kristalline Tartrate, die bei der Weinherstellung anfallen Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Weinstein (von mittelhochdeutsch wīnstein; lateinisch Tartarus) ist ein Trivialname für bestimmte Tartrate (Salze der Weinsäure). Weinstein entsteht bei der Lagerung von Wein oder Traubensaft. Beim Auskristallisieren lagert er sich vorwiegend am Boden des Gefäßes (z.B. einer Flasche) oder am Flaschenkorken ab. Es handelt sich um ein Gemisch aus schwerlöslichen Salzen der Weinsäure, im Wesentlichen aus Kaliumhydrogentartrat (früher auch Kaliumhydrotartaricum genannt; Summenformel KC4H5O6, auch KH [C4H4O6]) und Calciumtartrat (Summenformel CaC4H4O6).[1]
Der Titel dieses Artikels ist mehrdeutig. Weitere Bedeutungen sind unter Weinstein (Begriffsklärung) aufgeführt.
Weinstein hat für Menschen keine schädlichen Auswirkungen.[2] Er fühlt sich im Mund zuerst wie scharfkantiger Sand an, der sich beim Zerreiben zwischen den Zähnen im Speichel auflöst.
Wein – vor allem Rotwein – wird unter anderem dekantiert, um Weinstein vom Wein zu trennen.
Das Vorhandensein von Weinstein ist kein Fehler des Weines;[3] es ist lediglich ein Hinweis darauf, dass beim Weinausbau der Wein nicht oder nur unzureichend chemisch (durch Metaweinsäure) oder physikalisch (durch Kälte) stabilisiert wurde.[4]
Als „gekalkter“ oder kalzinierter bzw. „gebrannter“ Weinstein (lateinisch tartarum calcinatum, auch sal tartari) wurde früher wohl kohlensaures Kali bezeichnet. Beim „Brennen“ (wie Conrad Gessner den Vorgang nannte) sintern die Weinkristalle zusammen, bis eine helle, luftige Masse entsteht, wobei der Weinstein sein Kristallwasser verliert und als Rückstand Kaliumcarbonat (K2CO3) zurückbleibt.[5]
Von historischem Interesse ist das sogenannte Weinsteinöl (lateinisch Oleum tartari). Hierunter verstand man Produkte, die bei der trockenen Destillation von Weinstein erhalten wurden, und zwar
das Destillat, das sogenannte brenzlige Weinsteinöl,[6] in der frühen Neuzeit durch „Brennen“ bzw. „Kalken“ („Calcinieren“, „Glühen“) des Weinsteins hergestellt,[7]
als dickflüssige Weinsteinlösung[8] den Rückstand, bestehend aus Kaliumcarbonat und Kohle, der infolge der Hygroskopie des Kaliumcarbonats Wasser aus der Luft anzieht, an der Luft zerfließt und daher zerflossenes Weinsteinöl[6] genannt wurde.[9]
Weinsteinöl fand früher in der Heilkunde zur Behandlung von Hautgeschwüren Verwendung.[10]
unter dem Namen Cremor Tartari als in der Neuzeit beliebte Verdauungshilfe. Hergestellt wurde es durch Eindampfen in Wasser gelösten Weinsteins aus Weinfässern und Abschöpfen des „Rahms“ (daher der Name), womit man Weinstein in gereinigter Form gewann.[12]
zur Stabilisierung von Eischnee, Erhöhung der Temperaturtoleranz und des Volumens.
zur Stabilisierung von Schlagsahne, Erhaltung der Textur und des Volumens.
in der mittelalterlichen Pharmazie und Chirurgie als Arzneimittel bei Onychomadesis (Ausfall aller Nägel),[13] etwa infolge von Nagelpilz.
