter d’Adhémar eine „unvorstellbare“ Aktivität[101], um sich einen Überblick über die Verwaltung des Landes zu verschaffen. Von den Tausenden von Bittschriften, die er entgegennahm, befassten sich viele mit Binnenzöllen und Mängeln der Justiz.[102]
Während die neuen Gouverneure in Brüssel einzogen und an seiner Stelle die Verfassung des Landes beschworen, bereiste Joseph die Vereinigten Niederlande. Dabei folgte er den Spuren Peters I. von Russland.[103] Er bewunderte den „unvergleichlichen und unglaublichen Reichtum der Industrie“[104], fand hingegen das Militär in schlechtem Zustand. Wie überall erstreckte sich sein enzyklopädisches Interesse auch auf soziale, wissenschaftliche, religiöse und kulturelle Einrichtungen. In Amsterdam umfasste sein Tagesprogramm nicht weniger als 20 Sehenswürdigkeiten[105]. Eine besondere Vorliebe bekundete er für Gärten und Alleen. Einen weiteren Abstecher gestattete er sich, um das Modebad Spa im Fürstbistum Lüttich zu sehen, wo er aber nur zwei Tage blieb. Er traf dort Prinz Heinrich von Preußen in Begleitung der Schriftsteller Raynal und Grimm.[106] Mehr am andern Geschlecht interessiert als der Bruder Friedrichs II., ließ er sich die Gesellschaft Lady Derbys und dreier junger Irinnen gefallen.[107] Auch machte er seine Schwester in Paris auf die bevorstehende Ankunft der schönen Schwiegertochter des Kommandanten von Kamjanez-Podilskyj, Zofia Wittowa, aufmerksam.[108]
Als er auf der Rückfahrt selber in Versailles eintraf, veranstaltete Marie-Antoinette zu seinen Ehren ein Fest im Petit Trianon. Wegen des Themas Wiedersehen von Bruder und Schwester wurde Glucks Oper Iphigénie en Tauride aufgeführt, „nach welchen“ – so Terzi – „die gantze Gesellschafft in den sehr groß- und schönen englischen Garthen, so auf eine neue Arth illuminirt und in unterschiedlichen Gegenden mit allerhand musicalischen Instrumenten besetzt ware, spazieren giengen“.[109]
In Étupes[110] bei Montbéliard hielt der Kaiser im Namen seines Neffen Franz (II.) um die Hand Elisabeth von Württembergs an, der Schwester von Großfürstin Marija Fjodorowna. Die Ehe sollte das Bündnis von Wien und Sankt Petersburg besiegeln. Kaunitz hatte seinem Herrn erfolglos empfohlen, die Prinzessin selber zu heiraten.[111]
Im Anschluss an die Reise veranlasste Joseph die Vereinigten Niederlande, ihre Truppen aus den Barrierefestungen an der französischen Grenze abzuziehen. Hingegen erreichte er nicht, dass sie die Blockade der Schelde aufhoben und Antwerpen den 1585 verlorenen Zugang zum Meer gewährten. Das Projekt, die Österreichischen Niederlande mit dem in Brüssel geborenen Kurfürsten Karl Theodor von der Pfalz gegen Bayern zu tauschen[112], scheiterte 1785 am Widerstand des Fürstenbunds, den Friedrich II. gründete, aber auch an Josephs eigener Unentschlossenheit. Die Opposition von Geistlichkeit und Ständen gegen seine Reformen[113] führte 1789 zur Brabanter Revolution.
Ungarn 1781 (10 Tage)
Mähren, Böhmen 1781 (27 Tage)
Ungarn, Slawonien, Kroatien, Banat, Siebenbürgen, Bukowina, Galizien 1783 (78 Tage)
In Erwartung eines Krieges Russlands gegen die Türkei, in den er als Verbündeter Katharinas II. hineingezogen werden konnte, hatte Joseph über 100 000 Kroaten und 100 000 reguläre Soldaten aufgeboten.[114] Von April bis August 1783 inspizierte er die 1500 km lange Grenze der Monarchie mit dem Osmanischen Reich, wobei er nur in Petrovaradin (Peterwardein), Hermannstadt, Czernowitz (ukrainisch Tscherniwzi) und Lwiw mehr als zweimal übernachtete. Bei den unterdrückten Walachen Siebenbürgens weckte er Hoffnungen, die 1784 zum Horea-Aufstand gegen den ungarischen Adel führten.
