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Der Begriff tibetische Literatur wird unterschiedlich definiert:[1]
Die tibetische Volksliteratur (tib.: dmangs sgrung) zeichnet sich durch eine bis in die jüngste Zeit überwiegend mündliche Überlieferung aus. Die Hauptmasse sind Märchen, Sagen und Schwänke. Von Bedeutung ist das Gesar-Epos, dessen Heldengesänge auch von sogenannten professionellen „Barden“ auf Volksfesten vorgetragen wurden und werden. Die verschiedenen Versionen sind häufig, jedoch nicht alle, buddhistisch überprägt. Das Gesar-Epos gilt auch als das tibetische Nationalepos.
In den Alltagserzählungen nehmen die Geschichten von Onkel Tönpa (tib.: a khu ston pa) eine überragende Stellung ein. Obschon in Tibet jeder Erwachsene und jedes Kind diese Geschichten kennt, ist die Figur im Westen relativ unbekannt – wohl wegen ihrer teilweise derben, nicht in das übliche Tibet-Klischee passenden Inhalte. Zahlreiche dieser Erzählungen weisen sexuelle Inhalte auf: So versucht Onkel Tönpa meist mit Frauen aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten (Königstochter, Nachbarin, Nonnen) zu schlafen und muss dabei gesellschaftliche Regeln umgehen. Im Vordergrund steht dabei seine immer listige Vorgehensweise.
Damit nur entfernt verwandt sind beliebte Geschichten von sogenannten „Verrückten Yogis“, wie z. B. Drugpa Künleg (tib.: ’brug pa kun legs) oder dem in Tibet wohl bekanntesten buddhistischen Meister Milarepa (tib.: rje btsun mi la ras pa), welche durch oft sehr unkonventionelles Verhalten den Menschen Belehrungen geben, mit dem Ziel, deren Begierden und sonstigen Störgefühle aufdecken. Auch hier handelt es sich zum Teil um sexuelle Inhalte, wobei aber auch beim Leser kein Vergnügen, sondern eher Abkehr entstehen soll. Daneben gibt es längere Märchen und kürzere, meist lustige Geschichten, deren Witz dem europäischen Zuhörer mitunter nicht spontan klar wird.
Die exakten Grenzen zwischen den einzelnen Epochen tibetischer Literatur sind noch umstritten, insbesondere weil die genaue Datierung von Texten oft schwierig ist. Die sogenannte Terma-Literatur, Texte die entweder physisch oder aber in Visionen wiederentdeckt werden, wird beispielsweise meist Autoren zugeschrieben, die vor der Zeit der Textentstehung gelebt haben. Die Zeit der Textentstehung und die sprachliche Gestalt der Texte machen dann jedoch eine Zuordnung beispielsweise zur klassischen Literatur möglich.
Die Epoche alte Literatur umfasst alle Literatur, die in etwa bis zum Ende der tibetischen Königszeit verfasst wurde.
Mit der zunehmenden Bedeutung des Buddhismus kam es unter dem Herrscher Songtsen Gampo im Jahr 632 zur Entwicklung einer tibetischen Schrift auf der Grundlage einer indo-iranischen Schrift durch den Minister Thonmi Sambhota. Gleichwohl der Ursprung der Schrift nicht bewiesen ist, haben manche Autoren auf die große Ähnlichkeit mit der khotanesischen Schrift in Zentralasien hingewiesen, ein Gebiet, das damals zum tibetischen Imperium gehörte und auch einen tibetischen Bevölkerungsanteil hatte. Aufgrund mehrerer Argumente kann man annehmen, dass die Schrift vermutlich in Zentralasien auf Basis eines dortigen Dialekts entwickelt und nach Zentraltibet bereits voll entwickelt eingeführt wurde. Der früheste Schriftgebrauch in Zentralasien war eindeutig administrativ und geschichtsschreibend. Dass man dabei zum Teil chinesische Texte mit tibetischer Schrift verfasst hat (und umgekehrt), ist ebenfalls hochinteressant für die historische Sprachwissenschaft.
