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Science-Fiction-Form Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Alternativweltgeschichten sind eine Ausformung des Science-Fiction-Genres und unter den Bezeichnungen Allohistoria, Parahistorie, Virtuelle Geschichte, Imaginäre Geschichte, Ungeschehene Geschichte, Potentielle Geschichte, Eventualgeschichte, Alternate History, Alternative History oder Uchronie („Nicht-Zeit“, aus altgriechisch οὐ- „nicht-“ und χρόνος „Zeit“) bekannt.
In der Geschichtswissenschaft werden derartige Gedankenspiele, die allerdings Bezug auf die historischen Quellen nehmen, als kontrafaktische Geschichte bezeichnet.
Die Geschichten dieser Werke spielen in einer Welt, in der der Lauf der Weltgeschichte irgendwann (am so genannten Divergenzpunkt) von dem uns bekannten abgewichen ist. Während Science-Fiction mit dem Potentialis operiert, operiert die kontrafaktische Geschichte mit dem Irrealis, stellt also die Frage: „Was hätte sein können, wenn …?“ Das Genre wurde insbesondere in der englischsprachigen Literatur der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt.
Frühe Beispiele der kontrafaktischen Geschichtsschreibung finden sich bereits in Antike, etwa in Form der Überlegungen des Titus Livius, was passiert wäre, falls die Armee Alexanders des Großen auf die römischen Legionen getroffen wäre. Herodot spekulierte hingegen über eine griechische Niederlage in der Schlacht bei Marathon.[1]:6
Im Jahr 1490 erzählt Tirant lo Blanc (Joanot Martorelli, Marti Joan de Galba) die Geschichte eines Ritters, der das Byzantinische Reich vor dem Osmanischen Reich rettet.[2]:16–17
Im Jahr 1670 merkt Blaise Pascal in seinen Pensées scherzhaft an, die Geschichte wäre anders verlaufen, hätte Kleopatra VII. eine kleinere Nase gehabt.[2]:16[3]:20
Das Genre der kontrafaktischen historischen Fiktion entstand im 19. Jahrhundert, besonders im französischsprachigen Raum. Entscheidende Vorläufer waren hierbei Louis Geoffroy (Napoléon et la conquête du monde, 1836), welcher eine Welteroberung durch Napoleon Bonaparte nach einem Sieg im Russlandfeldzug 1812 beschrieb, und Charles Renouvier (Uchronie, 1876), welcher nicht nur den Begriff „Uchronie“ etablierte, sondern auch erstmals verschiedene Aspekte des Genres wissenschaftlich zu erfassen versuchte.[2]:17–22[3]:19
Das erste englischsprachige historische Werk wurde von Nathaniel Hawthorne (P's correspondence, 1845) geschrieben.[1]:6–7
Im Verlauf des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts entwickelte sich das Genre (als solches noch nicht weithin anerkannt) nur schleppend. Zu den Beiträgen dieser Zeit gehören Hands Off (1881) von Edward Everett Hale und A Connecticut Yankee in King Arthur's Court (1889) von Mark Twain, wobei beide Beispiele eine Zeitreisegeschichte erzählen, in welcher der Zeitreisende die Zeitlinie verändert.[3]:19–20
George Macaulay Trevelyan veröffentlichte seine Kurzgeschichte If Napoleon Had Won the Battle of Waterloo, welche sich dadurch auszeichnet, eine der ersten dystopischen Erzählungen der Alternativgeschichte zu sein, wohingegen frühere Beispiele zumeist utopisch waren und dem Eskapismus dienten.[2]:23–24
Im Jahr 1931/1932 veröffentlichte John Collings Squire die erste belegte Essaysammlung der Alternativgeschichte unter dem Titel If It Happened Otherwise (in den Vereinigten Staaten unter dem Titel If: Or History Rewritten veröffentlicht). Die Beiträge zu Squires Sammlung wurden von mehreren internationalen Autoren geschrieben, wobei besonders Winston Churchill, der spätere Premierminister des Vereinigten Königreichs, hervorzuheben ist.[3]:20 Andere Beiträge kamen von Philip Guedalla und Harold Nicolson sowie Ronald Knox (alle Vereinigtes Königreich), Emil Ludwig (Deutschland) und André Maurois (Frankreich).[2]:23–27
Die Kurzgeschichte Sidewise in Time von Murray Leinster (welche später dem Sidewise Award den Namen gibt) wurde im Jahre 1934 veröffentlicht und erforschte eine Realität von parallel existierenden Zeitlinien, die urplötzlich durcheinandergewürfelt wurden.[2]:113
Der Zweite Weltkrieg (1939–45) veränderte das Genre der Alternativweltgeschichte vollkommen und ist seitdem zum mit Abstand beliebtesten Thema der Alternativgeschichte geworden, wobei fast ausschließlich dystopische Szenarien entstehen.[2]:85–87[4]:879 Alternativgeschichten des Zweiten Weltkriegs entstehen schon kurz nach Kriegsende, so etwa Si l’Allemagne avait vaincu (‚Wenn Deutschland gesiegt hätte...‘, 1950) von Randolph Robban.[2]:88–89
Im Jahr 1953 veröffentlichte J. Ward Moore das Buch Bring the Jubilee (im Deutschen: Der Große Süden), womit er in den Vereinigten Staaten die Alternativgeschichten über den Sezessionskrieg erweiterte.[2]:27–28 Interesse in den USA an alternativen Szenarien des Bürgerkriegs stieg wiederum mit dem hundertsten Jahrestag des Sezessionskriegs im Jahre 1961, so etwa in Form von MacKinlay Kantors If the South Had Won the Civil War (1961).[5]:6
Im Jahr 1962 erschien die vermutlich berühmteste Alternativweltgeschichte aller Zeiten, The Man in the High Castle (ins Deutsche übersetzt unter dem Titel Das Orakel vom Berge) von Philip K. Dick, welches die Geschichte der von Nazi-Deutschland und vom Japanischen Kaiserreich besetzten Vereinigten Staaten erzählt.[2]:111[3]:8 Das Buch wurde zum Vorbild einer erfolgreichen Fernsehserie, welche zwischen den Jahren 2015 und 2019 produziert wurde (wobei diesmal im Deutschen der Originaltitel unübersetzt blieb).
