Günter de Bruyn wurde 1926 als jüngstes von vier Kindern einer katholisch geprägten Familie geboren. Kindheit und Schulzeit verbrachte er in Berlin-Neukölln im Ortsteil Britz (Rudower Allee 8, seit 1947 Buschkrugallee). Von 1943 bis 1945 nahm er als Luftwaffenhelfer und Soldat in Böhmen am Zweiten Weltkrieg teil. Infolge einer schweren Kopfverletzung durch Granatsplitter kurz vor Kriegsende wurde sein Sprachzentrum gelähmt. Nach lebensrettendem Lazarettaufenthalt und abenteuerlicher Flucht nach Bayern wurde er auch seines jugendlichen Alters wegen schon bald aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen und fand zeitlich begrenzt eine Stelle als Landarbeiter in Niedersachsen. Seinen Vater und zwei Brüder hatte er im Krieg verloren.[1] Schon im Sommer 1945 konnte er nach Zernsdorf bei Berlin zurückkehren und ließ sich in Potsdam mit Stipendium zum Neulehrer ausbilden. Ab 1946 war er drei Jahre lang als Lehrer in Garlitz im Havelland tätig.
Seit 1961 arbeitete de Bruyn als freier Schriftsteller. Mit dem Romandebüt Der Hohlweg von 1963, einem antifaschistischen Tugendspiegel über die Ankunft in der sozialistischen Gesellschaft,[2] versucht er das Trauma zu verarbeiten, das seine Generation in den Kriegs- und Nachkriegsjahren erfüllte. Den Entschluss hatte er noch als verwundeter Soldat im Zustand der Sprachlosigkeit gefasst. Nach 17-jähriger Arbeit erschien das Buch, doch galt ihm das Ergebnis als Ärgernis: „Es wurde mit einem Preis geehrt und milde beurteilt. Mein eigenes Urteil lautet: Thema verfehlt, fünf“. Trotzdem ist Der Hohlweg der Beginn einer erfolgreichen Karriere. Im Roman Buridans Esel von 1968 ist das Private mit der Öffentlichkeit untrennbar verbunden, ein gesellschaftlicher Umbruch also unabdingbar.[3]
Ab 1965 war de Bruyn Mitglied des Zentralvorstandes des Deutschen Schriftstellerverbands (1973 umbenannt in Schriftstellerverband der DDR) sowie ab 1974 im Präsidium des PEN-Zentrums der DDR. Wegen des Interesses de Bruyns am Vorhaben von Schriftstellerkollegen, durch Gründung eines „Selbstverlags“ die Zensur in der DDR zu umgehen, trat 1974 das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) an ihn heran.[4] De Bruyn sollte zwecks Verhinderung des Projekts „unter Legende“ als inoffizieller Mitarbeiter (IM „Roman“) angeworben werden. Der Vorgang wurde wegen Erfolglosigkeit Anfang 1976 eingestellt. Im Jahr 1983 setzte das MfS die Bearbeitung de Bruyns nunmehr als operative Personenkontrolle (OPK „Roman“) fort, denn es „verfestigten sich bei dem B. politisch-ideologische Unklarheiten und oppositionelle Einstellungen und Widersprüche zur sozialistischen Entwicklung“. Gründe der Einschätzung waren u. a. sein Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976, der zunächst den Ausschluss aus dem Berliner Vorstand des Schriftstellerverbands und auf dem VIII. DDR-Schriftstellerkongress im Mai 1978 auch aus dem Zentralvorstand zur Folge hatte, und 1981 seine Stellungnahme gegen die Verfolgung der DDR-Friedensbewegung beim IX. Schriftstellerkongress:[5]
„[Man] hat aber, wenn man die Zeitungen aufschlägt, ein ungutes Gefühl, wenn die DDR staatlicherseits den Antikriegskampf der Christen, Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer jenseits der Grenzen begrüßt, der Antikriegskampf der Christen, Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer innerhalb der eigenen Grenzen aber behindert wird.“
– Günter de Bruyn (1981)
Ziel der OPK war, einen „Missbrauch“ de Bruyns als „personeller Stützpunkt gegnerischer Kräfte innerhalb und außerhalb der DDR“ zu verhindern. Die bereits gedruckte Erstauflage seines Romans Neue Herrlichkeit wurde auf Geheiß der zweiten Instanz der Zensurmakuliert. Erst nachdem der Roman Neue Herrlichkeit 1984 in der Bundesrepublik Deutschland bei Fischer erschienen war, konnte er 1985 auch in der DDR beim Mitteldeutschen Verlag erscheinen.[6] Das MfS nannte als Grund für das Erscheinen in der DDR ein „abgestimmtes Vorgehen der gesellschaftlichen und staatlichen Stellen“. Es sei dadurch verhindert worden, de Bruyn zum „oppositionellen Schriftsteller hochzuspielen und zur Hetze gegen die Kulturpolitik der DDR auszunutzen“, und stellte die OPK 1986 ein.
