Loading AI tools
Verfassungen der Schweizer Kantone Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Die Kantonsverfassung (französisch constitution cantonale, italienisch costituzione cantonale, rätoromanisch constituziun chantunala) ist die Verfassung eines Schweizer Kantons. Im normativen Sinn besteht sie aus den hierarchisch höchsten Normen der kantonalen Rechtsordnung. Im materiellen Sinn enthält die Kantonsverfassung die für das kantonale Staatswesen wichtigsten Regeln. Im instrumentalen Sinn versteht sich die Kantonsverfassung als Kodifikation, als einheitliches Dokument, in dem die kantonalrechtliche Grundordnung festgelegt ist.[1]
Mit ihren Verfassungen konstituieren sich die Kantone als Gliedstaaten der Schweizerischen Eidgenossenschaft, als welche sie von der Bundesverfassung anerkannt sind.[2] Als normative Grundlagen des kantonalen Staatsrechts beschlagen die Kantonsverfassungen den gesamten Bereich der bundesrechtlich geschützten Verfassungsautonomie der Kantone.[3] Aufgrund des föderalen Staatsaufbaus sind die Kantone derivative Völkerrechtssubjekte mit eigenen Parlamenten, Regierungen und Gerichten. Alle staatlichen Bereiche, die nicht von der Bundesverfassung dem Bund zugewiesen bzw. von einem Bundesgesetz geregelt werden, liegen in der Kompetenz der Kantone. Innerhalb dieser Kompetenzen, die von den Kantonsverfassungen und den daraus abgeleiteten Gesetzen geregelt werden, können die Kantone Verträge untereinander (sogenannte Konkordate) oder mit fremden Staaten schliessen. Die Kantone gewähren ihrerseits den Gemeinden (und in seltenen Fällen den Bezirken) eine gewisse Autonomie.
Zentrale Aufgabe der Kantonsverfassung ist es, die Organe zu bestimmen, die im Namen des Kantons handlungsberechtigt sind. Im Wesentlichen gehören dazu das Volk, das Parlament, die Regierung, die Verwaltung und die Gerichte. Es obliegt der Kantonsverfassung, deren Zusammensetzung, Zuständigkeit und Funktionsweise zumindest in den grossen Linien festzulegen. Diese organisatorischen Bestimmungen nehmen in allen Kantonsverfassungen einen dominanten Platz ein. Fast alle Kantonsverfassungen verfügen auch über eine mehr oder weniger umfangreiche Aufzählung der Staatsaufgaben, womit sie auch den Inhalt der Tätigkeiten ihrer Organe abdecken. Eine klassische Verfassungsfunktion ist sodann die Machtbegrenzung der staatlichen Organe (direkte Demokratie, Aufteilung der öffentlichen Gewalt unter mehreren Staatsorganen, die Dezentralisierung des Kantons sowie – in einigen Verfassungen allerdings in erster Linie in Form eines Verweises auf die Bundesverfassung – die Gewährleistung der Grundrechte). Überdies bestimmen die Kantonsverfassungen das Verhältnis zwischen Staat und Kirche.[4]
Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist (Art. 3 BV).
