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Endphaseverbrechen in Österreich bei dem überwiegend politische Häftlinge und einige Justizbeamte ermordet wurden Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Das Massaker im Zuchthaus Stein und die darauf folgende, sogenannte „Kremser Hasenjagd“ (auch gesamthaft als „Kremser Häftlingsmorde“ tituliert[1]) waren Verbrechen im nationalsozialistischen Österreich, denen am 6. April 1945 und den darauffolgenden Tagen zwischen 400 und 500 Justizhäftlinge sowie einige Justizbeamte und Zivilisten zum Opfer fielen.[2] In der Nachkriegszeit bezeichneten die österreichische und westdeutsche Justiz solche kriminellen Handlungen am Ende des Zweiten Weltkriegs als Endphaseverbrechen, was als mildernder Umstand gewertet wurde.[3]
Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 erhielt die seit 1851 in Stein an der Donau bestehende Justizvollzugsanstalt die Bezeichnung Zuchthaus. Im auf rund 1000 Haftplätze ausgelegten Steiner Zuchthaus waren ausschließlich Männer untergebracht. Neben dem Zuchthaus Stein gab es in der kreisfreien Stadt Krems an der Donau eine weitere Vollzugsanstalt, nämlich die Haftanstalt Krems mit einer Aufnahmekapazität von etwa 200 männlichen und weiblichen Gefangenen. Die Haftanstalt Krems unterhielt 1945 zwei kleine Außenstellen und zwar in den Ortschaften Hörfarth[4] und Oberfucha.[5]
Die Häftlingsgesellschaft im Zuchthaus Stein deckte damals nahezu die gesamte Bandbreite an kriminellen und politischen Delikten ab. Betrachtet man das kriminelle Spektrum, dann entfiel mit 32 Prozent der größte Anteil auf Eigentumsdelikte (etwa Diebstahl, Einbruch, Hehlerei), gefolgt von zehn Prozent militärisch-disziplinären Delikten (u. a. Fahnenflucht, Wachvergehen), sieben Prozent Gewaltdelikten (Mord, Totschlag, Raub) und fünf Prozent Wirtschaftsdelikten (Verstöße gegen amtliche Preisregelungen, „Schwarzschlachten“). Demgegenüber waren rund 20 Prozent der Insassen aufgrund ihrer Mitwirkung am politischen Widerstand („Vorbereitung zum Hochverrat“) inhaftiert, etwa wegen Verteilung von regimekritischen Flugblättern oder Sammelns von Spenden für andere Gefangene. Sieben Prozent landeten wegen Widerstands gegen die deutsche Besatzungsmacht in den von der Wehrmacht okkupierten Gebieten Europas im Steiner Zuchthaus. Weitere zehn Prozent der Häftlinge waren wegen Wehrkraftzersetzung, Sabotageakten, Hörens von Feindsendern oder regimekritischer Äußerungen verurteilt worden.[6] Unter den politischen Häftlingen befanden sich NS-Gegner aus kommunistischen, sozialdemokratischen und christlich-sozialen Kreisen.
Die Mehrzahl der Häftlinge stammte aus dem Gebiet des heutigen Österreich, aus Deutschland, Griechenland, Jugoslawien, der Tschechischen Republik, Italien und Frankreich.[7]
Unter dem Eindruck der sich von Westen und Osten nähernden alliierten Armee wurden ab Ende 1944 innerhalb des Reichsjustizministeriums in Berlin Überlegungen angestellt, wie mit den Häftlingen in den NS-Vollzugsanstalten „bei Feindannäherung“ umgegangen werden sollte. Ergebnis dieser Beratungen war eine in vielerlei Hinsicht schwammig formulierte Richtlinie, die im Februar 1945 an alle Anstaltsleiter übermittelt wurde. Demnach wären nur Personen mit kurzen Strafresten zu entlassen, sämtliche Ausländer und „asoziale und staatspolitisch gefährliche Gefangene“ allerdings gesammelt unter Bewachung aus dem Frontbereich abzutransportieren. Sollte ein Abtransport nicht möglich sein, wären die Gefangenen entweder der Polizei „zur Beseitigung“ zu überstellen oder durch die Justizwache durch Erschießen „unschädlich zu machen“. Doch in Stein wartete man bis Anfang April 1945 vergeblich auf einen Räumungsbefehl, obwohl sich die Rote Armee bereits Wien näherte.[8]
Aufgrund der einsetzenden Schlacht um Wien und der damit verbundenen Beschlagnahme sämtlicher Transportkapazitäten im Eisenbahn- und Schiffsverkehr durch das Militär und zivile Stellen scheiterten alle Bemühungen des Anstaltsleiters Franz Kodré,[9] die zu diesem Zeitpunkt etwa 1800 bis 1900 Häftlinge rechtzeitig nach Westen zu evakuieren. Zudem gingen im Zuchthaus Stein die Lebensmittelvorräte zu Ende. Vor diesem Hintergrund und in sehr weiter Auslegung der Befehle aus Berlin und der Gauleitung von Niederdonau veranlasste Kodré zuerst am 5. April die Enthaftung von etwa 80 bis 100 „gewöhnlichen“ Straftätern und schließlich am 6. April morgens die Freilassung aller übrigen Gefangenen – auch der politischen Häftlinge – aus dem Zuchthaus Stein. Die Leitung der Haftanstalt Krems verfügte zeitgleich die Entlassung der Gefangenen aus dem Stammhaus und den beiden Außenstellen Hörfarth und Oberfucha.