Mähren, Böhmen 1783 (36 Tage)
Kärnten, Tirol, Mantua, Parma, Kirchenstaat, Toskana, Neapel, Genua, Mailand, Venetien, Görz, Triest, Krain, Steiermark 1783/84 (116 Tage)
Anders als die ersten beiden Italienreisen des Kaisers fand diese im Winter (Dezember bis März) statt. Unangekündigt erwiderte Joseph den Besuch, den ihm Papst Pius VI. 1782 in Wien gemacht hatte. Dabei trotzte er dem Pontifex das Recht ab, Bischöfe zu ernennen und historische Grenzen von Diözesen der politischen Landkarte anzupassen.[115]
Nach einem neuerlichen Besuch bei seiner Schwester Maria Carolina in Neapel verbrachte Joseph drei Wochen in Pisa und Livorno. Dabei forderte er seinen Bruder und Erben Leopold auf, die Toskana, welche er ihm 1765 überlassen hatte, wieder mit dem Gesamtstaat zu vereinigen. Nachdem ihr Bruder Ferdinand 1780 die Erbin des Herzogtums Modena geheiratet hatte, wäre so in Italien ein zusammenhängender Familienbesitz entstanden, der sich durch die Annexion venezianischer Gebiete mit Österreich hätte verbinden lassen. Nach den Vorstellungen Leopolds, der Ressentiments gegen Joseph hegte, sollte das Großherzogtum hingegen eine Sekundogenitur werden. Er wollte es zu diesem Zweck in eine Konstitutionelle Monarchie mit Parlament und Zensuswahlrecht umwandeln. Auch widerstrebte ihm, dass sein Ältester Franz (II.) unter Josephs Aufsicht in Wien erzogen werden sollte. Doch in diesem Punkt brachte der Kaiser den Bruder zum Nachgeben, indem er ihm eine großzügige Versorgung seiner übrigen sechs Söhne versprach.[116] Mit schonungsloser Offenheit schrieb er Leopold, er übernehme die Erziehung von Franz nur aus Pflichtgefühl, da dieser langsam, faul, introvertiert, einfallslos, ohne Ehrgeiz und verschlagen sei: „Seine natürlichen Anlagen empfehlen diesen jungen Mann in keiner Weise (…)“[117] Die Reise schloss mit Aufenthalten von drei Wochen in Mailand und von einer Woche in Triest.
Mähren, Böhmen, Ungarn 1784 (59 Tage)
Tirol, Mantua, Mailand, Venetien, Kärnten, Steiermark 1785 (37 Tage)
Laut Eleonore von Liechtenstein war Joseph nach dieser Reise blass, abgemagert, ohne Kraft und Stimme. Er sah aus wie jemand, der eine schwere Krankheit überstanden hatte.[118]
Steiermark, Kroatien, Slawonien, Ungarn, Siebenbürgen, Bukowina, Galizien 1786 (71 Tage)
Von dieser Reise kehrte Joseph laut Eleonore von Liechtenstein sehr gealtert zurück.[119]
Mähren, Böhmen, Oberösterreich, Steiermark 1786 (44 Tage)
Mähren, Galizien, Russland, Polen 1787 (81 Tage)
Katharina II. provozierte die Türken, indem sie einen Triumphzug durch ihre neu erworbenen Besitzungen am Schwarzen Meer unternahm. Er gipfelte im Besuch der Krim, die sie sich ohne die Allianz mit dem Kaiser nicht hätte aneignen können. Umgekehrt folgte Joseph nur um dieses Bündnisses willen der Einladung, an der Reise teilzunehmen – wenn irgendwohin, wäre er lieber nach England gefahren
Es war eine Hofreise alten Stils, zu der Katharina im Januar per Schlitten aufbrach. Bis im Mai blieb sie in Kiew, um die Fahrt dann auf dem Dnepr (ukrainisch Dnipro) fortzusetzen. Joseph verließ Wien erst im April. Unterwegs besichtigte er das Salzbergwerk Wieliczka in Galizien. Ab Lwiw benötigte er 52 Pferde – wenigstens bis die mitgeführte Feldküche von einer Brücke fiel.
Als Treffpunkt war die 1778 gegründete Stadt Cherson an der Mündung des Dnepr vereinbart. Da Katharina dort aber noch nicht eingetroffen war, fuhr ihr der Kaiser flussaufwärts bis Kodak entgegen. Der vor der Zeit gealterte 46-jährige musste der beleibten 58-jährigen den Hof machen und über das exzentrische Benehmen ihres 47-jährigen Exgeliebten Potjomkin (ältere Schreibweise Potemkin) und seines 28-jährigen Nachfolgers Mamonov hinwegsehen. Die beiden gekrönten Häupter legten gemeinsam den Grundstein zur Kirche der Stadt Jekaterinoslaw (später Dnipropetrowsk, heute Dnipro), welche die Kaiserin an den Stromschnellen des Dnepr erbauen ließ.
Man führe die Reisegesellschaft von Illusion zu Illusion, sagte Joseph zu Frankreichs Botschafter Ségur, der mit von der Partie war.[122] Auch beklagte er dem Diplomaten gegenüber die Härte der Leibeigenschaft und den geringen Wert des Menschenlebens im Reich der Gastgeberin.[123] Als er aber die Gunst eines Mädchens aus dem Volk zu erkaufen versuchte, was offenbar zu seinen Gewohnheiten gehörte, drohte dessen Besitzer einen Skandal daraus zu machen, so dass der weltgewandte Fürst von Ligne seinem Chef aus der Patsche helfen musste.[124]
Der Besuch der Krim dauerte gut zwei Wochen. Auf einem abschüssigen Straßenstück vor Bachtschyssaraj, der ehemaligen Residenz des Tataren-Khans, gingen die sechzehn Pferde durch, welche Katharinas Staatswagen zogen, doch kamen die Insassen mit dem Schrecken davon.[125] Joseph kaufte von einem Sklavenhändler ein sechsjähriges Tatarenmädchen, das er in Wien erziehen ließ.[126] Höhepunkt der Reise war die Inspektion der 1783 gegründeten Hafenstadt Sewastopol und der dort stationierten Schwarzmeerflotte. Nach Cherson zurückgekehrt, rekognoszierte der Kaiser die türkische Festung Otschakiw (russisch Otschakow), welche die Mündung des Dnepr beherrschte.
