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geschichtliche Epoche Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Atomzeitalter wird die geschichtliche Epoche genannt, die im Wesentlichen durch friedliche und militärische Nutzung der Kernenergie gekennzeichnet ist und mit der Entdeckung der Kernspaltung des Uranatoms durch Otto Hahn, Fritz Straßmann und Lise Meitner (1938) und dem ersten Einsatz einer Atombombe (1945) begann. Der Kalte Krieg war geprägt von nuklearer Abschreckung und dem Wettrüsten zwischen den Atommächten USA und UdSSR. Mit dem Bau von Kernkraftwerken schien eine neue, nahezu unerschöpfliche Energiequelle erschlossen. Je mehr jedoch über die Risiken der Kernenergie bekannt wurde, umso mehr wichen die anfänglichen Sorglosigkeit und Euphorie einer zunehmenden Skepsis bis hin zur Ablehnung.
Allerdings gibt es in Teilen der Bevölkerung in den 2020er Jahren, vor allem angesichts des sich verschärfenden Klimawandels, eine Renaissance der Akzeptanz der Kernenergie als Alternative zur fossilen Energie. Die Befragung für das „Eurobarometer“ wurde vor dem Russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 und der dadurch ausgelösten Knappheit an und Verteuerung von Erdöl und Erdgas durchgeführt.[1]
Datum | Ort | Ereignis |
---|---|---|
1789 | Berlin | Martin Heinrich Klaproth entdeckt in Torbernit und Pechblende ein neues chemisches Element und benennt es nach dem kurz zuvor entdeckten Planeten Uran |
1. März 1896 | Paris | Henri Becquerel entdeckt die Radioaktivität von Uran. |
21. Dezember 1898 | Paris | Marie und Pierre Curie entdecken bei Untersuchungen von Pechblende das ebenfalls radioaktive Element Radium. |
19. August 1904 | Massachusetts Institute of Technology | Samuel Prescott veröffentlicht eine Arbeit über die bakterizide Wirkung radioaktiver Strahlung wie sie von Radium ausgeht. Die Grundlage für Lebensmittelbestrahlung und Sterilisation mittels ionisierender Strahlung ist gelegt. |
1906 | Sankt Joachimsthal, Böhmen (heute Jáchymov) | Das erste „Radiumbad“ eröffnet. Binnen weniger Jahre werben verschiedene – bestehende und neue – Kurorte mit der Radioaktivität ihrer Luft oder Wässer. Ob die behauptete Wirkung über den Placeboeffekt hinaus geht, ist bis heute nicht bewiesen. |
1909 | Manchester (?) | Ernest Rutherford entdeckt den Atomkern durch Beschuss einer Goldfolie mit Alphateilchen. |
1913 | England | Henry Moseley demonstriert im Labormaßstab das Prinzip der Radionuklidbatterie anhand von Radium. Dies ist der erste praktische Vorschlag zur energetischen Nutzung radioaktiver Prozesse. |
1920er Jahre | USA | Der Fall der Radium Girls macht die schädliche Wirkung der Inkorporation größerer Mengen von Radium einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Der Arbeitsschutz beim Umgang mit radioaktiven Stoffen wird erstmals öffentlich diskutiert. |
1923 | Kopenhagen | George de Hevesy entwickelt die Tracermethode, welche bis heute in der Nuklearmedizin und Diagnostik Einsatz findet. |
1926 | Hermann J. Muller gelingt der Nachweis, dass ionisierende Strahlung in hohen Dosen Mutationen auslösen kann. Damit ist klar, dass Radioaktivität erbschädigend und krebserregend wirkt. | |
Februar 1932 | Cambridge | James Chadwick weist als erster die Existenz des Neutrons nach. Das neu entdeckte Teilchen erklärt Isotope und führt zu einer Serie von Experimenten, bei denen Atomkerne mit Neutronen beschossen werden, um diese radioaktiv zu machen. |
31. März 1932 | Pittsburgh | Der Industrielle Eben Byers stirbt an den Folgen des jahrelangen Konsums der pseudowissenschaftlichen „Medizin“ Radithor, deren wirksame Substanz radioaktives Radium war |
14. April 1932 | Cambridge | Ernest Walton und John Cockcroft bombardieren Lithium mit Protonen und erzeugen dabei Alphateilchen – in heutiger Schreibweise 7Li(p,α)4He. Die damalige Presse spricht von „splitting the atom“ (= das Atom spalten). |
12. September 1933 | London | Angeregt durch einen Artikel in der Times, welcher die Praktikabilität der Energiegewinnung mittels des Experiments von Cockcroft und Walton verneint, entwickelt Leo Szilard ein Gedankenexperiment, welches eine nukleare Kettenreaktion beinhaltet. Er meldet daraufhin einen Kernreaktor zum Patent an und erhält selbiges 1936. |
1934 | Rom | Enrico Fermi führt Experimente durch, bei denen Uran mit Neutronen bombardiert wird. Die auftretenden radioaktiven Produkte hält er fälschlicherweise für Transurane. Er erhält mit dieser irrigen Begründung den Physiknobelpreis 1938. Tatsächlich waren die von Fermi beobachten radioaktiven Substanzen Spaltprodukte. Zum Nachweis ebenfalls entstehender Transurane war sein Versuchsaufbau nicht in der Lage. |