Angesichts der bereits unmittelbar südlich von Wien stehenden sowjetischen Truppen wurde parallel ab dem 6. April 1945 ebenso mit der Räumung der Justizanstalt Wien-Josefstadt begonnen und politische Häftlinge entlassen, darunter auch der spätere österreichische Bundeskanzler Leopold Figl.[10]
Am 6. April morgens wurden alle Häftlinge aus den Zellen geholt und über die bevorstehende Freilassung informiert. Die Stimmung war entsprechend gelöst und fröhlich. Aus Protest gegen die Entscheidung des Direktors leisteten allerdings fanatische NS-Parteigänger unter den Aufsehern passiven Widerstand. Sie schritten nicht ein, als es bei der Ausgabe der Kleidersäcke der Gefangenen zu chaotischen Szenen kam. Um Ruhe und Ordnung während des Entlassungsprozesses zu gewährleisten, sah sich Justizverwaltungsinspektor Johann Lang gezwungen, an verlässliche Häftlinge Gewehre auszugeben.[11] Diese Maßnahme zeigte Wirkung, und die Freilassung ging zügig voran, es gab keine gewalttätigen Übergriffe, weder gegen Häftlinge noch gegen Aufseher. Im Laufe des Vormittags verließen so Hunderte ehemalige Häftlinge, allerdings nur wenige mit regulären Entlassungspapieren ausgestattet, zu Fuß marschierend den Ort ihrer Gefangenschaft.
Am späten Vormittag berichteten NS-getreue Aufseher dem Kreisleiter von Krems, Anton Wilthum, telefonisch von einer angeblichen „Revolte“ in der Strafanstalt Stein. Auch der in Krems befindliche Gauleiter Hugo Jury wurde über die Ereignisse informiert. Man beorderte sogleich Alarmeinheiten der Schutzpolizei, des Kremser Volkssturms, der Wehrmachtgarnison[12] sowie der Waffen-SS nach Stein.[13] Dort angekommen war von einem Aufstand nichts zu bemerken, allerdings löste die Präsenz der Militäreinheiten Nervosität unter den Häftlingen aus. Das Volkssturmkontingent stand unter dem Kommando von Kreisstabsführer SA-Standartenführer Leo Pilz, die aus Pioniersoldaten gebildete Wehrmachtseinheit befehligte Major Werner Pribil. In Begleitung von Pribil trat der eben in Krems eingetroffene NS-Führungsoffizier, Oberleutnant Lorenz Sonderer, auf den Plan. Sonderer, ursprünglich der Gebirgsjägertruppe zugehörig, sollte als „Sonderbeauftragter“ im Wirkungsbereich der Heeresgruppe Süd „mit allen Mitteln für die Aufrechterhaltung von Ordnung und Disziplin“ sorgen.[14] Sowohl Pilz als auch Sonderer galten als überzeugte Nationalsozialisten. Da Kodrés und Langs Argumentation, die Freilassung sei von der Justizverwaltung und durch den Regierungspräsidenten von Niederdonau, Erich Gruber, gedeckt, kein Glauben geschenkt wurde, begannen die Alarmeinheiten, die umliegenden Straßen zu sperren und die verbliebenen Häftlinge in das Anstaltsgelände zurückzudrängen. Kodré und Lang sowie die ihnen loyalen Beamten Johann Bölz und Heinrich Lassky wurden verhaftet, den bewaffneten Häftlingsposten die Gewehre abgenommen. Der stellvertretende Anstaltsleiter, Alois Baumgartner, hielt dabei ein seinen Vorgesetzten entlastendes Schreiben von Regierungspräsident Gruber hinsichtlich der Freilassung von Gefangenen bewusst zurück.