Die Verfassungen sind mit Ausnahme derjenigen der Landsgemeindekantone institutionell stark vom liberalen, gewaltenteiligen und individualistisch-demokratischen Staatsrecht der Aufklärungszeit, der Amerikanischen und der Französischen Revolution beeinflusst, das dann eine spezifisch schweizerische Prägung durch vorbestehende republikanische und genossenschaftliche Traditionen erhielt. Die Kantone sind durchwegs stärker demokratisiert als der Bund. Allen Kantonen ist die kollegial organisierte und vom Volk direkt auf feste Amtsdauer gewählte Regierung sowie das Einkammerparlament gemeinsam. Die Kantonsparlamente werden heute in allen Kantonen mit Ausnahme von Appenzell Innerrhoden und Graubünden im Verhältniswahlverfahren gewählt (gemischte Systeme in den Kantonen Uri, Appenzell Ausserrhoden und Zug). Ausser im Tessin werden die Kantonsregierungen im Mehrheitswahlverfahren gewählt.[5]
Institutionell unterscheiden sich die Kantone vor allem in der Art, wie das Volk am Prozess der staatlichen Willensbildung teilnimmt. Dies geschieht in der Regel durch obligatorische oder fakultative Gesetzesreferenden. Das obligatorische Gesetzesreferendum besteht heute vorwiegend in Landkantonen mit einer alten genossenschaftlich-demokratischen Tradition, so in den ehemaligen Landsgemeindekantonen Uri und Schwyz, oder aber in Kantonen, die eine starke demokratische Bewegung erlebt haben (Solothurn, Basel-Landschaft, Aargau).[5]
Alle Kantone kennen die Gesetzesinitiative und das Finanzreferendum, das dem Volk die Entscheidung über grössere Staatsausgaben vorbehält und deshalb von grosser praktischer Bedeutung ist. Darüber hinaus gibt es weitere Formen des Referendums, beispielsweise Referenden gegen Konzessionsbeschlüsse (Bern, Uri, Graubünden). Ein Initiativrecht in Verwaltungssachen gilt hingegen nur in wenigen Kantonen. In einigen Kantonen sind ausserdem weitere demokratische Rechte verankert, so in Zürich die Einzelinitiative und die Behördeninitiative, in Bern und Nidwalden das konstruktive Referendum, in Glarus der Memorialsantrag, in Freiburg, Schaffhausen und Solothurn die Volksmotion, in Appenzell Ausserrhoden die Volksdiskussion und in Appenzell Innerrhoden das Einzelinitiativrecht der Landsgemeindeteilnehmer. Manche Kantone kennen ausserdem ein Abberufungsrecht des Volkes gegenüber Parlament und/oder Regierung.[5]
Die Gemeindeautonomie ist in den Kantonen der Deutschschweiz stärker ausgeprägt als in der lateinischen Schweiz.[6] Dies widerspiegelt sich auch in der Präferenz für Gemeindeversammlungen, während in französisch- oder italienischsprachigen Kantonen Gemeindeparlamente vorherrschen. Im Kanton Schwyz sind die Bezirke zugleich öffentliche Korporationen mit eigener Rechtspersönlichkeit, weshalb sie ebenfalls eine gewisse Autonomie besitzen.[7]
Jede Änderung einer kantonalen Verfassung ist der Bundesversammlung zur Genehmigung, der sogenannten Gewährleistung, vorzulegen. Die Gewährleistung der Kantonsverfassungen ist eine der drei Bundesgarantien, die dazu dienen, trotz der regionalen Unterschiede im Bundesstaat eine gewisse Einheitlichkeit sicherzustellen. Denn der Bundesstaat kann nur Bestand haben, wenn die staatsrechtliche Ordnung der Kantone nicht zu stark von jener des Bundes oder anderer Kantone abweicht. Sodann stellt die Gewährleistung sicher, dass die Kantonsverfassungen den Rahmen des Bundesrechts beachten. Die Kantone sind in der Festlegung ihrer verfassungsrechtlichen Ordnung grundsätzlich autonom. Der Bund schränkt ihre Eigenständigkeit nur da ein, wo die Bundesverfassung gewisse Forderungen aufstellt (Art. 51 Abs. 1 BV).[8]
