Reinhart Koselleck wurde als einer von drei Söhnen des Geschichtslehrers Arno Koselleck (1891–1977) und seiner Ehefrau Elisabeth, geb. Marchand (1892–1978), in ein bildungsbürgerliches Elternhaus hineingeboren. Er wurde 1934 Mitglied der Hitlerjugend und ging nach dem Umzug der Familie nach Saarbrücken zur Reiter-HJ.[3] Mit dem 26. September 1939 ist sein Eintritt in die Klasse 7B des Maximiliansgymnasiums in München dokumentiert, mit dem 9. September 1940 sein Austritt aus der Klasse 8B.[4] Er meldete sich nach dem Reichsarbeitsdienst 1941 freiwillig zur Wehrmacht. Dort diente er in der Artillerie an der Ostfront, nach Unfall und Lazarettaufenthalt in der Luftnachrichtentruppe und gegen Kriegsende in der Infanterie mit Stationen in Kiew und Charkow.[5] Am 1. Mai 1945 geriet er in Oderberg, Mähren, in sowjetische Kriegsgefangenschaft, wurde am 8. Mai zunächst zur Aufräumarbeit nach Auschwitz gesandt[6] und war dann bis zum Herbst 1946 in Kriegsgefangenschaft in Karaganda im zentralasiatischen Kasachstan.[7]
1954 wurde Reinhart Koselleck in Heidelberg mit der Studie Kritik und Krise bei Johannes Kühnpromoviert. Diese 1959 mit dem Untertitel Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt veröffentlichte Doktorarbeit, eine „Abklärung der Aufklärung, diese entschiedene Skepsis gegenüber dem Fortschrittsoptimismus sorgte für grosses Aufsehen“[9], wurde im Wissenschaftsbetrieb zugleich beachtet wie kritisch beargwöhnt.[10] 1973 legte Koselleck seine Doktorarbeit unter dem Titel Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt beim Suhrkamp-Verlag neu auf. Jürgen Habermas kritisierte 1960 in einer Rezension, dass die kulturpessimistische Kritik Kosellecks sich letzten Endes selbst untergrabe. Außerdem sei die Untersuchung schülerhaft von Carl Schmitt und seiner ideologischen Orientierung abhängig.[11] „Immerhin sind wir dankbar“, schrieb Habermas, „zu erfahren, wie Carl Schmitt […] die Lage heute beurteilt.“[12] Spätere Wiederveröffentlichungen der Rezension enthalten diese Passage nicht mehr. Dennoch wird Koselleck von Kritikern wie der Kölner Philosophin Sidonie Kellerer heute erneut vorgeworfen, mit seinem Werk im Gefolge von Schmitt mittels „Umwertung der Werte durch gewaltsame Neubesetzung von Begriffen“ ein verkapptes antiaufklärerisches Programm betrieben zu haben, an das die Neue Rechte anschließe: „In Kosellecks Augen ist die Französische Revolution kein Fortschritt, sondern eine unheilvolle Etappe in einem gezielt herbeigeführten und sich globalisierenden Bürgerkrieg.“[13] 2014 veranstaltete die Schweizerische Philosophische Gesellschaft ein Symposium zum Titel und Thema.[14]
Akademische Laufbahn
Von 1954 bis 1956 war Koselleck zunächst Lecturer an der University of Bristol, bevor er für ein Jahr Assistent am Historischen Seminar der Universität Heidelberg wurde. Von 1960 bis 1965 war Koselleck Mitarbeiter beim Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte in Heidelberg, dessen Vorsitzender er 1986 wurde. Von 1963 an nahm er an den Konferenzen der interdisziplinären Forschergruppe „Poetik und Hermeneutik“ teil. 1965 habilitierte er sich mit einer Arbeit über Preußen zwischen Reform und Revolution, die von Werner Conze angeregt und betreut wurde.[15]
1966 erhielt Koselleck einen Ruf an die Ruhr-Universität Bochum, an der er Professor für Politische Wissenschaft wurde. 1968 wechselte er als Ordinarius wieder an die Universität Heidelberg, wo er Neuere Geschichte lehrte. Ab 1965 war Koselleck Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der im Aufbau befindlichen Universität Bielefeld und ersetzte 1968 Werner Conze im dortigen Gründungsausschuss. Gleichzeitig übernahm er den Vorsitz der Fachbereichskommission Geschichtswissenschaft, die er bis zur Gründung der Fakultät für Geschichtswissenschaft 1973 leitete. In diesem Jahr nahm er einen Ruf an die Universität Bielefeld auf den Lehrstuhl für Theorie der Geschichte an, den er bis zu seiner Emeritierung 1988 innehatte. Der interdisziplinären Ausrichtung seiner Forschungstätigkeit entsprach, dass er sich in den Leitungsgremien des Zentrums für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld engagierte, 1974/75 als Geschäftsführender Direktor.