zur Herstellung von Kaliumcarbonat, genannt auch gebrannter Weinstein (lateinisch Tartarus calcinatus), etwa bei Paracelsus.[14][15]
in der Pharmazie als Laxans (z.B. Cremor Tartari und das aus Weinstein hergestellte Seignettesalz). Bis in das 19. Jahrhundert war das Abführungsmittel eine verbreitete Therapieform in der Psychiatrie.[16]
unter anderen zum „Versilbern“.[17] Zum Kaschieren der Münzverschlechterung in Fürstengroschen wurden die rohen Schrötlinge vor dem Prägen in Weinstein gesotten und dadurch an der Oberfläche mit Silber angereichert.[18] Der Gegenstand erscheint dadurch silberhaltiger. Eine Probe mit einem Probierstein, bei der Abrieb von der Oberfläche genutzt wird, wird verfälscht. Wird Abrieb einer tiefer liegenden Schicht untersucht, fällt die Täuschung auf. Auch eine Dichtebestimmung zeigt den Schwindel.
Hannelore Dittmar-Ilgen:Kristalle im Weinglas. (Weinstein bei der Weinherstellung). In: Wie der Kork-Krümel ans Weinglas kommt. Physik für Genießer und Entdecker. Hirzel, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-7776-1440-3, S.37.
Jörg Mildenberger: Anton Trutmanns „Arzneibuch“. Teil 2: Wörterbuch. Band 5: W – Z. (= Würzburger medizinhistorische Forschungen. Band 56). Königshausen & Neumann, Würzburg 1997, ISBN 3-8260-1398-0, S.2300–2301.
Udo Benzenhöfer: Johannes’ de Rupescissa „Liber de consideratione quintae essentiae omnium rerum“ deutsch. Studien zur Alchemia medica des 15. bis 17. Jahrhunderts mit kritischer Edition des Textes (= Heidelberger Studien zur Naturkunde der frühen Neuzeit. Band 1). Steiner, Wiesbaden/Stuttgart 1989, ISBN 3-515-05388-3 (Zugleich Philosophische Dissertation, Universität Heidelberg, 1988), S. 195 (zu Rupescissa: „tü dar in wynstein der wol gekelcket sy; guten winstein von dem besten wine den du weist, und solt den gar wonder wol gekelcket han“) und 196.
Wilhelm Hassenstein, Hermann Virl: Das Feuerwerkbuch von 1420. 600 Jahre deutsche Pulverwaffen und Büchsenmeisterei. Neudruck des Erstdruckes aus dem Jahr 1529 mit Übertragung ins Hochdeutsche und Erläuterungen von Wilhelm Hassenstein. Verlag der Deutschen Technik, München 1941, S. 40 (Oleum tartari).
Erika Hickel: Arzneimittel in Apotheke und Haushalt des 16. und 17.Jahrhunderts. In: Joachim Telle (Hrsg.): Pharmazie und der gemeine Mann. Ausstellungskatalog der Herzog August Bibliothek Nr. 36. Wolfenbüttel 1982, ISBN 978-3-88373-032-5, S.21–26, hier: S.23.
Jürgen Martin: Die ‚Ulmer Wundarznei‘. Einleitung – Text – Glossar zu einem Denkmal deutscher Fachprosa des 15. Jahrhunderts. Königshausen & Neumann, Würzburg 1991 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen. Band 52), ISBN 3-88479-801-4 (zugleich Medizinische Dissertation Würzburg 1990), S. 192 und öfter.
Matthias Kreienkamp: Das St. Georgener Rezeptar. Ein alemannisches Arzneibuch des 14. Jahrhunderts aus dem Karlsruher Kodex St. Georgen 73, Teil II: Kommentar (A) und textkritischer Vergleich, Medizinische Dissertation Würzburg 1992, S. 106 f.
Friedrich Dobler: Die chemische Fundierung der Heilkunde durch Theophrastus Paracelsus: Experimentelle Überprüfung seiner Antimonpräparate. In: Veröffentlichungen der Internationalen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie, Neue Folge, 10, 1957, S. 76–86, hier: S. 80.
Bangen, Hans: Geschichte der medikamentösen Therapie der Schizophrenie. Berlin 1992, Pharmakotherapie am Beginn der modernen Psychiatrie S. 13 ISBN 3-927408-82-4.