Im Jahr 1964 erweiterte Robert Fogel die Alternativgeschichte um mehrere wissenschaftliche und statistische Methoden, was das Genre als Ganzes auch interessanter als ernsthaftes Gedankenexperiment für die Geschichtswissenschaften machte (siehe hierzu: Kontrafaktische Geschichte). Fogel errechnete in seinem Werk Railroads and American Economic Growth alternative Statistiken der Logistik für eine Version der Vereinigten Staaten, in welcher der weitreichende Aufbau von Eisenbahnen nicht stattfand.[2]:42[3]:42[6]:111
Nach dem Tod des Diktators Francisco Franco im Jahre 1976 erlebte das Genre auch in Spanien einen Aufschwung, insbesondere mit einem Schwerpunkt auf den Spanischen Bürgerkrieg. Der Katalane Victor Alba schrieb im Jahre 1976 eine utopische Darstellung einer überlebenden Zweiten Spanische Republik, wohingegen der Franquist Fernando Vizcaino Casas im Jahre 1989 eine dystopische Vision der siegreichen Republikaner zeichnete.[2]:31–32
Im Jahr 1992 veröffentlichte der Brite Robert Harris das Buch Fatherland (im Deutschen: Vaterland) und erzielte einen großen finanziellen Erfolg, was dem Genre der Alternativgeschichte zu größerem Status verhalf.[2]:100–101[5]:7 Harris’ Buch ist der Hauptvertreter eines Phänomens der Alternativgeschichte im britischen Kulturraum während der 1990er, welcher von Richard J. Evans als „euroskeptischer Kontrafaktualismus“ bezeichnet wird. Im Kontext der Deutschen Wiedervereinigung (1990) und des Vertrags von Maastricht (1992) wurden unter britischen Konservativen Ängste über ein von Deutschland dominiertes Europa geweckt. Dadurch entstanden zahlreiche britische Alternativgeschichten über ein imperialistisches Deutschland (oft in Form eines im Zweiten Weltkrieg siegreichen NS-Staates, wie im Falle von Vaterland) oder einen anderweitig hervorgebrachten europäischen Superstaat. Andere britische Vertreter des euroskeptischen Kontrafaktualismus der 1990er-Jahre waren neben Harris auch John Charmley, Andrew Roberts und Niall Ferguson.[2]:90–110 Außerhalb Großbritanniens war das Phänomen weniger verbreitet, wobei der polnisch-britische Historiker Adam Zamoyski zu den Ausnahmen zählt.[2]:128
Im Jahr 1997 veröffentlichte Niall Ferguson das Werk Virtual History: Alternatives and Counterfactuals, in welchem er versuchte, die kontrafaktische Geschichte als seriöses Mittel der Geschichtsforschung zu etablieren.[2]:43–44
Die Popularität der Alternativgeschichte als Genre ist seit den 1990ern rapide gestiegen.[2]:44
Mehrere Klassiker des Genres wurden im 21. Jahrhundert als Serien umgesetzt, so etwa The Man in the High Castle und SS-GB.
Wie andere Genres auch kennt die Alternativgeschichte mehrere Tropen und Stilmittel, die in verschiedensten Werken erkennbar sind.