Koselleck war ab den 1970er Jahren zusammen mit Werner Conze und Otto Brunner Herausgeber des achtbändigen Lexikons Geschichtliche Grundbegriffe. Das Standardwerk behandelt die Begriffsgeschichte zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.[19] Kosellecks eigene Schrift Begriffsgeschichten handelt vom Bedeutungswandel der Begriffsinhalte an Beispielen wechselnder Wirklichkeitserfahrung vergangener Epochen.[20] Für die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen zwischen 1750 und 1850 prägte er neue Begriffe wie Sattelzeit und Schwellenzeit, die neue Sinngehalte fassten und überholte Begriffe ablösten. Aufgrund des tiefgreifenden Strukturwandels der politisch-sozialen Sprache im letzten Jahrhundert werden heute neue, über Koselleck hinausgehende Analysekategorien gefordert.[21]
Darüber hinaus trug Koselleck grundlegend zur wissenschaftlichen Entwicklung der Historik,[22] der Historischen Anthropologie, der politischen Ikonologie[23] und der „Theorie historischer Zeiten“[24] bei, arbeitete ohne Einschränkung auf eine bestimmte historische Richtung oder Zweigwissenschaft fächerübergreifend mit Gelehrten wie Hans-Georg Gadamer, Paul Ricœur und Hayden White zusammen, erforschte die an die Kunstgeschichte angelehnte politische Ikonologie an Beispielen öffentlicher Denkmale und setzte sich kritisch mit der kollektiven Erinnerungskultur auseinander.[25]
Als Autor
Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Erstausgabe: Karl Alber, Freiburg/München 1959. Taschenbuchausgabe: Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973, 11. Auflage 2010. ISBN 3-518-07636-1 (Teilw. zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1954).
Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. Klett-Cotta, Stuttgart 1967, ISBN 3-12-905050-7 (Zugl.: Heidelberg, Habil.-Schr., 1965).
Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979, ISBN 3-518-06410-X.
mit Wolf-Dieter Stempel: Geschichte. Ereignis und Erzählung (= Poetik und Hermeneutik. Bd. 5). Fink, München 1973.
Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik. dtv, Frankfurt am Main 1977 ff. Mitherausgeber von zwei Teilbänden: Band 1 (1977): Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, ISBN 3-423-04281-8, gemeinsam mit Wolfgang J. Mommsen und Jörn Rüsen; Band 4 (1982): Formen der Geschichtsschreibung, ISBN 3-423-04389-X, gemeinsam mit Jörn Rüsen und Heinrich Lutz.
Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Klett-Cotta, Stuttgart 1991, ISBN 3-608-95806-1 (Einführung von Reinhart Koselleck).
Briefwechsel
Jan Eike Dunkhase (Hrsg.): Reinhart Koselleck, Carl Schmitt. Der Briefwechsel – 1953–1983, Suhrkamp, Berlin 2019, ISBN 978-3-518-58741-6.
Hans Blumenberg, Reinhart Koselleck. Briefwechsel 1965–1994. Herausgegeben von Jan Eike Dunkhase und Rüdiger Zill, Suhrkamp, Berlin 2023, ISBN 978-3-518-58801-7.
Bettina Brandt, Britta Hochkirchen (Hrsg.): Reinhart Koselleck und das Bild. Bielefeld University Press, Bielefeld 2021, ISBN 978-3-8376-5418-9.
Ute Daniel: Reinhart Koselleck. In: Lutz Raphael (Hrsg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft. Band 2: Von Fernand Braudel bis Natalie Z. Davis. Beck, München 2006, ISBN 3-406-54104-6, S. 166–194.
Christof Dipper: Die „Geschichtlichen Grundbegriffe“. Von der Begriffsgeschichte zur Theorie historischer Zeiten. In: Historische Zeitschrift. Bd. 270 (2000), S. 281–308.
Jan Eike Dunkhase: Absurde Geschichte. Reinhart Kosellecks historischer Existentialismus. Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2015, ISBN 978-3-944469-14-0.
Franz L. Fillafer: The Enlightenment on Trial. Reinhart Koselleck’s Interpretation of Aufklärung. In: ders., Q. Edward Wang (Hrsg.): The Many Faces of Clio. Cross-Cultural Approaches to Historiography. New York/Oxford 2007, ISBN 978-1-84545-270-4, S. 322–345.
Manfred Hettling, Bernd Ulrich: Formen der Bürgerlichkeit. Ein Gespräch mit Reinhart Koselleck. In: Manfred Hettling (Hrsg.): Bürgertum nach 1945. Hamburger Edition, Hamburg 2005, ISBN 3-936096-50-3, S. 40–60.
Bettina Hitzer, Thomas Welskopp (Hrsg.): Die Bielefelder Sozialgeschichte. Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen. Transcript, Bielefeld 2010, ISBN 978-3-8376-1521-0.
Sebastian Huhnholz: Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt? Heidelberger Entstehungsspuren und bundesrepublikanische Liberalisierungsschichten von Reinhart Kosellecks „Kritik und Krise“ (= Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte. Band 95). Duncker & Humblot, Berlin 2019, ISBN 978-3-428-15570-5.
Gennaro Imbriano: Le due modernità. Critica, crisi e utopia in Reinhart Koselleck. DeriveApprodi, Roma 2016, ISBN 978-88-6548-147-9.