Auf dem X. Schriftstellerkongress der DDR im November 1987 forderten er und Christoph Hein die Abschaffung der Zensur in der DDR.[7] Im Oktober 1989 lehnte de Bruyn die Annahme des Nationalpreises der DDR ab. Als Begründung nannte er die „Starre, Intoleranz und Dialogunfähigkeit“ der Regierung. Nach Einschätzung von Tilman Spreckelsen hat er „wie kein zweiter DDR-Autor das eigene Verhalten öffentlich hinterfragt“.[8]
De Bruyn lebte in Berlin. Um sich der dortigen Atmosphäre, die er als einengend empfand, zu entziehen, verbrachte er ab 1967 die meiste Zeit zurückgezogen im Görsdorfer Ortsteil Blabber am Blabbergraben bei Beeskow.[10] Günter de Bruyn starb im Oktober 2020 im Alter von 93 Jahren im Krankenhaus von Bad Saarow.[11][12] Ein Sohn ist der Schriftsteller und Museumsdirektor Wolfgang de Bruyn.
Die Günter-de-Bruyn-Stiftung kümmert sich entsprechend dem letzten Willen von de Bruyn, seinen Nachlass zu inventarisieren und wissenschaftlich zu erschließen, und ihn der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.[13]
Großen Erfolg hatte er in den 1990er-Jahren mit den beiden Bänden seiner Autobiographie: Zwischenbilanz (über seine Kindheit und Jugend in Berlin) und Vierzig Jahre: Ein Lebensbericht.
Der Holzweg, in: Eröffnungen. Schriftsteller über ihr Erstlingswerk. Hrsg. von Gerhard Schneider. Berlin/Weimar 1974
Tristan und Isolde. Nach Gottfried von Straßburg neu erzählt von Günter de Bruyn. Farbige Illustrationen von Peter Nagengast. Verlag Neues Leben, Ost-Berlin 1975, DNB790398656 (Zugleich: Kindler-Verlag, München 1975, ISBN 3-463-00628-6).
Geschlechtertausch in „Blitz aus heiterem Himmel“, Berlin 1975, S. 7–45, (Anthologie herausgegeben von Edith Anderson; Neuauflage 2024)
Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 1975, DNB760009686.
Märkische Forschungen. Erzählung für Freunde der Literaturgeschichte. Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale / Leipzig 1978, DNB790222434.
Im Querschnitt. Prosa, Essay, Biographie. Auswahl und Nachwort von Werner Liersch. Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale / Leipzig 1979, DNB790356414.
Vierzig Jahre: Ein Lebensbericht, Fischer, Frankfurt am Main 1996, ISBN 978-3-10-009626-5
Altersbetrachtungen über den alten Fontane, Berlin 1999
Die Finckensteins. Eine Familie im Dienste Preussens, Siedler Verlag, Berlin 1999; als Taschenbuch: Berliner Taschenbuchverlag 2001, ISBN 3-442-76005-4
Der neunzigste Geburtstag. Ein ländliches Idyll. S. Fischer, Frankfurt am Main 2018, ISBN 978-3-10-397390-7[21]
Die neue Undine. Ein Märchen, nacherzählt dem verehrten Herrn Baron Friedrich de la Motte Fouqué auf Schloss Nennhausen im Havelland. Mit Illustrationen von Jörg Hülsmann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021, ISBN 978-3-10-397041-8.
