Gertrud Kolmar war die älteste Tochter des jüdischen Rechtsanwaltes Ludwig Chodziesner (1861–1943) und seiner Frau Elise, geborene Schoenflies (1872–1930). Sie hatte zwei Schwestern (* 1897 und 1905) und einen Bruder (* 1900).[1] Sie war eine Cousine von Walter Benjamin und dessen Bruder Georg Benjamin (→ Familien Schoenflies und Hirschfeld). Sie wuchs im Charlottenburger Westend auf, dem heutigen Berliner Westend, und besuchte nach mehreren privaten Berliner Mädchenschulen 1911/12 eine haus- und landwirtschaftliche Frauenschule in Elbisbach bei Leipzig. Sie war zwischenzeitlich in einem Kindergarten tätig, lernte Russisch und absolvierte 1915/16 ein Seminar für Sprachlehrerinnen in Berlin mit einem Diplom für Englisch und Französisch. Zu dieser Zeit hatte sie eine Liebesbeziehung mit einem Offizier, die mit einer Abtreibung und der anschließenden Trennung endete.
1917 erschien ihr erster Gedichtband unter dem PseudonymGertrud Kolmar. Das Pseudonym erklärt sich aus der Herkunft ihres Familiennamens von der Stadt Chodziesen in der damaligen preußischen Provinz Posen, die 1878 in Kolmar umbenannt worden war. In den Jahren 1917/18 arbeitete Gertrud Kolmar als Zensorin in dem Kriegsgefangenenlager Rohrbeck/Döberitz bei Berlin. 1921 zog die Familie Chodziesner in die Berliner Innenstadt, 1923 nach Falkensee bei Spandau in die VillenkolonieFinkenkrug. Gertrud war während dieser Zeit Erzieherin in verschiedenen Berliner Familien, 1927 ging sie in dieser Funktion auch nach Hamburg. Im selben Jahr unternahm sie eine Studienreise nach Frankreich mit Aufenthalten in Paris und Dijon. Ab 1928 übernahm sie wegen einer schweren Erkrankung der Mutter die Führung des elterlichen Haushalts und arbeitete daneben als Sekretärin für ihren Vater. Seinetwegen blieb sie nach 1933 in Deutschland, während ihren Geschwistern[2] die Flucht gelang.
Ab Ende der 1920er-Jahre erschienen einzelne ihrer Gedichte in literarischen Zeitschriften und Anthologien. 1934 wurde ihr zweiter Gedichtband Preußische Wappen im Verlag Die Rabenpresse von Victor Otto Stomps publiziert. Diese Veröffentlichung brachte den Verlag auf eine Liste unerwünschter Verlage des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, von dem er dann boykottiert wurde. Kolmar durfte ab 1936 nicht mehr unter ihrem Künstlernamen publizieren, sondern nur noch unter ihrem Familiennamen Chodziesner.
Ihr dritter Gedichtband Die Frau und die Tiere, der im August 1938 im Verlag Erwin Löwe erschien, wurde nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 in Zusammenhang mit der Auflösung der jüdischen Buchverlage verramscht.[3] Die Familie Chodziesner wurde infolge der verschärften Verfolgung der jüdischen Bevölkerung noch im November 1938 zum Verkauf ihres Hauses in Finkenkrug und zum Umzug in eine Etagenwohnung in einem „Judenhaus“ in Berlin-Schöneberg gezwungen.
Ab Juli 1941 musste Gertrud Kolmar Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie leisten. Ihr Vater wurde im September 1942 in das Ghetto Theresienstadtdeportiert und starb dort im Februar 1943. Gertrud Kolmar wurde am 27. Februar 1943 im Verlauf der Fabrikaktion verhaftet und am 2. März 1943 im 32. „Osttransport“ des RSHA ins KonzentrationslagerAuschwitz deportiert. Von den etwa 1500 Berliner Jüdinnen und Juden, die in diesem Zug am 3. März 1943 in Auschwitz ankamen, wurden nach der Selektion an der „Alten Rampe“ 535 Männer und 145 Frauen als „arbeitsfähige“ Häftlinge registriert und in das Lager eingewiesen. Die übrigen etwa 820 Deportierten dieses Zuges, darunter Gertrud Kolmar, wurden nicht als Häftlinge registriert und vermutlich sofort nach der Ankunft in der Gaskammer ermordet.[4]
Gertrud Kolmar, von deren Werk zu Lebzeiten relativ wenig erschien, gilt heute als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts. Nach eher konventionellen Anfängen fand sie in ihren Gedichten vor allem ab Ende der Zwanzigerjahre zu einem eigenen, unverkennbaren Ton, geprägt von großer sprachlicher Virtuosität und Expressivität, unter gleichzeitiger Beibehaltung traditioneller Formen. In ihrem Werk herrschen Natur- und Frauenthemen vor, oft ins Mystische und Hymnische gesteigert.
