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deutscher Arzt und Sexualforscher Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Volkmar Sigusch (* 11. Juni 1940 in Bad Freienwalde (Oder); † 7. Februar 2023 in Frankfurt am Main) war ein deutscher Psychiater und Sexualwissenschaftler und gilt als Pionier der Sexualmedizin in Deutschland.[1] Sigusch entwickelte die Sexualforschung unter Bezug auf die Kritische Theorie und die sexualemanzipatorischen Ansätze der 1920er-Jahre zu einer kritischen Sexualwissenschaft, indem er die menschliche Sexualität im Kontext ihrer sozialen Zusammenhänge mit Fokus auf die Möglichkeiten individueller Selbstbestimmung sowie gesellschaftlicher Zustimmung untersuchte.[2] Er gründete 1972 das Institut für Sexualwissenschaft am Universitätsklinikum Frankfurt und war bis zu seiner Emeritierung und Schließung des Instituts im Jahr 2006 dessen Direktor.[3] Sigusch etablierte in Frankfurt am Main die Sexualmedizin als eigenständige Disziplin. Er habilitierte sich weltweit als Erster im Fach Sexualwissenschaft.[4] Das von ihm verfasste Lehrbuch Sexuelle Störungen und ihre Behandlung gilt als Standardwerk der Sexualmedizin und Psychotherapie.[1]
Als Sohn eines Bankdirektors wuchs Sigusch in der DDR auf. Im Jahr des Mauerbaus (1961) floh Sigusch aus der DDR.[4] Sein Medizinstudium hatte Sigusch an der Humboldt-Universität zu Berlin begonnen. Nach seiner Flucht in der Bundesrepublik angekommen, studierte er Medizin, Psychologie und Philosophie an den Universitäten in Frankfurt am Main und Hamburg. Zu seinen Lehrern gehörten Max Horkheimer und Theodor Adorno. Im Jahr 1966 wurde er zum Dr. med. mit einer experimentell-psychologischen Arbeit über die Struktur von Vorurteilen promoviert.[5] Nach seiner psychiatrischen Ausbildung vor allem bei Hans Bürger-Prinz wurde Sigusch 1972 an der Universität Hamburg im Fach Sexualwissenschaft habilitiert.[6] Seit seiner Berufung auf den neu eingerichteten Frankfurter Lehrstuhl für Sexualwissenschaft im selben Jahr gehörte er als Hochschullehrer neben dem Fachbereich Medizin auch dem Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an, in dem er Professor für spezielle Soziologie war. Außerdem war Sigusch zwölf Jahre lang geschäftsführender Direktor des Zentrums der psychosozialen Grundlagen der Medizin (ZPG) des Klinikums der Goethe-Universität Frankfurt, in dem die Fächer Medizinische Psychologie, Medizinsoziologie, Arbeitsmedizin und Sexualwissenschaft vertreten waren. Die Schließung seines Instituts 2006 und zugleich des ZPG habe „einer biologistisch ausgerichteten Psychiatrie“ den Vorzug gegeben, so Lutz Garrels, Psychoanalytiker und ehemaliger Mitarbeiter Siguschs.[4]
Volkmar Sigusch starb am 7. Februar 2023 im Alter von 82 Jahren in Frankfurt am Main.[7][8]
Bald nach Übernahme seines Lehrstuhls gründete er 1973 die International Academy for Sex Research zusammen mit Wissenschaftlern wie William Masters, John Money, Gunter Schmidt. Sigusch gilt als „Begründer der kritischen Sexualwissenschaft“.[9] Er war erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, der ältesten und größten Fachgesellschaft für Sexualwissenschaft in Deutschland.
Sigusch war Mitherausgeber der Zeitschrift für Sexualforschung (bisher 22 Jahrgänge) und veröffentlichte über 25 Bücher, die medizinkritische, gesellschaftstheoretische beziehungsweise sexualwissenschaftliche Themen behandeln.[10] So war er zusammen mit Martin Dannecker und Gunter Schmidt Herausgeber der Buchreihe Beiträge zur Sexualforschung, die bis 1999 im Enke-Verlag erschien und seit dem Jahr 2000 im Psychosozial-Verlag mit bisher über 94 Bänden verlegt wird.[11] Von 1979 bis 1986 gab er das populäre Periodikum Sexualität konkret heraus, zu dem Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, Schriftsteller, Publizisten und Künstler Beiträge lieferten. Insgesamt veröffentlichte Sigusch mehr als 850 Aufsätze.[12]
Sigusch versuchte den Begriff Neosexuelle Revolution in der Sexualwissenschaft einzuführen.[13] 1991 prägte er den Begriff Zissexualismus.[14]
Die Schließung des von Sigusch geleiteten Instituts für Sexualwissenschaft erfolgte nach seiner Emeritierung 2006. Sigusch habe die Entscheidung, die Sexualwissenschaft der psychiatrischen Abteilung der Universität zuzuordnen, als „Niederlage“ empfunden, weil er sein „ganzes Berufsleben lang […] gegen die ‚Psychiatrisierung‘ sexueller Störungen gekämpft“ habe.[15]
In einem Nachruf würdigte Paula-Irene Villa Braslavsky Sigusch als Kritiker eines „ordnungswütigen Szientismus“, der blind sei für die gesellschaftliche Natur der Sexualität. Sigusch habe aufklären wollen, indem er Sexualität empirisch beobachtete und erklärte. Die Medizin bezeichnete er als „Hure der Ökonomie“, die keinen Blick habe für „missbrauchte Kinder, vergewaltigte Frauen, sexsüchtige Männer, einen Geschlechtswechsel ersehnende Transsexuelle“. Sigusch habe das Elend und Unglück der Menschen in den Formen der Einsamkeit, der Gewalt, des Leistungsdrucks und des Stigmas zum Sprechen bringen wollen. Er habe, wie im Untertitel eines seiner Bücher, Sexualforschung als Gesellschaftskritik verstanden.[18]
Die Lehren des DDR-Endokrinologen Günter Dörner, der Homosexualität als hormonell bedingte und heilbare Krankheit vertreten hatte, widerlegte Sigusch erfolgreich, so Florian G. Mildenberger in einem weiteren Nachruf. Sigusch habe die psychiatrische Sexualwissenschaft mit der Psychoanalyse zielsicher versöhnt. In den 1990er-Jahren habe Sigusch die neuesten Erkenntnisse internationaler sozialwissenschaftlicher Forschungen rezipiert, die Gender Studies in die sexualwissenschaftlichen Lehrwerke integriert, und die Entwicklung des Sexualstrafrechts kritisch begleitet. Die Schließung des Frankfurter Instituts für Sexualwissenschaft nach Siguschs Emeritierung sieht Mildenberger dadurch erleichtert, dass es Sigusch in 30 Jahren nicht gelungen war, einen Nachfolger aufzubauen. Sämtliche möglichen Kronprinzen hätten nacheinander das Handtuch geworfen oder seien entlassen worden. Siguschs Erbe bleibe folglich zwiespältig. Die von ihm koordinierten Lehrbücher und Forschungsarbeiten seien von bleibendem Wert, ebenso seine Verdienste als gesellschaftlicher Aufklärer und Vorkämpfer für eine Liberalisierung der Sexualität, über die laut Mildenberger „heute anders und freier gesprochen wird als vordem“. Die Sexualwissenschaft allerdings sei wieder „im wissenschaftlichen Prekariat“ angelangt.[19]
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