Ein bedeutendes Werk des 9. Jahrhunderts ist die Mahāvyutpatti, ein sanskrit-tibetisches Wörterbuch buddhistischer Terminologie, das unter König Thri Relpacen (tib.: khri ral pa can) angefertigt wurde.
In der Oasenstadt Dunhuang wurde etwa im Jahr 950 eine große Bibliothek mit u. a. tibetischen, uigurischen und chinesischen buddhistischen Texten eingemauert, um sie der Vernichtung durch Muslime zu entziehen. Die tibetischen Texte aus den Dunhuang-Grotten und aus Hotan gelten als die ältesten erhaltenen tibetischen Bücher überhaupt. Auch die Vernichtung der buddhistischen Literatur von Gandhara und Indien (vgl. Nalanda) kann weitenteils nur von der tibetischen Übersetzungsliteratur abgedeckt werden. Die alte tibetischsprachige Literatur gilt als die bei weitem vollständigste Überlieferung buddhistischer Traditionen, die sich darüber hinaus bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in einer religiösen splendid isolation auf höchstem Niveau erhalten konnten.
Die Epoche der klassischen Literatur umfasst den Großteil der tibetischen Texte, die während der sogenannten zweiten Verbreitung seit der Jahrtausendwende entstanden sind.
Die Beschreibung und teilweise Umdeutung der grammatischen Regeln nach Thonmi Sambhota mit dem Ziel, alte Texte verständlich zu machen oder korrekter zu schreiben, bildet einen nicht unbeträchtlichen Bestandteil der klassischen Literatur.
Sakya Panditas (1182–1251) Prinzipien der indo-tibetischen Scholastik (tib.: mkhas pa 'jug pa'i sgo) und die Übersetzung Dandins Spiegel der Poesie (Kavyadarsha; tib.: snyan ngag gi me long) markieren die Einführung normativer Regeln der Textkomposition, die bis 1950 Gültigkeit behalten sollten.
Dem sechsten Dalai Lama Tshangyang Gyatsho werden zahlreiche Gedichte (tib.: snyan ngag) oft weltlichen Inhalts von großer Poesie zugeschrieben. Er hatte seine Mönchsgelübde zurückgegeben und sich auch bald aus den Regierungsgeschäften zurückgezogen.
Siehe: Bön
Durch die Einführung der Schrift in Zentraltibet wurde die großangelegte Übersetzung indischer Werke ins Tibetische möglich. In mehr als drei Jahrhunderten wurden ab der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts zahlreiche Texte aus dem Sanskrit übersetzt, die dann in den kanonischen Werksammlungen Kanjur und Tanjur (tib.: bka' 'gyur; „Übersetzung der Worte“ und tib.: bstan 'gyur; „Übersetzung der Lehre“) zusammengefasst wurden. Diese zentrale religiöse Literatur, der buddhistische Kanon, ist in einem besonderen Typ der klassischen Schriftsprache verfasst, die vermutlich im Großen und Ganzen eine stark vom Original beeinflusste künstliche Standardsprache darstellt.
