Erzählung von Heinrich von Kleist (1810) Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Das Bettelweib von Locarno ist eine kurze Erzählung von Heinrich von Kleist. Zum ersten Mal wurde sie im zehnten von Kleists Berliner Abendblättern am 11. Oktober 1810 unter dem Kürzel „mz“ publiziert,[1] 1811 dann in den zweiten Band der Erzählungen aufgenommen (Abb. rechts).
An der Textoberfläche erscheint Das Bettelweib von Locarno als recht harmlose Gespenstergeschichte nach der Mode der Zeit: Ein Bettelweib erhält von einer Marquise Obdach in einem Zimmer, wird vom Marchese jedoch hinter den Ofen befohlen. Auf dem Weg dorthin stürzt das Bettelweib aber und verletzt sich so schwer, dass es den Weg hinter den Ofen nur unter Ächzen schafft und dort stirbt.
Jahre später will der inzwischen finanziell angeschlagene Marchese sein Schloss an einen interessierten Ritter verkaufen. Dieser übernachtet in besagtem Zimmer, muss aber bestürzt erfahren, dass es dort geräuschvoll spukt. Etwas Unsichtbares habe sich in einer Ecke erhoben und sei mit schweren Schritten hinter den Ofen gegangen, um dort zusammenzubrechen. Der Ritter reist am nächsten Morgen umgehend ab.
Um Gerüchte zu zerstreuen, die den Verkauf des Schlosses behindern, will der Marchese der Sache nun selbst nachgehen, auch er hört darauf die mitternächtlichen Geräusche. Eine weitere Nacht – nun mit der Marquise und einem Bediensteten – lässt alle drei den Spuk erfahren. Die nächste Nacht verbringen der Marchese und die Marquise mit einem Kettenhund an ihrer Seite in dem Zimmer. Als der Hund vor dem erneut auftretenden Spuk zurückweicht, flieht die Marquise; der Marchese versucht vergebens, den unsichtbaren Gegner mit seinem Degen zu bekämpfen, er zündet das Zimmer an: „Der Marchese, von Entsetzen überreizt, hatte eine Kerze genommen, und dasselbe, überall mit Holz getäfelt wie es war, an allen vier Ecken, müde seines Lebens, angesteckt. Vergebens schickte sie Leute hinein, den Unglücklichen zu retten; er war auf die elendiglichste Weise bereits umgekommen, und noch jetzt liegen, von den Landleuten zusammengetragen, seine weißen Gebeine in dem Winkel des Zimmers, von welchem er das Bettelweib von Locarno hatte aufstehen heißen.“[2] (Schluss)
In einem Brief machte sich Kleist Jahre vor der Entstehung der Erzählung Das Bettelweib von Locarno über die Bibliothek Würzburg lustig; dort seien nämlich ausschließlich „lauter Rittergeschichten, rechts die Rittergeschichten mit Gespenstern, links ohne Gespenster“ anzutreffen (an Wilhelmine von Zenge, 14. Sept. 1800, Unterstreichungen im Original).[3] Angesichts dieses Zeugnisses darf man annehmen, dass Kleist mit dem Bettelweib trotz der Publikation in den breitenwirksamen Berliner Abendblättern keine ausschließlich der romantischen Unterhaltung dienende Gruselgeschichte vorschwebte.
Stattdessen lässt Kleist den Erzähler sich in zahlreiche Widersprüche verwickeln, die allerdings von den Lesern – meist unwillkürlich – aufgelöst werden; so erscheint die „Brüchigkeit als Erzählprinzip“ (Pastor; Leroy). Hier nur einige Beispiele:[4]
Es bettelt eigentlich nur, wird aber durch die Marquise untergebracht, dies zwar im stattlichsten Zimmer des Schlosses (denn dort wird auch der kaufwillige Ritter untergebracht), dort muss sich das Bettelweib dann aber auf einem Strohhaufen niederlassen.
Der Raum befindet sich mindestens im ersten Stockwerk, was das Handeln der Marquise gegenüber einer alten, gehschwachen Frau ebenfalls fragwürdig macht.
Es wird nicht klar, warum der Marchese das Bettelweib überhaupt hinter den Ofen schickt; sein Unwille beim Anblick des Bettelweibs könnte sich auch gegen die Marquise gerichtet haben.
Der Ritter wird im „leerstehenden Zimmer, das sehr schön und prächtig eingerichtet war“, untergebracht.
Der Sturz des Bettelweibs, der ja eigentlich zu seinem Tod geführt hat, bleibt in den Spuk-Geräuschen aus.