Panische Häftlinge versuchten darauf, in die Innenhöfe zu flüchten, und verriegelten die Tore. Pilz und seine Gesinnungsgenossen unter den Wärtern drangen ins Innere der Anstalt ein, warfen Handgranaten zwischen die Häftlinge und ermöglichten den Exekutiveinheiten den Zutritt durch die Tore. Sogleich eröffneten Waffen-SS und Wehrmacht wahllos das Feuer mit Gewehren, Pistolen und Maschinenpistolen auf die wehrlosen Häftlinge. Dutzende Gefangene wurden in den Höfen niedergeschossen, danach begannen SS-Einheiten, die Gebäudetrakte zu durchsuchen, und töteten dort versteckte Häftlinge. Selbst aus dem Krankenrevier wurden Verwundete herausgezerrt und im Freien massakriert. Verschont blieben lediglich jene Gefangene, die von couragierten Wärtern im letzten Moment wieder in die Zellen zurückgebracht und eingesperrt wurden, um den Eindruck zu vermitteln, die Insassen wären gar nicht zur Freilassung vorgesehen gewesen.
Der inzwischen vor Ort eingetroffene Kreisleiter Wilthum ordnete auf Befehl von Gauleiter Jury die Exekution von Kodré und seinen drei Mitarbeitern unter dem Vorwurf an, diese hätten ihre Dienstpflichten verletzt und einen Aufstand der Häftlinge ermöglicht. Die vier Beamten wurden von Angehörigen der Wehrmacht unter persönlicher Beteiligung des Oberbürgermeisters von Krems, Franz Retter, ohne jegliches Verfahren an der Gefängnismauer erschossen.[15] Erst nachträglich konstruierte man alibihalber ein Standgerichtsurteil.
Für die Opfer des Massakers hob man am Anstaltsgelände zwei Massengräber aus. Da in den Gruben letztlich zu wenig Platz war, transportierte man eine unbekannte Zahl an Toten zum nahen Ufer der Donau, um sie dort in den Fluss zu werfen. Bei der Exhumierungsaktion 1950 wurden aus den beiden Sammelgräbern insgesamt 248 Leichen geborgen.[16]
Die Zählung der überlebenden Häftlinge am Tag nach dem Massaker ergab 1074 Personen.[17] Etwa 200 Gefangene mit Freiheitsstrafen bis fünf Jahren wurden am 7. und 8. April regulär entlassen. Am 8. April wurden schließlich rund 800 Insassen zusammen mit Leidensgenossen aus den Haftanstalten Krems und Göllersdorf in Laderäume von Schleppkähnen gesperrt und unter Bewachung durch Steiner Justizbeamte die Donau flussaufwärts in Haftanstalten nach Bayern (München-Stadelheim, Bernau, Pocking bzw. Suben am Inn) verbracht. Dort erlebten sie schließlich die Befreiung durch US-amerikanische Streitkräfte.[18] In Stein selbst blieben nur etwa 50 kranke oder verwundete Häftlinge im Anstaltsspital zurück. Sie wurden erst durch Angehörige der Roten Armee am 9. Mai 1945 befreit.