Eine Neuerung ist in der tibetisch-buddhistischen Literatur innerhalb der Terma-Literatur (tib. gter ma; wörtlich „Schätze“) gegeben. Belehrungen großer Meister wie Padmasambhava überlebten die Zeit der Vernichtung des Buddhismus unter König Lang Darma (9. Jahrhundert) dadurch, dass sie „versteckt“ wurden. Sie wurden später von Autoren „wiederentdeckt“. Dabei findet die Wiederentdeckung durchaus auch einfach nur mental, nicht physisch statt, das heißt, der (meditativ erfahrene) Autor „sieht“ den versteckten Text und reproduziert ihn. Das berühmteste Beispiel ist das fälschlich Tibetisches Totenbuch genannte „Bardo Thödröl“ (tib.: bar do thos grol; wörtlich: „Die Befreiung durch Hören im Zwischenzustand“; ganz wörtlich: „Zwischenzustand-Hörbefreiung“). Gemäß dem Bardo Thödröl erlebt der Bewusstseinsstrom eines Menschen, der gestorben ist, ohne besondere Einflussmöglichkeiten verschiedene Erfahrungen, die als Farben, Synästhesien, oder Götter und Dämonen beschrieben werden können. Um einen Verstorbenen in dieser Situation anzuleiten, gibt es verschiedene Methoden, damit er oder sie diese Visionen als Illusionen der Qualitäten seines eigenen Geistes erkennt. Die leichteste besteht darin, den Geist durch Vorlesen (Erklären) anzuleiten. Der Verstorbene muss dazu allerdings ein Kenner der Symbolik des Bardo Thödröl gewesen sein.
Einige große Meister verfassten originär religiöse Gesänge, die als (sehr schöne) Literatur gelten können. Dies beginnt mit den von Milarepa überlieferten Vajra-Liedern und geht bis zu Texten wie Peltrül Rinpoches (tib.: dpal sprul rin po che) „Belehrung nützlich am Anfang, in der Mitte und am Ende“. Biografien (tib.: rnam thar) großer Meister sind eine wichtige Textsorte, darin sind dann oft auch gleich dessen Gesänge. Die bekanntesten Biografien der tibetischen Literatur sind die von Marpa und Milarepa aus dem 15. Jh. von Tsang Nyon Heruka (1452–1507), die bis heute gedruckt und gelesen werden.
Die tibetische Literatur weist eine Reihe historiographischer Gattungen auf:
Das tibetische chos 'byung bedeutet so viel wie Geschichte der Lehre. Die Textgattung gibt eine genaue Beschreibung, wie die buddhistische Lehre oder eine bestimmte Lehrtradition in einem Land oder einer Region Verbreitung gefunden hat.
Das tibetische deb ther ist dem Mongolischen entlehnt und wird gewöhnlich mit Annalen wiedergegeben. Dieser Gattung gehören nur wenige Texte an. Das wohl bekannteste und schon früh von Gendün Chöphel (tib.: dge 'dun chos 'phel) und George Nicholas Roerich 1949 ins Englische übersetzte Beispiel sind die Blauen Annalen des Gö Lotsawa Shönnu Pel (1392–1481); die Roten Annalen und die Weißen Annalen gehören ebenfalls zu dieser Gattung.
Während der Großen Proletarischen Kulturrevolution wurden in der Region Tibet tausende Klöster zerstört. Auch viele Literaturschätze des Landes wurden zerstört, indem Bücher beispielsweise als Brenn- oder Baumaterial benutzt wurden. Nur teilweise konnten Texte und Bücher ins Exil gerettet, bzw. durch das traditionelle Auswendiglernen im Exil neu aufgelegt werden.
Die Okkupation Tibets stellte die KPCh vor eine große Herausforderung. Nachdem Tibet gewaltsam in die Volksrepublik China integriert wurde, sollte die kommunistische Ideologie an die Tibeter kommuniziert werden. Da die tibetische Sprache aber über keinerlei kommunistisches Idiom verfügte, begann intensive Arbeit an Wörterbüchern und Übersetzungen – vorwiegend Mao Zedongs Werke und politische Direktiven – um die Tibeter mit dem kommunistischen Vokabular und den kommunistischen Konzepten vertraut zu machen. Bis zum Ende der Kulturrevolution beschränkte sich die literarische Produktion auf kommunistische Texte.