Gennaro Imbriano: Der Begriff der Politik. Die Moderne als Krisenzeit im Werk von Reinhart Koselleck. Campus, Frankfurt am Main 2018, ISBN 978-3-593-50860-3.
Michael Jeismann: Das Jahrhundert unter der Haut. Die Besiegten schreiben die Geschichte. Zum Tode des deutschen Historikers Reinhart Koselleck. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 6. Februar 2006, Nr. 31, S. 33.
Ulrike Jureit: Erinnern als Überschritt. Reinhart Kosellecks geschichtspolitische Interventionen. Wallstein Verlag, Göttingen 2023, ISBN 978-3-8353-5435-7.
Hans-Christof Kraus: Der Historiker und das Orakel von San Casciano. Zum Briefwechsel Reinhart Koselleck – Carl Schmitt. in: Jahrbuch Politisches Denken 29 (2019), S. 205–215.
Hubert Locher, Adriana Markantonatos (Hrsg.): Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2013, ISBN 978-3-422-07161-2.
Christian Meier:In den Schichten der Zeit. Geschichte als Leib gewordene Erfahrung. Zum Tode des Bielefelder Historikers Reinhart Koselleck. In: Die Zeit. Nr.7, 2006 (zeit.de).
Bodo Mrozek: Die sogenannte Sattelzeit. Reinhart Kosellecks Geschichtsmetapher im Erfahrungsraum des Krieges. In: ZRGG 75 (2023) 2, S. 133–153.
Ernst Müller, Falko Schmieder: Reinhart Kosellecks Begriffe und Denkfiguren. In: dies. (Hrsg.): Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium. Suhrkamp, Berlin 2016, ISBN 978-3-518-29717-9, S. 278–337.
Marian Nebelin: Das Preußenbild Reinhart Kosellecks. In: Hans-Christof Kraus (Hrsg.): Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik vor und nach 1945. Duncker & Humblot, Berlin 2013, ISBN 978-3-428-14045-9, S. 333–384.
Niklas Olsen: History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck. Berghahn, New York 2012.
Stephan Schlak:Begnadeter Begriffszauberer. Reinhart Kosellecks nachgelassenes Werk – ein tief schürfendes Kompendium über den reflektierten Gebrauch politischer und sozialer Sprache. In: Die Zeit. Nr.50, 2006 (zeit.de).
Stiftung Historisches Kolleg im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft (Hrsg.): Dritte Verleihung des Preises des Historischen Kollegs. Aufgaben, Stipendiaten, Schriften des Historischen Kollegs. Darin: Rudolf Vierhaus: Laudatio auf Reinhart Koselleck sowie Reinhart Koselleck: Wie neu ist die Neuzeit? München 1991 (Digitalisat, PDF).
Stefan Weinfurter (Hrsg.): Reinhart Koselleck, 1923–2006. Reden zum 50. Jahrestag seiner Promotion in Heidelberg. Winter, Heidelberg 2006, ISBN 3-8253-5205-6.
Kornelia Kończal: Czego możemy się nauczyć od Reinharta Kosellecka, czyli o potrzebie badania polskiej semantyki historycznej. Rozmowa z profesorem Maciejem Janowskim, Stan Rzeczy, Nr. 1, 2016, S. 83–96.
Zu den genauen Truppenteilen vgl. Bodo Mrozek: Die sogenannte Sattelzeit. Reinhart Kosellecks Geschichtsmetapher im Erfahrungsraum des Krieges. In: ZRGG 75 (2023) 2, S. 133–153, hier: S. 146, Anm. 60.
Ute Daniel: Reinhart Koselleck. In: Lutz Raphael (Hrsg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft. Band 2: Von Fernand Braudel bis Natalie Z. Davis. München 2006, ISBN 3-406-54104-6, S. 166–194, hier S. 167.
Sebastian Huhnholz:Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt? Heidelberger Entstehungsspuren und bundesrepublikanische Liberalisierungsschichten von Reinhart Kosellecks „Kritik und Krise“. Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Nr.95. Duncker & Humblot, Berlin 2019, ISBN 978-3-428-85570-4.
Jürgen Habermas: Verrufener Fortschritt – verkanntes Jahrhundert. Zur Kritik der Geschichtsphilosophie. Rezension zu: Peter F. Drucker: Das Fundament für Morgen; Reinhart Koselleck: Kritik und Krise; Hanno Kesting: Geschichtsphilosophie und Weltbürgertum. In: Merkur, 5, 1960, Nr. 147, S. 468–477.
Vgl. Hubert Locher: Denken in Bildern. Reinhart Kosellecks Programm zur politischen Ikonologie. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 3, 2009, Heft 4, S. 81–91 sowie die Beiträge in ders./Adriana Markantonatos (Hrsg.): Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie. München/Berlin 2013.
Vgl. Marian Nebelin: Zeit und Geschichte. Historische Zeit in geschichtswissenschaftlichen Theorien. In: Andreas Deußer, Marian Nebelin (Hrsg.): Was ist Zeit? Philosophische und geschichtstheoretische Aufsätze. Berlin 2009, S. 51–93, bes. S. 61–78.