Zeitgleich mit dem gewalttätigen Vorgehen gegen die Häftlinge im Steiner Zuchthaus begannen Greifkommandos der Wehrmacht und Waffen-SS, die Umgebung nach entlassenen Häftlingen abzusuchen. Unterstützt wurden sie von Einheiten der lokalen Gendarmerieposten sowie von Volkssturmtrupps der umliegenden Ortschaften. Viele der auf den Ausfallstraßen von Krems wegmarschierenden Häftlinge waren noch in Häftlingskleidern unterwegs und hatten von der Gewalteskalation in Stein keine Kenntnis. Sie wiegten sich in Freiheit, sahen keine Veranlassung, sich zu verstecken, und wurden so eine leichte Beute für die NS-Häscher. Einen allgemeinen Befehl, die wieder aufgegriffenen Häftlinge zu erschießen, gab es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht. Was mit den Gefangenen geschah, hing in erster Linie davon ab, wem sie in die Hände fielen.[19]
Die Herkunft des Begriffs „Kremser Hasenjagd“ ist nicht eindeutig belegt. Während Presseberichte bereits im Frühjahr 1946 die „Mühlviertler Hasenjagd“ thematisieren, dürfte dieser Euphemismus auf den Kremser Kontext nicht vor 1953 angewandt worden sein. Da der Begriff zudem dem Charakter der Verfolgungsmaßnahmen rund um den 6. April 1945 nicht gerecht wird, spricht eine aktuelle Forschungsarbeit von den „Kremser Häftlingsmorden“.[28]
Trotz der widrigen Umstände gab es couragierte Menschen, die ihre Handlungsspielräume nutzten und Häftlingen halfen:
Forschungsergebnissen aus dem Jahr 2024 zufolge verloren im Rahmen der „Kremser Häftlingsmorde“ neben fünf Justizbeamten und drei Zivilisten insgesamt mindestens 377 Häftlinge des Zuchthauses Stein sowie 20 Gefangene der Haftanstalt Krems ihr Leben. Nachdem das Schicksal von etwa 100 Insassen des Zuchthauses Stein bis dato nicht geklärt werden konnte, ist mit einer Gesamtopferzahl von bis zu 500 Menschen zu rechnen.[36]
Wenige Tage nach dem Massaker, am 9. April, gelangten 44 zum Tode verurteilte Häftlinge aus dem Wiener Landgericht in die leere Strafanstalt Stein, wo sie am 15. April 1945 vermutlich von Wiener Gestapo-Beamten erschossen wurden.[37] Darunter waren die beiden Franziskaner Angelus Steinwender und Kapistran Pieller, welche als Mitglieder des antifaschistischen Widerstands zum Tode verurteilt waren.[38] Zu den Erschossenen gehörten auch der katholische Priester Anton Granig, der führende Kopf der „Antifaschistischen Freiheitsbewegung Österreichs“ aus Klagenfurt, und Andreas Hofer, Mitglied der Widerstandsgruppe Maier-Messner-Caldonazzi.[39]
Noch im Herbst 1945 begannen Ermittlungen der Justiz im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Strafanstalt Stein. Zwölf Rädelsführer unter den Aufsehern sowie der Kremser Volkssturmkommandant und zwei Volkssturmmänner mussten sich vor dem Volksgericht Wien für die begangenen Verbrechen verantworten. Kreisleiter Wilthum und Gauleiter Jury verübten Selbstmord und entzogen sich so ihrer Verantwortung im Gerichtssaal. Oberleutnant Sonderer schlug sich in seine Bayerische Heimat durch und blieb für die österreichische Justiz unauffindbar. Der sogenannte „Stein-Prozess“ endete am 30. August 1946 für fünf der Angeklagten mit Todesurteilen (Leo Pilz, Alois Baumgartner, Anton Pomassl, Franz Heinisch und Eduard Ambrosch),[40] fünf weitere erhielten lebenslange Freiheitsstrafen, einer drei Jahre Haft und vier wurden freigesprochen.[41]
Ein eigener Volksgerichtsprozess beschäftigte sich mit dem Massaker in Hadersdorf. Im Zusammenhang mit dem Verfahren ließen die Behörden die Opfer der dortigen Erschießung im April 1946 gerichtlich exhumieren. Der lokale NSDAP-Ortsgruppenleiter, der NSDAP-Organisationsleiter von Hadersdorf sowie ein Beamter der Kreisleitung Krems wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.[42]
Auffällig erscheint, dass im Zuge der Nachkriegsprozesse kein einziger der beteiligten Waffen-SS-Angehörigen ausgeforscht bzw. gerichtlich belangt wurde. Mit einer Ausnahme blieben auch die involvierten Wehrmachtssoldaten unbehelligt.[43]
Insgesamt ermittelte die österreichische Justiz im Zusammenhang mit diesem Endphaseverbrechen gegen mindestens 43 Beschuldigte.[44]
Der Umstand, dass bislang nur ein Teil der Opfer der „Kremser Häftlingsmorde“ gefunden und exhumiert werden konnte, lässt den Schluss zu, dass im Umland von Krems noch bisher unbekannte Massengräber im Zusammenhang mit diesem Verbrechenskomplex existieren könnten. Zu gerüchteweise in den Ortschaften Gneixendorf, Rohrendorf und Theiß befindlichen Häftlingsgräbern fehlen bis dato jedoch eindeutige Belege.[45]
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