Die Wahl des Szenarios und Divergenzpunkts einer Alternativgeschichte wird nachhaltig von der Absicht, der politischen Orientierung und der Faktenkenntnis des jeweiligen Autors sowie vom Kontext der jeweiligen Epoche geprägt.[2]:150
Die Autoren dystopischer Alternativgeschichten zielen oft darauf ab, dem Publikum die Vorzüge der realen Zeitlinie vor Augen zu führen, sowie die Bosheit und Unerwünschtheit der jeweils beschriebenen Dystopie zu unterstreichen.[7]:95–96
Autoren jeder Nation tendieren eher dazu, alternativgeschichtliche Szenarien mit Bezug auf die eigene Nationalgeschichte zu entwickeln.
Der britische Historiker Richard J. Evans vertritt die These, dass Alternativgeschichte und insbesondere Kontrafaktische Geschichte attraktiver für Konservative als für Progressive sind, da erstere in den Geschichtswissenschaften oft philosophisch einen größeren Fokus auf Individualismus und die Freiheit der Entscheidung der Einzelperson legen, während letztere sich eher deterministischen Modellen der Sozialgeschichte und der gesellschaftsfokussierten Geschichtsschreibung zugeneigt sehen und Gedankenspiele der Alternativgeschichte tendenziell skeptischer betrachten. Dennoch gibt es auch linksgerichtete Autoren der Alternativgeschichte, so etwa E. H. Carr.[2]:49–50
Die Alternativgeschichte kann als politische Satire oder politische Propaganda dienen, so im Falle der britischen „euroskeptischen Kontrafaktualisten“, welche ihre Alternativgeschichten als Warnung gegen einen durch ein übermächtiges Deutschland gelenkten europäischen Zentralstaat konzipierten.[2]:90–110
Mit Abstand das beliebteste Thema für Alternativgeschichten ist der Zweite Weltkrieg, sowie verwandte Themen wie Adolf Hitler, der Holocaust oder der Nationalsozialismus.[2]:85–87[4]:879
Durch die massive Bandbreite von Alternativerzählungen über den Zweiten Weltkrieg haben sich mehrere Subgenres und Tropen gebildet.
Das zweitbeliebteste Thema in der Alternativgeschichte ist der Sezessionskrieg, wobei die allermeisten Werke hierbei von US-amerikanischen Autoren für den eigenen Markt geschrieben werden.[4]:878–879
Es gibt verschiedene Arten der Alternativgeschichte. In manchen ist die alternative Zeitlinie die einzig existente, manchmal existiert die alternative Zeitlinie parallel zu der dem Leser bekannten realen Zeitlinie (Parallelwelterzählungen), manchmal existieren unendlich viele Zeitlinien gleichzeitig, und manchmal gehen die alternative und reale Zeitlinie durch Zeitreise ineinander über (hierbei wird entweder die alternative Zeitlinie durch den Zeitreisenden verursacht, eine alternative Vergangenheit zur realen Gegenwart korrigiert oder eine Veränderung der realen Zeitlinie durch andere Zeitreisende verhindert („Zeitpolizeigeschichten“)).[3]:11
Außerdem unterscheiden sich Alternativgeschichten durch die Art des Divergenzpunkts. In manchen Fällen wird ein einzelnes Ereignis verändert (z. B. der Ausgang einer Schlacht oder politischen Wahl oder die (Nicht-)Ermordung einer historischen Person), aber die übrigen physikalischen Regeln der Welt und ihrer Bewohner unverändert gelassen. Wieder andere Alternativgeschichten verändern die Grundlagen der Welt (z. B. durch magische Elemente oder Zeitreise), wodurch die beschriebene Zeitlinie fundamental von der realen Zeitlinie unterscheidbar ist. Eine eigene Kategorie bilden hierbei wiederum die unendlichen Parallelweltgeschichten, da in solchen die reale Zeitlinie neben anderen alternativen Zeitlinien existiert, die jeweils verschiedenen Regeln unterworfen sein können.[1]:11–12[3]:11–13
Es gibt mehrere Subgenres der Alternativgeschichte.
Separat von der Alternativgeschichte sind Zukunftsvoraussagen, auch wenn diese mitunter ähnlich geschrieben sein können. So etwa erscheint 1984 (erschienen 1948) von George Orwell rückwirkend als Roman der Alternativgeschichte, ist aber aufgrund des Erscheinungsjahres dem Genre der Zukunftsvoraussagen zuzuordnen.[2]:85–87
Alternativgeschichtliche Erzählungen sind Werke der Fiktion und klar als solche zu erkennen. Davon abzugrenzen sind Historische Versuche der Geschichtsfälschung. Sie sind nicht als Teil der Alternativgeschichte als Genre der Fiktion anzusehen.[2]:115[8]:565
Das Deutsche Historisches Museum zeigt von 2022 bis 2026 eine Ausstellung unter dem Titel Roads Not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können., in der anhand von 14 markanten Einschnitten der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts tatsächlich erfolgten Wendungen mögliche Verläufe gegenübergestellt werden, die aus unterschiedlichen Gründen nicht eingetreten sind.[10]
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