Ferruccio Busoni war das einzige Kind eines italienischen Klarinettenvirtuosen und einer deutschstämmigen Pianistin aus Triest.[1] Ferruccio wuchs zweisprachig auf. Seinen ersten Unterricht erhielt er von seinen Eltern, die seine frühe Karriere vorantrieben und seine Auftritte vermarkteten. Bereits im Alter von sieben Jahren begann Busoni Klavierstücke zu komponieren – die ersten acht Werke im Busoni-Verzeichnis (BV) entstanden im Zeitraum Juni bis Oktober 1873. Im November 1873 gab er in Triest sein Debüt als Pianist mit Stücken von Mozart, Schumann und Clementi.[2] 1875 trat er erstmals als Solist eines Klavierkonzerts auf (Mozarts 24. Klavierkonzert).[3] Im Alter von neun bis elf Jahren studierte er am Wiener Konservatorium. Er komponierte weiterhin fleißig: In den vier Jahren 1875 bis 1878 entstanden die Werke BV15 bis BV98, darunter im März 1878 das viersätzige Konzert für Klavier und Streichquartett in d-Moll op.17 (BV80). 1881 wurde er im Alter von fünfzehn Jahren Mitglied der Accademia Filarmonica in Bologna.
Nach einer weiteren Station in Boston (1891 bis 1894) ließ sich Busoni 1894 in Berlin nieder. Von spätestens 1899[5] wohnte er in der Augsburger Straße55 (heute 33) und ab 1908[6] in Berlin-Schöneberg im fünften Stockwerk des Gebäudes Viktoria-Luise-Platz11; an beiden Häusern erinnern Gedenktafeln an ihn.[7] Er blieb italienischer Staatsbürger. Italien kündigte nach der Unterzeichnung des geheimen Londoner Vertrages am 4. Mai 1915 den Dreibundvertrag und trat am 23. Mai 1915 auf der Seite der Entente in den Ersten Weltkrieg ein. Busoni wurde dadurch zum „feindlichen Ausländer“ und zog deshalb nach Zürich.[8]
1920 kehrte Busoni nach Berlin zurück und übernahm eine Meisterklasse für Komposition an der Akademie der Künste.[4] Er bezog wieder seine Wohnung am Viktoria-Luise-Platz. Hier hatte er eine Bibliothek mit 5000 Büchern, darunter 53 Bände mit Werken von E. T. A. Hoffmann und 176 Cervantes-Bände.[9]
Infolge der Inflation verlor Busoni sein gesamtes Geldvermögen. Seine Gesundheit litt unter der langjährigen Abhängigkeit von Wein und Zigarren. Er ignorierte die Warnung eines Arztes, der ihm Alkohol und Nikotin verbieten wollte. Sein Freund Jakob Wassermann, der ihm im Dezember 1922 zum letzten Mal begegnete, als Busoni 56 Jahre alt war, erinnerte sich an ihn als einen Greis mit „zerwühltem“ Gesicht und schneeweißem Haar.[9]
„Dieser hochgebildete Komponist und Virtuose ... verkörperte in seiner äußeren Erscheinung wie in der geistigen Kapazität so etwas wie das Idealbild eines Künstlers.“
– Helmut Wirth:Max Reger in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 42.
Charakteristik
Das Frühwerk Busonis zeigt den romantischen Hintergrund von Komponisten wie Schumann, Chopin und Mendelssohn, später auch Johannes Brahms, dem er zunächst mit respektvoller Distanz begegnete und dessen f-Moll-Sonate er 1884 im Beisein des Kritikers Eduard Hanslick in Wien spielte. Der Einfluss der Händel-Variationen lässt sich in Busonis frühen Chopin-Variationen op. 22 (BV 213) nachweisen; in dem von Max Reger gelobten Konzertstück op. 31 a (BV 236) von 1890 ist Brahms ebenfalls hörbar.[10]
Wie kein anderer Komponist bestimmte hingegen Johann Sebastian Bach die pianistische und kompositorisch-künstlerische Entwicklung Busonis, der später die Gesamtausgabe seines Klavierwerks bei Breitkopf & Härtel betreute und mit Anmerkungen versah. Die Bedeutung Bachs, der ebenfalls eigene und fremde Werke bearbeitete, zeigt sich in der kontrapunktischen Struktur vieler Kompositionen sowie in zahlreichen Transkriptionen. Die Schwierigkeit einiger Bach-Bearbeitungen ist den hohen Anforderungen und Klangvorstellungen Busonis geschuldet, der die Ausgangskompositionen auf das Niveau eines Virtuosen heben wollte. So wurde seine Fantasia contrappuntistica als Versuch gewertet, Bachs vermutlich als Quadrupelfuge konzipiertes Werk „zu Ende zu denken“ und das Klavier dabei „zu vergessen“.[11] Der Kritik an seinen zahlreichen Änderungen, Varianten und Erweiterungen erwiderte Busoni, dass er stets den schöpferischen Gedanken für vollkommen halte, nicht aber dessen musikalische oder satztechnische Umsetzung.