Im Jahr 2007 wurden bei ihrem letzten Wohnhaus in Falkensee für sie und ihren Vater Stolpersteine verlegt.[5] An der Straßenfront des Wohnhauses befindet sich eine steinerne Gedenktafel, die in der Brandenburger Denkmalliste enthalten ist. Ein weiterer Stolperstein wurde an ihrer letzten Wohnstätte in der Münchener Straße in Berlin-Schöneberg verlegt.
Das Museum und Galerie der Stadt Falkensee widmet sich in seiner Dauerausstellung ausführlich dem Leben und Werk Gertrud Kolmars.[6]
2011 wurde eine Rosen-Neuzüchtung aus Hamburg als „Gertrud-Kolmar-Rose“ im Garten von Museum und Galerie Falkensee nach der Dichterin benannt und 'getauft'; der dortige Rosengarten trägt ihren Namen[6]
2019 vergab die Online-Literaturplattform Fixpoetry den bisher einmal verliehenen mit insgesamt 18.500 Euro dotierten Gertrud-Kolmar-Preis für Lyrik.
Im April 2022 wurde der Kolmar Park in Chicago, Illinois, zu Ehren der Dichterin umgewidmet; zuvor hatte sich sein Name auf die benachbarte, nach der Stadt Colmar benannte Kolmar Avenue bezogen.[7][8]
Veröffentlichungen zu Lebzeiten
Gedichte, Berlin, Fleischel & Co. 1917
Preußische Wappen, Berlin, Die Rabenpresse 1934
Die Frau und die Tiere, Berlin, Jüdischer Buchverlag E. Löwe 1938
Die Frau und die Tiere, Quelle Kindler neu unterKolmar: Das lyrische Werk, DLA Marbach, erschienen 1938, DNB-Link
Posthume Ausgaben
Welten, Berlin, Suhrkamp 1947
Das lyrische Werk, herausgegeben von Hermann Kasack, mit einem Nachwort von Jacob Picard, Heidelberg, Lambert Schneider 1955
Das lyrische Werk, München, Kösel 1960
Eine jüdische Mutter, München, Kösel 1965; Die jüdische Mutter, herausgegeben von Regina Nörtemann und Thedel v. Wallmoden, Göttingen: Wallstein Verlag, 2023, ISBN 978-3-8353-3388-8
Briefe an die Schwester Hilde, München 1970
Das Wort der Stummen. Nachgelassene Gedichte. Hrsg. und mit einem Nachwort von Uwe Berger und „Erinnerungen an Gertrud Kolmar“ von Hilde Benjamin, Berlin, Buchverl. Der Morgen 1978
Weibliches Bildnis. Sämtliche Gedichte, mit einem Nachwort von Hilde Wenzel, München, dtv 1987
Susanna, Frankfurt am Main, Suhrkamp 1993; auf 2 CD Berlin: Herzrasen Records, 2006
Nacht, Verona 1994
Briefe. Hrsg. von Johanna Woltmann. Göttingen, Wallstein 1997, ISBN 3-89244-232-0; durchges. von Johanna Egger und Regina Nörtemann, Göttingen: Wallstein, 2014, ISBN 978-3-8353-1397-2
Das lyrische Werk. Hrsg. von Regina Nörtemann. 3 Bände. (erste kritische, kommentierte Ausgabe). Göttingen, Wallstein 2003 (² 2010)
Die Dramen. Hrsg. von Regina Nörtemann. Göttingen, Wallstein 2005, ISBN 3-89244-822-1
Der Engel im Walde, Fassung 1933 und 1937, Übersetzung ins Polnische von Iwona Mickiewicz, Übersetzung ins Hebräische von Varda Getzow, Künstlerbuch mit Linolätzungen von Thomas P. Konietschke, Kaefertal-Presse & Edition 2017
Walter Benjamin, Kommentar zu zwei Gedichten von Gertrud Kolmar, in: Die Literarische Welt, Jg. 4, Nr. 14/15 vom 5. April 1928, S. 1.
Jacob Picard, Erinnerungen an Gertrud Kolmar, Nachwort zu Das lyrische Werk, Heidelberg 1955, wieder abgedruckt in: J. Picard, Werke in zwei Bänden, Konstanz 1991 und Werke in einem Band, Lengwil 1996.
Victor Otto Stomps, Gertrud Kolmars lyrisches Werk, in: Deutsche Rundschau 82 (1956), S. 787–789.
Wolfdietrich Schnurre, Zweifel und Hinnahme. Gertrud Kolmar zur Gedächtnis, Rundfunk-Essay, gesendet in RIAS 1960, gedruckt in: Triffst Du nur das Zauberwort. Stimmen von heute zur deutschen Lyrik, Frankfurt/Main 1961, S. 268–287 und in: W. Schnurre, Gelernt ist gelernt. Gesellenstücke, Ullstein Taschenbuch, 1984, S. 51–69.
Hans Byland: Zu den Gedichten Gertrud Kolmars. Diss. Zürich 1971.
Marion Brandt: Schweigen ist ein Ort der Antwort. Eine Analyse des Gedichtzyklus „Das Wort der Stummen“ von Gertrud Kolmar. Hoffmann, Berlin 1993, ISBN 3-929120-00-3.