Die wichtigste Anforderung an die Kantonsverfassungen ist die Übereinstimmung mit dem Bundesrecht, wobei alle Normen des Bundesrechts (Verordnungen, Gesetze, Verfassungsnormen) den Vorrang geniessen (Art. 49 Abs. 1 BV). Des Weiteren müssen sich die Kantone als Demokratien konstituieren. Gesetze müssen also durch ein Parlament erlassen werden, das vom Volk gewählt wurde. Ebenso werden ein obligatorisches Verfassungsreferendum und eine Verfassungsinitiative verlangt. Obwohl die Bundesverfassung von den Kantonen nicht verlangt, sich als direkte Demokratien zu organisieren, haben sich alle Kantone – wenngleich in unterschiedlichem Mass – dafür entschieden. Sodann muss die Verfassung «revidiert werden können, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten es verlangt». Daraus folgt, dass die Verfassung jederzeit geändert werden darf und dass sie sich auf beliebige Verfassungsinhalte – im Rahmen des Bundesrechts – beziehen kann. Das schliesst Ewigkeitsklauseln aus, wie sie das Deutsche Grundgesetz in Art. 79 Abs. 3 vorsieht.[9]
Bei der Gewährleistung der Kantonsverfassungen überprüft die Bundesversammlung, ob die Verfassungen den Anforderungen von Art. 51 BV genügen. Dadurch ist sie auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt und sollte keine politischen Argumente einfliessen lassen. Das lässt sich jedoch nicht leicht verwirklichen, zumal die Bundesversammlung eine politische und keine rechtliche Instanz ist.[10]
Die Änderung der Kantonsverfassung tritt schon vor der Gewährleistung in Kraft. Wird diese jedoch von der Bundesversammlung verweigert, ist die Verfassungsbestimmung nichtig. Sämtliche rechtsanwendenden Behörden sind an diesen Beschluss gebunden, und weder die Kantone noch die Bürger haben eine Möglichkeit, die Entscheidung vor einem Gericht anzufechten.[11]
Das Bundesgericht erachtet sich wegen Art. 189 Abs. 4 BV als an den Gewährleistungsbeschluss gebunden. Diese Bindung erstreckt sich auf die kantonalen Gesetze, sofern sie mit der Verfassungsnorm übereinstimmen. Während die abstrakte Normenkontrolle ausgeschlossen ist, besteht die Möglichkeit einer konkreten Normenkontrolle in bestimmten Fällen. Kantonsverfassungen können dann auf Übereinstimmung mit übergeordnetem Recht überprüft werden, wenn dieses zum Zeitpunkt der Gewährleistung noch nicht in Kraft war. Diesen Kurswechsel vollzog das Bundesgericht im Jahr 1985.[12] Es handelte sich bei diesem Urteil um die Frage, ob Art. 43 Abs. 1 der Kantonsverfassung von Appenzell Innerrhoden vor Art. 6 der EMRK standhalte, die erst nach der Gewährleistung der Kantonsverfassung von der Schweiz ratifiziert worden war. Im Verfahren um das Stimmrecht von Frauen in Appenzell Innerrhoden dehnte das Bundesgericht diese Sichtweise auf das gesamte, der Kantonsverfassung übergeordnete Recht aus.[13] Somit kann in konkreten Anwendungsfällen vor dem Bundesgericht Beschwerde eingelegt werden, dass eine Bestimmung einer Kantonsverfassung gegen Verfassungs- oder Völkerrecht verstosse, sofern dieses nach der Gewährleistung in Kraft getreten ist – sonst nicht.[14]