Bereits mit seinen zwischen 1907 und 1909 geschriebenen Elegien BV 249 zeigt sich ein Neubeginn seiner Entwicklung, was von Busoni selbst so gedeutet wurde, als er angab, in ihnen sein „ganz persönliches Gesicht“ aufgesetzt zu haben.[10] Mit ihrer erweiterten Tonalität und den stellenweise bitonalen Ansätzen gehen sie über die gebräuchliche Funktionsharmonik der Zeit ebenso hinaus wie die Sonatinen, in denen sich ebenfalls bitonale Strukturen finden.[12]
Kompositionen und Bearbeitungen (Auswahl)
Thematisch-chronologisch geordnet wurden die Werke Ferruccio Busonis im Kindermannverzeichnis (KiV), das auch Busoni-Verzeichnis (BV) genannt wird.
Indianische Fantasie für Klavier und Orchester op. 44 (UA: Berlin 1914)
Zwei Kontrapunktstudien nach Johann Sebastian Bach (UA: 1917)
Concertino für Klarinette und kleines Orchester op. 48 (UA: Zürich 1918)
Divertimento für Flöte und Orchester op. 52 (UA: Berlin 1921)
Schriften
Musiktheoretische Schriften
Busonis musiktheoretische Schrift Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst von 1907 enthält Überlegungen zu neuen Tonskalen, Sechsteltonsystemen und erste Ahnungen der Möglichkeiten elektrisch erzeugter Klänge. Die Veröffentlichung der überarbeiteten Fassung im Jahr 1916 löste heftige Kontroversen aus. Der konservative Wagner-VerehrerHans Pfitzner reagierte 1917 mit seiner polemischen Schrift Futuristengefahr.
Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, 1907. Kritische Online-Ausgabe der Humboldt-Universität zu Berlin.
1966 stiftete das Berliner Komitee der Società Dante Alighieri zum 100. Geburtstag des Komponisten die Gedenktafel an dem Gebäude in Berlin-Schöneberg, in dem Busoni zuletzt gewohnt hatte.
Kurt Weill: Busoni und die neue Musik. In: Kurt Weill: Ausgewählte Schriften. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975, ISBN 3-518-06785-0, ISBN 978-3-518-06785-7, S. 19–21.
Jürgen Kindermann: Thematisch-chronologisches Verzeichnis der musikalischen Werke von Ferruccio B. Busoni (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Band 19). Gustav Bosse, Regensburg 1980, ISBN 3-7649-2033-5.
Antony Beaumont: Busoni the Composer. Indiana University Press, Bloomington 1985, ISBN 0-253-31270-1.
Antony Beaumont: Busoni: Selected Letters. 1986.
Larry Sitsky: Busoni and the Piano: The Works, the Writings, and the Recordings. Greenwood Press, New York / Westport, Conn./ London 1986, ISBN 0-313-23671-2.
Albrecht Riethmüller: Ferruccio Busonis Poetik (= Neue Studien zur Musikwissenschaft. Band 4). Mainz 1988, ISBN 3-7957-1723-X.
Marc-André Roberge: Ferruccio Busoni: A Bio-Bibliography. Greenwood Press, New York / Westport, Conn./London 1991, ISBN 0-313-25587-3.
Joseph Willimann: Der Briefwechsel zwischen Ferruccio Busoni und Volkmar Andreae, 1907–1923. – Verlag Hug & Co, Zürich 1994. – (Neujahrsblatt der Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich. 178), darin S. 14–16 auch über das Verhältnis von Busoni zu Othmar Schoeck.
Martina Weindel: Ferruccio Busonis Ästhetik in seinen Briefen und Schriften (= Veröffentlichungen zur Musikforschung. Band 18). Wilhelmshaven 1996, ISBN 3-7959-0692-X.
Martina Weindel (Hrsg.), Gottfried Galston: Kalendernotizen über Ferruccio Busoni. Wilhelmshaven 2000, ISBN 3-7959-0792-6.
Busoni. Freiheit für die Tonkunst! Publikation zur Ausstellung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, der Kunstbibliothek – Staatliche Museen zu Berlin und des Staatlichen Instituts für Musikforschung, 4. September 2016 – 8. Januar 2017, Kulturforum. Herausgegeben im Auftrag der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Bärenreiter, Kassel 2016, ISBN 978-3-7618-2436-8.
Die These von der vermeintlichen Existenz eines älteren Zwillingsbruders namens Federico Busoni beruht auf einem Aprilscherz im Zusammenhang mit einer Rundfunksendung anlässlich des 150.Geburtstages von Ferruccio Busoni (Deutschlandfunk, Kultur heute am 1.April 2016, 17:47Uhr. Titel des Beitrages: Der verschollene Zwillingsbruder).
Hans Jelmoli: Ferruccio Busonis Zürcher Jahre. Hug & Co., Zürich 1929 (Neujahrsblatt der Allgemeinen Musik-Gesellschaft in Zürich. 117). Im Anhang: Theaterzettel und Konzertprogramme 1916–1919.