Beatrice Eichmann-Leutenegger: Gertrud Kolmar. Leben und Werk in Texten und Bildern. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-633-54072-5.
Ulrich Ott (Hrsg.): Marbacher Magazin 63/1993. Gertrud Kolmar 1894–1943. Bearbeitet von Johanna Woltmann. Marbach am Neckar 1993, ISBN 3-928882-06-6.
Marion Brandt (Hrsg.): Gertrud Kolmar, Orte. (Ausstellungskatalog). Kontext-Verlag, Berlin 1994, ISBN 3-86161-027-2.
Birgit R. Erdle: Antlitz – Mord – Gesetz. Figuren des Anderen bei Gertrud Kolmar und Emmanuel Lévinas. Passagen, Wien 1994, ISBN 3-85165-095-6.
Johanna Woltmann: Gertrud Kolmar. Göttingen 1994 (zugl. Diss. phil. Univ. München), ISBN 3-89244-067-0; Neuaufl. Suhrkamp TB, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-518-39754-0.
Monika Shafi: Gertrud Kolmar. Iudicium, München 1995, ISBN 3-89129-233-3.
Barbara C. Frantz: Gertrud Kolmar's prose. Lang, New York [u.a.] 1997, ISBN 0-8204-3658-5.
Gudrun Jäger: Gertrud Kolmar: Publikations- und Rezeptionsgeschichte. Campus-Verlag, Frankfurt/Main [u.a.] 1998, ISBN 3-593-35964-2.
Chryssoula Kambas (Hrsg.): Lyrische Bildnisse. Beiträge zu Dichtung und Biographie von Gertrud Kolmar. Aisthesis, Bielefeld 1998, ISBN 3-89528-199-9.
Kathy Zarnegin: Tierische Träume. Niemeyer, Tübingen 1998, ISBN 3-484-32097-4.
Flavia Arzeni (Hrsg.): Gertrud Kolmar, la straniera. Bulzoni, Roma 1999, ISBN 88-8319-292-3.
Gerlind Fink: Die schönen Wunder – Zu Gertrud Kolmars Gedichtzyklus „Bild der Rose. Ein Beet Sonette“. In: Die Gartenkunst12 (2/2000), S.198–202.
Annegret Schumann: „Bilderrätsel“ statt Heimatlyrik. Bild und Identität in Gertrud Kolmars Gedichtsammlung „Das preußische Wappenbuch“. Iudicium, München 2002, ISBN 3-89129-666-5.
Marion Brandt: „Mehr als ein seltsam belebtes Bild – und weniger als eine Zauberin“. Über Gertrud Kolmar. In: Walter Fähnders u. Helga Karrenbrock (Hrsg.) Autorinnen der Weimarer Republik. Bielefeld 2003, S. 59–77.
Cornelia Naumann: Liebe Trude, Schauspiel. Litag Theaterverlag München; UA Teamtheater, München 2003.
Simon Schiller: Kaddisch – Totengebet für Gertrud Kolmar, Theaterstück. Nonnenberg, Engelthal 2004, ISBN 3-00-014618-0,
Sibylle Quack: Cora Berliner, Gertrud Kolmar, Hannah Arendt. Straßen am „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ ehren ihr Andenken. Hentrich, Berlin 2005 (Reihe: Jüdische Miniaturen 33), ISBN 3-938485-12-4.
Friederike Heimann: Beziehung und Bruch in der Poetik Gertrud Kolmars. Verborgene deutsch-jüdische Diskurse im Gedicht. De Gruyter, Berlin/Boston 2012, ISBN 978-3-11-029722-5.
Chryssoula Kambas (Hrsg.): Sand in den Schuhen Kommender. Gertrud Kolmars Werk im Dialog. Wallstein, Göttingen 2012, ISBN 978-3-8353-1031-5.
Regina Nörtemann, Vera Viehöver (Hrsg.): Kolmar übersetzen. Studien zum Problem der Lyrikübertragung. Wallstein, Göttingen 2013, ISBN 978-3-8353-1347-7.
Ilse Nagelschmidt, Almut Constanze Nickel, Jochanan Trilse-Finkelstein (Hrsg.): Dichten wider die Unzeit. Textkritische Beiträge zu Gertrud Kolmar. Lang, Frankfurt a.M. 2013, ISBN 978-3-631-62814-0.
Peter Sühring, Robespierre, Chodziesner, Benjamin, Wenzel: Personenkonstellationen um Gertrud Kolmar. Engführungen des Familiären, Poetischen, Politischen und Religiösen. in: Brouillon. Magazin der Unterhaltung und des Wissens, abgerufen am 27. März 2018.
Jüdische Metamorphosen, Ein Treffen des Dichters Mati Shemoelof zwischen dem Dichter Ronen Altman Kedar und Gertrude Kolmar, 2020
Wenzel, Hilde. In: Ernst Fischer: Verleger, Buchhändler & Antiquare aus Deutschland und Österreich in der Emigration nach 1933: Ein biographisches Handbuch. 2. Auflage. Berlin: De Gruyter, 2020, S. 548