In den 1960er Jahren setzte eine Welle von Totalrevisionen der Kantonsverfassungen ein. Ein erster Meilenstein war die Verfassung des neugegründeten Kantons Jura (1977), die mit dem Bezug auf die Menschenrechtserklärungen und -konventionen, den ausgebauten Sozialzielen und Staatszielen sowie einer kantonalen Verfassungsgerichtsbarkeit neue Akzente im kantonalen Staatsrecht setzte. Wegweisend war darauf die neue Verfassung des Kantons Aargau (1980), die Gegenstand einer wissenschaftlichen Aufarbeitung des kantonalen Staatsrecht durch den Rechtsprofessor Kurt Eichenberger war und starken Einfluss auf die nachfolgenden Revisionen kantonaler Verfassungen ausübte. Einen eigentlichen Angelpunkt bildete die neue Berner Kantonsverfassung (1993), welche den Verfassungsreformprozess im Bund beeinflusste und als Katalysator für weitere Totalrevisionen der kantonalen Grundgesetze wirkte.[15]
Die aktuelle Welle der Totalrevisionen trug und trägt dazu bei, ein Jahrhundert des Mauerblümchendaseins der kantonalen Verfassungen zu beenden und diesen wieder ihre Rolle zu geben, die der zentralen Stellung der Kantone in der Schweizerischen Eidgenossenschaft entspricht. Unterstützt wurde die Aufwertung der Kantonsverfassungen dadurch, dass im späteren 20. Jahrhundert das bisher weithin geltende obligatorische Gesetzesreferendum in der grossen Mehrheit der Kantone durch ein fakultatives abgelöst wurde, wodurch die Stellung der Verfassung – die überall weiterhin dem obligatorischen Referendum untersteht – eine herausragende Position erhalten hat. Zudem lösten die Totalrevisionsprozesse neue Entwicklungen im kantonalen Recht aus, die zeigen, dass sich die Kantonsverfassungen im Rechtsleben der Kantone tatsächlich durchzusetzen vermögen.[16]
(Stand: April 2021)
Kanton | Titel | Datum | Gesetzesreferendum | Abberufungsrechte | Besonderes |
---|---|---|---|---|---|
Zürich | Verfassung des Kantons Zürich[17] | 27. Februar 2005 | fakultativ | Einzelinitiative, Behördeninitiative | |
Bern | Verfassung des Kantons Bern Constitution du canton de Berne[18] | 6. Juni 1993 | fakultativ | Parlament, Regierung | konstruktives Referendum |
Luzern | Verfassung des Kantons Luzern[19] | 17. Juni 2007 | teilweise obligatorisch | ||
Uri | Verfassung des Kantons Uri[20] | 28. Oktober 1984 | obligatorisch | alle gewählten Behörden | |
Schwyz | Verfassung des Kantons Schwyz[21] | 24. November 2010 | teilweise obligatorisch | ||
Obwalden | Verfassung des Kantons Obwalden[22] | 19. Mai 1968 | fakultativ | ||
Nidwalden | Verfassung des Kantons Nidwalden[23] | 10. Oktober 1965 | fakultativ | konstruktives Referendum | |
Glarus | Verfassung des Kantons Glarus[24] | 1. Mai 1988 | obligatorisch | Landsgemeinde, Memorialsantrag | |
Zug | Verfassung des Kantons Zug[25] | 31. Januar 1894 | fakultativ | ||
Freiburg | Verfassung des Kantons Freiburg Constitution du canton de Fribourg[26] | 16. Mai 2004 | fakultativ | Volksmotion | |
Solothurn | Verfassung des Kantons Solothurn[27] | 8. Juni 1986 | teilweise obligatorisch | Parlament, Regierung | Volksmotion |
Basel-Stadt | Verfassung des Kantons Basel-Stadt[28] | 23. März 2005 | fakultativ | ||
Basel-Landschaft | Verfassung des Kantons Basel-Landschaft[29] | 17. Mai 1984 | teilweise obligatorisch | ||
Schaffhausen | Verfassung des Kantons Schaffhausen[30] | 17. Juni 2002 | teilweise obligatorisch | Parlament, Regierung | Volksmotion |
Appenzell Ausserrhoden | Verfassung des Kantons Appenzell Ausserrhoden[31] | 30. April 1995 | fakultativ | Volksdiskussion | |
Appenzell Innerrhoden | Verfassung für den Eidgenössischen Stand Appenzell Innerrhoden[32] | 24. November 1872 | obligatorisch | Landsgemeinde, Einzelinitiative | |