Es ist nicht klar, warum der Marchese und die Marquise eine weitere Nacht den Spuk überprüfen wollen.
Die Sorge der Marquise um den Marchese am Schluss ist inkonsequent, um ein Begräbnis des Verstorbenen kümmert sich niemand mehr.
Wie können die Knochen des Marchese in einem zerstörten Schloss in einem oberen Stockwerk zu liegen kommen?
…usw.
Entsprechend den vielen Widersinnigkeiten des Textes gibt es zahlreiche, sich teilweise diametral widersprechende Interpretationsmöglichkeiten.
Typisch für Kleist ist die Konsequenz, mit der die Erzählung endet: Der Tod des Marcheses in Überreizung (Wahnsinn) und Lebensmüdigkeit ist unter Umständen zwar scheinbar selbst verschuldet, letztlich aber unausweichlich.
Sozialkritische Lesarten
Der Adel wird kritisiert, weil er seine soziale Verantwortung nicht wahrnimmt. Er wird deshalb von den „Gespenstern“ seiner Schuld heimgesucht. Das Bettelweib ist demnach ausgeglitten, weil der Marchese das Gesetz des Repräsentationszimmers über den gebotenen Einzelfall – Nächstenliebe einer Bedürftigen gegenüber – gestellt hat. Die Spukerscheinung taucht erst dann auf, als der Marchese selbst zum Bedürftigen wird und sein Schloss verkaufen muss.
Der Adel wird insofern kritisiert, als er seinen angestammten Aufgaben nicht nachkommt:[5] Der Marchese und die Marquise, deren zu große Distanz zueinander schon in den sprachlich unterschiedlichen Benennungen sichtbar wird, die sich auch anhand getrennter Betten und Zimmer aufzeigen lässt, sorgen selbst schon für das Aussterben ihres Geschlechts. Der Hund ist ungenügender Kinderersatz: Er wird ins Zimmer gelassen, weil die beiden „etwas Drittes, Lebendiges“ bei sich haben wollen. Der erste Spuk ereignet sich in dem Moment, als das Schloss verkauft werden muss, weil die Vermögensumstände „durch Krieg und Mißwachs“, also durch Verletzung ökonomischer Sorgfaltspflichten, ins Ungleichgewicht geraten sind.
Psychologische Lesarten
Die Schuld (Urszene) setzt einen vernichtenden Wiederholungszwang in Gang.[6]
Als der Spuk aus seiner Latenz heraustritt, setzt er den Selbstzerstörungstrieb in Gang.
In dem Maß, als der Marchese den Spuk kontrollieren will, verfällt er ihm.
Sobald der Marchese dem Spuk in der letzten Nacht mit dem Zuruf „Wer da?“, der einzigen direkten Rede der Erzählung, auf den Grund gehen will und keine Antwort erhält, scheint sein Schicksal besiegelt zu sein. In ShakespearesTragödieHamlet, die mit ebendiesen Worten beginnt und in der ein Geist und der Wahnsinn ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, fällt die Frage nach der Identität auf den Fragenden zurück:[7] „Nein, gebt Antwort: Halt, und sagt wer ihr seyd.“[8]
So wie der Marchese sich nicht mehr an die Episode mit dem Bettelweib zu erinnern scheint, wird auch er am Schluss vergessen.[9]
Zum Fantastischen
Der Text zeigt nicht deutlich, dass die Spukerscheinung in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Vorfall um das Bettelweib steht. In den Spuknächten wird von „einem Geräusch“ berichtet, das in dem Zimmer zu hören sei. Der Spuk in dem Zimmer wird als „unbegreiflich“ oder „gespensterartig“ beschrieben (dazu Pastor; Leroy: niemand würde vom Donner sagen, er sei donnerartig).
Der Spuk scheint – da kein Verursacher auszumachen ist – zwar nicht mit den Naturgesetzen vereinbar, dennoch ist das Geräusch hörbar, also in Grenzen den Naturgesetzen unterworfen. Dass es sich bei dem Spuk um ein Phantasma handelt, wird durch die verschiedenen Zeugen und die Reaktion des Hundes, im Volksglauben als geistersichtig beschrieben, ausgeschlossen. Der Schwebezustand zwischen Natürlichem und Übernatürlichem entspricht dem Wesen des Fantastischen und kann als strukturelle Analogie zum Schwebezustand im Erzähldiskurs (Widerspruch zwischen Erzählerstimme und Erzähltem) gesehen werden.[10]
Nach der Familienchronik derer von Pfuel liegt der Erzählung ein Erlebnis zugrunde, das Friedrich von Pfuel, Bruder des engen Kleist-Freundes Ernst von Pfuel, in Gielsdorf bei seinem Onkel passiert war und das er bei einem Aufenthalt in Berlin Kleist erzählt hatte.[11][12] Diese Angabe wurde durch die Kleist-Forschung, unter anderem den Kleist-Forscher Helmut Sembdner, bestätigt.[13][14]
Als Herausgeber (Heinrich von Kleist’s ausgewählte Schriften ) äußert sich Ludwig Tieck ratlos: „Die Darstellung ist trefflich, aber nach meiner Einsicht ist sie weder Gespenstergeschichte, Märchen, noch Novelle.“
Theodor Fontane stellte fest, dass das begangene Unrecht für eine moralische Erzählung viel zu klein sei.