W. F. Meyern: Dya-Na-Sore, oder die Wanderer. Eine Geschichte aus dem Sam-skritt übersetzt, Mit einem Nachwort von Günter de Bruyn. Frankfurt am Main 1979 (Haidnische Alterthümer)
Christoph Friedrich Nicolai: Vertraute Briefe von Adelheid B. an ihre Freundin Julie S. Freuden des jungen Werthers, Berlin 1982 (Märkischer Dichtergarten)
Ludwig Tieck: Die männliche Mutter und andere Liebes-, Lebens-, Spott- und Schauergeschichten, Berlin 1983 (Märkischer Dichtergarten)
Günter de Bruyn und die Märkische Dichtung, hg. von Alexander Košenina. Wehrhahn Verlag, Hannover 2022, ISBN 978-3-86525-960-8
Günter de Bruyn, hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Ed. Text + Kritik, München 1995, ISBN 3-88377-502-9
Günter de Bruyn in perspective, ed. by Dennis Tate. Rodopi, Amsterdam 1999, ISBN 90-420-0566-1
Günter de Bruyn. Materialien zu Leben und Werk, hrsg. v. Uwe Wittstock. Fischer-Taschenbuch-Verl., Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-596-10960-4
Stefan Berg: Landgang. Ein Briefwechsel. Zwischen Aufbruch und Kaserne: Der bewegende Briefwechsel zwischen dem »Bausoldaten«Stefan Berg und Günter de Bruyn, S. Fischer, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-10-000156-6
Owen Evans: Ein Training im Ich-Sagen. Personal authenticity in the prose work of Günter de Bruyn, Lang, Bern u.a. 1996. (= European university studies; Ser. 1, German language and literature; 1580) ISBN 3-906756-14-9
Marga Firle: Erzählen als Sprachhandlung in der poetischen Kommunikation. Untersuchungen zum Kommentieren in den "Märkischen Forschungen" von Günter de Bruyn, Akad. d. Wiss. d. DDR, Zentralinst. f. Sprachwiss., Berlin 1987. (= Linguistische Studien/A; 167)
Magdalena Grams: Das künstlerische Wirklichkeitsverhältnis Günter de Bryuns. Dargestellt an Figurenwahl, Konfliktgestaltung und Erzählweise seiner ausgewählten Prosawerke, Univ. Diss. A, Leipzig 1988.
Frank Hafner: „Heimat“ in der sozialistischen Gesellschaft. Der Wandel des DDR-Bildes im Werk Günter de Bruyns, Lang, Frankfurt am Main u.a. 1992. (= Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland; 13) ISBN 3-631-43097-3
Anja Kreutzer: Untersuchen zur Poetik Günter de Bruyns, Lang, Frankfurt am Main u.a. 1995. (= Beiträge zur Literatur und Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts; 12) ISBN 3-631-48129-2
Lutz Kube: Zwischen „Heimat“ Brandenburg und Sozialismus, UMI, Ann Arbor, MI 2005.
Domenico Mugnolo: Günter de Bruyn narratore, 2. ed. Univ. di Trento, Dipartimento di Storia della Civiltà Europea, Trento 1993. (= Ricerche di germanistica; 3)
Peter K. Stein: Literaturgeschichte, Rezeptionsforschung, „produktive Rezeption“. Ein Versuch unter mediävistischem Aspekt anhand von Beobachtungen zu Günter de Bruyns Nachdichtung von Gottfrieds von Strassburg „Tristan“ im Kontext der wissenschaftlichen und kulturpolitischen Situation in der DDR, Kümmerle, Göppingen 1979. (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik; 287) ISBN 3-87452-463-9
Bernhard M. Baron, Falkenberg 1945: Zwischenstation für Günter de Bruyn, in: Heimat – Landkreis Tirschenreuth Bd. 26 (2014), Pressath 2014, S. 163–170, ISBN 978-3-939247-55-5
Christiane Barz, Wolfgang de Bruyn, Hannah Lotte Lund: Günter de Bruyn – Schreibwelten. Zwischen märkischer Kulturgeschichte und deutscher Gegenwart, Quintus-Verlag Berlin 2021. ISBN 978-3-96982-025-4
Carola Wiemers (Hrsg.): Ein fertiges Buch ist ein Argument. Brigitte Reimann und Günter de Bruyn in Briefen, Quintus-Verlag. Berlin 2024. ISBN 978-3-96982-088-9
Zu den folgenden Informationen und Zitaten siehe Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Ch. Links, Berlin 1996, ISBN 3-86153-121-6, S. 467–471; „Legende“ S. 467, „politisch-ideologische Unklarheiten“ S. 469, „personeller Stützpunkt“ S. 470, „abgestimmtes Vorgehen“ S. 471.
Thomas Brose: Günther de Bruyn kehrt auf die literarische Bühne zurück: Fragen an die Gegenwart. In: Herder Korrespondenz, Jg. 73 (2019), Nr. 11. S. 51.
Tilman Spreckelsen: Seid ihr nur laut, er ist gründlich. Redlich, sinnlich: Dieser Erzähler hat einen verblüffenden Altersstil entwickelt – zum neunzigsten Geburtstag des Schriftstellers Günter de Bruyn. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. November 2016, S. 11.
Akademie für gesprochenes Wort | Vorstand.ArchiviertvomOriginal(nicht mehr online verfügbar)am2.März 2018;abgerufen am 2.März 2018.Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/gesprochenes-wort.de
Der weite Blick aus Brandenburg. Günter de Bruyn hat mit über 92 Jahren einen neuen Roman herausgegeben. Ein Porträt. Rezension von Stefan Sieprath:Die Tagespost.16.Januar 2019,abgerufen am 19.Oktober 2020.