St. Gallen | Verfassung des Kantons St. Gallen[33] | 10. Juni 2001 | fakultativ | ||
Graubünden | Verfassung des Kantons Graubünden Constituziun dal chantun Grischun Costituzione del Cantone dei Grigioni[34] | 14. September 2003 | fakultativ | ||
Aargau | Verfassung des Kantons Aargau[35] | 25. Juni 1980 | teilweise obligatorisch | ||
Thurgau | Verfassung des Kantons Thurgau[36] | 16. März 1987 | fakultativ | Parlament, Regierung | |
Tessin | Costituzione della Repubblica e Cantone Ticino[37] | 14. Dezember 1997 | fakultativ | Regierung | |
Waadt | Constitution du Canton de Vaud[38] | 14. April 2003 | fakultativ | ||
Wallis | Verfassung des Kantons Wallis Constitution du canton du Valais[39] | 8. März 1907 | fakultativ | ||
Neuenburg | Constitution de la République et Canton de Neuchâtel[40] | 24. September 2000 | fakultativ | ||
Genf | Constitution de la République et Canton de Genève[41] | 14. Oktober 2012 | fakultativ | ||
Jura | Constitution de la République et Canton du Jura[42] | 20. März 1977 | fakultativ |
Die im Spätmittelalter aus reichsunmittelbaren Talschaften, reichsfreien Städten und Gemeindeverbänden entstandenen Kantone kannten keine Verfassungen im modernen Sinn. Die Regeln und Prinzipien der Machtstrukturen wurden in Satzungen, Urkunden und Briefen festgelegt, die durchaus schon einzelne Verfassungsfunktionen ausübten, namentlich jene der Organisation und der Legitimation. Bezugspunkt waren allerdings nichtstaatliche Organisationen und Institutionen wie Zünfte, Patrizierfamilien oder die Landsgemeinde, nicht wie heute das Staatswesen. Beispiele für solche vormoderne «Verfassungen» sind die von der Glarner Landsgemeinde 1387 beschlossenen Landsatzungen, welche die Grundlagen des Freistaates festlegten; die Loosordnung des Standes Bern von 1710, die die Wahl der Exekutivbehörden dem Zufall überliess; der Zürcher Geschworene Brief von 1713, in welchem «Ordnung und Regiment» gesetzt wurde; die 25 Landpuncte von Schwyz von 1719, welche die Hierarchie der Räte festschrieb und die jährliche Landsgemeinde als «grösste Gewalt und Landesfürst» bezeichnete; sowie das Luzerner Fondamentalgesetz für alle zukünftigen Zeiten von 1773, das die Privilegien der «Gnädigen Herren und Obern» verteidigte.[43]
Mit dem Erlass der Mediationsakte durch Napoleon Bonaparte im Jahr 1803 erhielten die Kantone erstmals geschriebene Verfassungen im modernen Sinn. Diese lehnten sich zwar an die vor der helvetischen Revolution von 1798 bestehenden Strukturen an, waren jedoch freiheitlicher und demokratischer. In den Städteorten erlangten die alten patrizischen Familien trotzdem wieder eine führende Stellung. Zu Beginn der Restauration (ab 1815) erliessen die Kantone neue Verfassungen, die sich stark an die vorrevolutionären Verhältnisse anlehnten. Reste der demokratischen und liberalen Errungenschaften konnten sich vor allem in den Verfassungen der neuen Kantone Aargau, Genf, St. Gallen, Tessin, Thurgau und Waadt halten.[44]
1830 gab die französische Julirevolution den äusseren Anlass zu Machtwechseln in den Kantonen Aargau, Bern, Freiburg, Luzern, Schaffhausen, Solothurn, St. Gallen, Tessin, Thurgau, Waadt und Zürich, nach der Basler Kantonstrennung von 1833 auch in Basel-Landschaft. Die in der Regeneration geschaffenen staatsrechtlichen Grundlagen prägen die Kantonsverfassungen und die politischen Systeme bis heute. Wesentlich beeinflusst sind sie von den politischen Ideen der Aufklärung bzw. vom amerikanischen und französischen Verfassungsdenken. Das