Joseph von Eichendorff war 1846 überzeugter: „Wo gibt es in unserer ganzen poetischen Literatur etwas Verzweiflungsvolleres als die kleine, fast epigrammatisch-grausenhafte Erzählung vom ‚Bettelweib von Locarno‘?“
In: Berliner Abendblätter. Hrsg. von Heinrich von Kleist. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1.X.1810 bis 30.III.1811. Nachwort und Quellenregister von Helmut Sembdner. Darmstadt 1982. Diesem reprografischen Nachdruck liegt folgende Ausgabe zugrunde: Berliner Abendblätter (1.X.1810 bis 30.III.1811). Heinrich von Kleist. Mit einem Nachwort von Georg Minde-Pouet. Leipzig 1925 (=Faksimiledrucke literarischer Seltenheiten,2).
Heinrich von Kleist: Sämtliche Erzählungen. Wilhelm Goldmann Verlag, München 1980, ISBN 3-442-07532-7.
Heinrich von Kleist: Das Bettelweib von Locarno. In: Sämtliche Werke und Briefe,3: Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften. Hrsg.: Klaus Müller-Salget. Frankfurt am Main 1990 (= Bibliothek deutscher Klassiker.51). ISBN 978-3-618-60963-6, S.261–264.
Heinrich von Kleist: Das Bettelweib von Locarno. In: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg.: Helmut Sembdner. dtv, München 2001, ISBN 978-3-423-12919-0.
Hermann Bühlbacher: Heinrich von Kleist: Von einstürzender Architektur und der „gebrechlichen Einrichtung der Welt“: Ruinen und Spuk. Das Bettelweib von Locarno. In: Ders.: Konstruktive Zerstörungen. Ruinendarstellungen in der Literatur zwischen 1774 und 1832. Bielefeld 1999, S.183–189.
Bernhard Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen. Experimente zum „Fall“ der Kunst. Uni-Taschenbücher, Tübingen / Basel 2000, ISBN 3-8252-2129-6, S.315–326.
Kevin Hilliard: „Rittergeschichte mit Gespenst“: The Narration of the Subconscious in Kleist’s „Das Bettelweib von Locarno“. In: German Life and Letters. N.S. 44/4 (1991), S.281–290.
Dirk Jürgens: „…und nach Zusammenraffung einiger Sachen.“ Kleists „Bettelweib von Locarno“. In: Beiträge zur Kleist-Forschung. 2001. ISBN 3-9807802-0-1.
Gerhard Oberlin: Der Erzähler als Amateur. Fingiertes Erzählen und Surrealität in Kleists „Bettelweib von Locarno“. In: Kleist-Jahrbuch. Stuttgart / Weimar 2006, ISBN 978-3-476-02159-5, S.100–119.
Eckart Pastor, Robert Leroy: Die Brüchigkeit als Erzählprinzip in Kleists „Bettelweib von Locarno“. In: Etudes Germaniques. 34 (1979), S.164–175.
Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche. Darmstadt 2003, ISBN 978-3-534-15712-9.
Emil Staiger: Heinrich von Kleist. „Das Bettelweib von Locarno.“ Zum Problem des dramatischen Stils. In: Deutsche Vierteljahresschrift. 20 (1942), S.116ff.
Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hrsg. Roland Reuß, Peter Staengle. Bd.4/1: Briefe1, März 1793 – April 1801. Basel / Frankfurt am Main 1996, S.294.
Bernhard von Gersdorff:Ernst von Pfuel: Freund Heinrich von Kleists, General, preussischer Ministerpräsident, 1848. Stapp, Berlin 1981, ISBN 3-87776-154-2, S.45.
DieterWeber: Gespenstergeschichten aus dreihundert Jahren. Anaconda Verlag, 2017, ISBN 978-3-7306-9166-3, S.298 (google.de[abgerufen am 30.April 2021]).