Als er mit großer Verspätung erfuhr, dass die Opposition gegen seine Reformen in Belgien gefährliche Formen angenommen hatte, brach er seine weiteste und abenteuerlichste Reise ab und eilte nach Wien zurück.[127]
Böhmen, Mähren 1787 (11 Tage)
Türkenkrieg 1788 (281 Tage)
Von Katharina II. provoziert, erklärte ihr die Hohe Pforte im August 1787 den Krieg. Das 1781 geschlossene Bündnis verpflichtete Joseph zum Beistand. Dabei hätte er sich um die Österreichischen Niederlande kümmern sollen, wo Geistlichkeit und Stände gegen seine Reformen Sturm liefen. Der Kaiser beschloss, einen Kordon von der Adria bis zum Dnister (polnisch Dniestr) zu bilden und diesen mit sechs Armeekorps zu decken[128], wodurch er dem Gegner die Initiative überließ.[129] Einzig ein Präventivschlag gegen Belgrad war geplant, doch scheiterte dieser am schlechten Wetter.
Nachdem Joseph die Kriegserklärung an die Türkei bis in den Februar 1788 hinausgezögert hatte, inspizierte er zuerst den westlichen Teil des Kordons. Im April eroberte das slawonische Korps Šabac (Schabatz). Der Kaiser übernahm persönlich das Kommando der Hauptarmee. Sein Hauptquartier schob er von Petrovaradin (Peterwardein) nach Zemun (Semlin) vor. Damit lag es Belgrad gegenüber, dessen Belagerung sich aber als unerwartet zeitaufwendig erwies.
Dann wurde der Feldzug zur Katastrophe, obwohl Joseph über 280 000 Mann gebot. Einerseits erkrankte er an Tuberkulose.[130] Andererseits bekam er es mit der türkischen Hauptarmee zu tun. Im August stieß diese über den Karpatenpass Poarta Orientală ins Banat vor. Statt ihr in die Flanke zu fallen, wie ihm sein militärischer Mentor Lacy riet, begnügte sich Joseph damit, dem Banater Korps zu Hilfe zu eilen, das sich hinter den erwähnten Pass zurückgezogen hatte. Nun drang eine andere feindliche Abteilung der Donau entlang ins Banat ein. Eine dritte drohte Joseph über Siebenbürgen in den Rücken zu fallen. Deshalb befahl er den nächtlichen Rückzug von Caransebeș (Karánsebes). In dessen Verlauf lösten ein Streit um Branntwein und ein falscher Alarm Schießereien unter den Truppen und die Flucht des Trosses aus. Die Armee flutete in Unordnung bis nach Lugoj (Lugosch) zurück. Der kranke Herrscher wurde von seinen Offizieren, ja sogar von seinem Reitknecht getrennt und musste sich eine Zeit lang mutterseelenallein durchschlagen.[131]
Erst im Dezember kehrte er nach Wien zurück. Zwar waren die Türken inzwischen Richtung Serbien abgezogen. Das Bukowiner Korps unter Sachsen-Coburg hatte, von den Russen unterstützt, Chotyn erobert, das kroatische unter Laudon Dubica und Novi (beide Bosnien). Doch der Feldzug hatte fast ebenso viel Geld gekostet wie der ganze Siebenjährige Krieg. Zusätzlich zu den im Kampf Gefallenen waren 80 000 Mann an Krankheiten gestorben oder in türkische Sklaverei geraten.[132]
Fortan verließ Joseph, der noch etwas mehr als ein Jahr zu leben hatte, Wien nicht mehr. Es hieß: „Der Bauern Gott, der Bürger Noth, des Adels Spott liegt auf den Tod.“[133] Während die Armee nun erfolgreicher gegen die Türken kämpfte[134], brach in den Österreichischen Niederlanden die Brabanter Revolution aus. Auch in den übrigen Staaten der Monarchie musste der sterbende Kaiser viele seiner Reformen rückgängig machen.
Nur „Kavaliere“, in alphabetischer Reihenfolge, ab 1765, ohne Feldzüge.
Chronologisch aufsteigend geordnet. Die Aufnahme eines Titels impliziert keine Wertung.
Ungedruckte Quellen
Die Reisetagebücher sind in deutscher Sprache abgefasst.
Gedruckte Quellen
Joseph II. korrespondierte wie andere Monarchen, der Hochadel und die Diplomatie auf Französisch. Zitierte Stellen wurden übersetzt.
Zeitgenössische Darstellungen
Neuere Publikationen mit übergreifender Thematik
Neuere Publikationen über einzelne Reisen
Literarische Werke
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