individualistische Freiheitsverständnis, die Rechtsgleichheit und die Gewaltenteilung fanden nun Eingang in die Kantonsverfassungen. Die Volkssouveränität wurde als Verfassungsprinzip festgelegt, allerdings bestand in der politischen Praxis eher eine Parlamentssouveränität. Zwar kannten einzelne Kantone weiterhin Zensuswahlrechte oder indirekte Wahlverfahren; meistenorts galten aber das allgemeine und gleiche Wahlrecht der Männer sowie die Verteilung der Parlamentssitze nach dem Kopfzahlprinzip. Das obligatorische Verfassungsreferendum gehörte zum Kernbestand jener Verfassungen. Die meisten Grundgesetze führten besondere Verfassungsräte ein. Sechs Kantone kannten die Volksinitiative auf Totalrevision der Verfassung. St. Gallen (1831), Basel-Landschaft (1833) und Luzern (1841) verankerten das Veto, den Vorläufer des Gesetzesreferendums. 1846 führte Waadt das Initiativrecht ein, Bern im selben Jahr das plebiszitäre Gesetzesreferendum und die Abberufung des Parlaments durch das Volk. Als erster Kanton sah Genf 1847 die direkte Volkswahl der Exekutive vor. Viele Kantone führten nach französisch-helvetischem Vorbild das Direktorialsystem für ihre fünf- bis neunköpfigen Exekutiven ein, ausserdem verankerten alle Regenerationskantone die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Gerichten.[44]
In den Regenerationskantonen beherrschte das liberale Establishment das Parlament und bestimmte mit diesem die politische und wirtschaftliche Entwicklung. Gegen diese Dominanz wandten sich ab 1848 die demokratischen Bewegungen, welche die Verwirklichung wirtschaftspolitischer, egalitärer und sozialpolitischer Ziele durch Einführung direktdemokratischer Mittel verfolgten. Die ersten in diesem Sinn demokratisch beeinflussten Verfassungen waren diejenigen von Aargau und Solothurn, die in den 1850er Jahren das Abberufungsrecht, das Gesetzesinitiativrecht und das Gesetzesreferendum einführten. Neuenburg verankerte 1858 das Finanzreferendum in seiner Verfassung. Die eigentliche Demokratische Bewegung der 1860er Jahre, die von Basel-Landschaft ausging und sich vor allem in der Nord- und der Ostschweiz auswirkte, war vom Kampf des landstädtischen Mittelstandes und der kleinbürgerlichen Schichten gegen die Vormachtstellung des hauptstädtischen Grossbürgertums geprägt. Musterbeispiel für eine Verfassung aus dieser Ära ist jene des Kantons Zürich von 1869, die mit dem obligatorischen Gesetzesreferendum, der Gesetzes- und der Einzelinitiative, dem Finanzreferendum, der Volkswahl der Exekutive sowie derjenigen der Ständeräte zahlreiche direktdemokratische Elemente enthielt. Andere Kantone führten zudem das Abwahlrecht für das Parlament oder teilweise auch für die Exekutive ein. Die Errungenschaften der demokratischen Kantonsverfassungen wurden auf eidgenössischer Ebene zum Teil in der revidierten Bundesverfassung von 1874 übernommen. Alle Kantone sahen in der Folge Gesetzesreferendum und Gesetzesinitiative vor, zuletzt Freiburg im Jahr 1920. Von 1890 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs führten ferner die meisten Kantone das Verhältniswahlrecht für ihre Parlamente ein.[44]