Nach Beendigung der Kulturrevolution und mit den Reformen der Deng-Ära setzte seit 1978 langsam eine kulturelle Neuorientierung ein: Unzählige verlorengegangene Texte wurden in Buchform neu aufgelegt und eine moderne schriftliche Erzählliteratur im westlichen Sinn begann sich zaghaft zu entwickeln. Als Begründer der neuen tibetischen Literatur gilt tibetischen Schriftstellern Döndrub Gyel (tib.: don grub rgyal; 1953–1985). Seither veröffentlichen etliche hundert Autoren in den weit über 100 verschiedenen Literaturmagazinen tibetische Gedichte, Erzählungen, Kurzgeschichten und Essays. Die Literatur, die seit den 1980er Jahren entstanden ist, wird auch als Neue/Moderne Literatur (tib.: rtsom rig gsar pa) bezeichnet. Als früheste Novelle in tibetischer Sprache gilt die von Langdün Peljor Tshering (tib.: glang mdun dpal 'byor tshe ring) noch während der Kulturrevolution verfasste und 1985 als Buch in Lhasa erschienene Erzählung Das Scheiteljuwel (tib. "གཙུག་གཡུ།"). Weitere erfolgreiche Romane in tibetischer Sprache sind Tshering Döndrubs (tib.: tshe ring don grub) Vorfahren (2000, tib. "མེས་པོ།") und Nebel (2001, "མུག་པ།"). Auch wenn literarische Texte einer strengen politischen Zensur und ideologischen Zwängen unterliegen, bietet die „Neue Tibetische Literatur“ für Schriftsteller und ihre Leser die Möglichkeit, die Probleme der gegenwärtigen tibetischen Gesellschaft anzusprechen und tibetische Identität neu zu verhandeln.
Diese aufkeimende Literatur wird im Westen noch kaum wahrgenommen. Übersetzungen tibetophoner Autoren existieren ins Englische und seit neuestem auch ins Französische. Erste Übersetzungen chinesisch schreibender Autoren ins Deutsche erschienen in den späten 1990ern mit Kurzgeschichten von Trashi Dawa, Alai und Sebo. Seit 2004 sind im Westen vor allem die Werke Alais bekannt. Alai stammt aus Sichuan, schreibt aber wie viele andere jungen tibetische Autoren auf Chinesisch, da er so eine größere Leserschaft hat. Da die meisten Tibeter Bauern und Nomaden sind, von denen viele weder lesen noch schreiben können, können sie auf Tibetisch kaum publizieren. Inzwischen gibt es aber auch in Tibet, insbesondere in Amdo, erste Versuche junger Tibeter, auf Englisch zu schreiben[2] – etwas, das im indischen Exil schon länger gebräuchlich ist.
In den 1960er Jahren flüchteten viele Tibeter ins Exil, hauptsächlich nach Indien und Nepal. Die erste tibetische Flüchtlingssiedlung in Indien war Lugsum Samdupling in Bylakuppe. Bald begann eine vielfältige Publikationstätigkeit tibetischer Exilliteratur, die die reiche tibetisch-buddhistische Literatur erhalten und wieder zugänglich machen sollte.
Nicht zuletzt um das tibetische Schicksal an die Weltöffentlichkeit zu kommunizieren, entstanden im Exil eine nicht unbedeutende Menge von Biographien und Autobiographien zunächst von bedeutenden Lamas, später auch von ehemaligen politischen Gefangenen und Folteropfern in englischer Sprache. Es wurden Verlage gegründet, die nahezu ausschließlich Bücher zum Thema Tibet veröffentlichen. Ein Beispiel hierfür ist der Verlag Snow Lion Publications.
Bekannte englischsprachige tibetische Schriftsteller im Exil sind u. a. Bhuchung D. Sönam, Tshering Wangmo Dhompa, Jamyang Norbu und Tendzin Tsundü.
Eine moderne tibetische Exilliteratur in tibetischer Sprache entwickelte sich auch mit der Ankunft gut ausgebildeter Intellektueller überwiegend aus Amdo seit den späten 1980er Jahren.
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