Wesentliche Teile des Aufgabenbereiches der Kantone verlagerten sich ab 1848 auf den Bund. In einer ersten Phase wurde dem Bund die Zuständigkeit für die Gesetzgebung im Zivil- und Strafrecht übertragen, wobei die Kantone den Justizvollzug in diesen Bereichen behielten. Ab den 1920er Jahren war der Bund auch für die Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung zuständig. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm der Bund weitgehende Gesetzgebungskompetenzen etwa im Bereich des Verkehrs, der Technik und des Umweltschutzes; dabei wurde den Kantonen häufig der Verwaltungsvollzug belassen («Vollzugsföderalismus»). Zu den wichtigsten verbliebenen Aufgaben der Kantone gehören die direkten Steuern, das Bildungs- und das Gesundheitswesen, das Polizeiwesen, die Regelung der kirchlichen Verhältnisse und die kulturellen Angelegenheiten.[5]
Eine Sonderstellung nahmen die Verfassungen der Landsgemeindekantone ein. Die dort in der Regel jährlich stattfindende Versammlung der Stimmberechtigten ist das oberste Staatsorgan mit weitreichenden Befugnissen. Die Landräte wandelten sich allerdings nach und nach zu modernen Parlamenten, das liberale individualistische Freiheitsverständnis verdrängte das überkommene genossenschaftliche, und die Gewaltenteilung erzielte grosse Fortschritte. Seit der Entstehung des Bundesstaats im Jahr 1848 trugen sechs Kantone diesem Wandel Rechnung und schufen, auch aus Gründen der Praktikabilität, diese Form der Demokratie ab (Schwyz und Zug 1848, Uri 1928, Nidwalden 1996, Appenzell Ausserrhoden 1997, Obwalden 1998). Landsgemeinden werden heute nur noch in Glarus und Appenzell Innerrhoden abgehalten. Auch die Verfassungen dieser beiden Kantone sind als Mischsysteme von Versammlungs-, Parlaments- und Urnendemokratie zu interpretieren.[6]
Infolge der markanten Bedeutungszunahme der Verwaltung und der Direktwahl der Regierungen durch das Volk erlangte in allen Kantonen die Exekutive gegenüber dem Parlament faktisch eine Vormachtstellung. Die Justiz ist in den Kantonsverfassungen in zwei Hierarchiestufen gegliedert. Mehrere Kantone kannten noch Geschworenengerichte, bis diese indirekt mit der Schweizer Strafprozessordnung 2011 endgültig abgeschafft wurden, da sie keine Prozesse nach dem Unmittelbarkeitsprinzip vorsieht.[45] Seit der Abschaffung des Kassationsgerichts im Kanton Zürich 2012 im Gefolge der neuen schweizweit gültigen Prozessordnungen existiert eine solche Institution in keinem Kanton mehr.[46] Hingegen kennen die meisten (hauptsächlich die deutschsprachigen und die mehrsprachigen) Kantone auf Gemeinde-, Kreis-, Regions- oder auch Kantonsebene Schlichtungsbehörden (je nach Kanton auch Friedensrichter oder Vermittler genannt). Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Verwaltungsgerichte eingeführt, und drei Kantone richteten Verfassungsgerichte ein (Nidwalden, Basel-Landschaft, Jura).[6]
Seit der Regenerationszeit enthalten die Kantonsverfassungen Kataloge mit Freiheitsrechten. Deren Relevanz ist jedoch durch die schöpferische Rechtsprechung des Bundesgerichts ab den 1960er Jahren und die Totalrevision der Bundesverfassung 1999 geringer geworden. Die kantonalen Freiheitsrechte erlangen nur noch dann Bedeutung, wenn ihr Schutzbereich über denjenigen der Rechte des Bundes hinausgeht. Durch die Gewährleistung selbstständiger Grundrechte können die Kantone aber weiterhin eine Vorreiterrolle gegenüber dem Bund einnehmen, wie sie das bereits im 19. und 20. Jahrhundert getan haben.[6]
Seamless Wikipedia browsing. On steroids.
Every time you click a link to Wikipedia, Wiktionary or Wikiquote in your browser's search results, it will show the modern Wikiwand interface.
Wikiwand extension is a five stars, simple, with minimum permission required to keep your browsing private, safe and transparent.