17. Dezember 1938 | Berlin | Entdeckung der Kernspaltung durch Otto Hahn und Fritz Straßmann; theoretische Erklärung durch Lise Meitner und Otto Frisch im folgenden Jahr. |
2. August 1939 | - | Albert Einstein und Leo Szilard drängen den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt in einem Brief, die Entwicklung einer Atombombe aufzunehmen, um den Nazis in Deutschland zuvorzukommen. |
14. Dezember 1940 | Berkeley | Physikern der University of California gelingt erstmals der Nachweis des Elements Plutonium, welches durch Beschuss von Uran mit Deuteronen erzeugt wurde. |
Januar 1941 | Boston | Saul Hertz verabreicht einem Patienten, der an Morbus Basedow leidet, radioaktives 131I. Die Behandlung verläuft erfolgreich und ist noch heute in ähnlicher Form als Radiojodtherapie im Einsatz. |
1942–1945 | Los Alamos | Unter der Leitung von J. Robert Oppenheimer wird im Rahmen des Manhattan-Projekts die erste Atombombe entwickelt. |
2. Dezember 1942 | Chicago | Der erste menschengemachte Kernreaktor der Welt, Chicago Pile 1, wird kritisch. |
23. April 1945 | Haigerloch | Im Rahmen der Alsos-Mission entdecken amerikanische Soldaten den Forschungsreaktor Haigerloch, den letzten gescheiterten Versuch des Uranvereins, Kritikalität zu erreichen. Wenige Tage später werden die beteiligten Forscher gefangen genommen und in Farm Hall interniert, um den Stand des deutschen Kernwaffenprojekts durch Abhören der Beteiligten zu ergründen. |
16. Juli 1945 | White Sands Proving Ground, New Mexico | Erste Zündung einer Atombombe: Trinity-Test. |
6. August 1945 und 9. August 1945 | Hiroshima und Nagasaki | Erster militärischer Einsatz von Atombomben. Weit über 200.000 Menschen sterben direkt oder an den Spätfolgen der Atombombenabwürfe. |
1946–1990 | Erzgebirge | Die Wismut baut insgesamt über 200'000 Tonnen Uran ab, von denen ein Großteil in die UdSSR geliefert wird, und dort sowohl zivilen als auch militärischen Zwecken dient. |
29. August 1949 | Semipalatinsk | Die erste sowjetische Atombombe wird gezündet. Damit beginnt das atomare Wettrüsten. |
27. Oktober 1951 | London, Ontario | Zum ersten Mal wird eine Kobaltkanone in der Krebstherapie eingesetzt. |
20. Dezember 1951 | Idaho National Laboratory | Der Experimental Breeder Reactor I erzeugt genug Strom um (zu Demonstrationszwecken) vier Glühbirnen zum Leuchten zu bringen. Eine Einspeisung in öffentliche Stromnetze erfolgt jedoch nicht. |
1. November 1952 | Enewetak Atoll | Der erste Test einer Wasserstoffbombe („Ivy Mike“) mit 10,4 Mt TNT Sprengkraft, rund 700mal stärker als die Hiroshima-Bombe. |
21. Januar 1954 | Groton (Connecticut) | Stapellauf der USS Nautilus (SSN-571), des ersten nuklear angetriebenen U-Boots der Welt. |
26. Juni 1954 | Obninsk | Inbetriebnahme des ersten kommerziellen Atomkraftwerks mit einer Leistung von 6 MW. |
29. Juli 1957 | Wien | Die IAEO nimmt ihre Arbeit auf. Sie soll die friedliche Nutzung der Kernenergie fördern und überwachen und insbesondere die Proliferation von Kernwaffen verhindern. |
31. Oktober 1957 | Garching bei München | Der Forschungsreaktor München geht in Betrieb. Er ist der erste Kernreaktor in Deutschland, welcher Kritikalität erreicht. |
1958 | Stuttgart | Lebensmittelbestrahlung wird weltweit erstmals kommerziell eingesetzt – in diesem Fall zur Haltbarmachung von Gewürzen, welche nach wie vor die Anwendung ist, welche in Europa am meisten im Handel zu finden ist. |
30. Oktober 1961 | Nowaja Semilja | Bis heute heftigste nukleare Explosion: Die sowjetische Zar-Bombe mit einer Sprengkraft von mindestens 50 Mt TNT (entsprechend über 3300 Hirsohima-Bomben). |
14. bis 28. Oktober 1962 | Kuba | Der Versuch der Sowjetunion, auf Kuba nukleare Mittelstreckenraketen zu stationieren, löst die Kuba-Krise aus, die die Welt bis an den Rand eines Atomkriegs führt. |
10. Oktober 1963 | Moskau | Ein erstes Abkommen verbietet Atomtests im Wasser, in der Atmosphäre und im Weltall. |
1974 | Frankreich | Premierminister Pierre Messmer verkündet in Folge der Ölkrise ein Bauprogramm für Kernkraftwerke, welches als „Messmer-Plan“ in die Geschichtsbücher eingeht. Bis 1989 gehen 56 neue Reaktoren in Betrieb. Bis heute stammt ein großer der Elektrizität in Frankreich aus Kernkraft. |
1977 | Shippingport | am Kernkraftwerk Shippingport wird erstmals Thorium als Brutstoff verwendet. Als fünf Jahre später der Brennstoff entnommen wird, enthält er mehr spaltbares Material als zu Beginn des Brennstoffzyklus. Die Brutzahl dieses thermischen Brutreaktors war also größer als 1. |
28. März 1979 | Harrisburg | Im Kernkraftwerk Three Mile Island kommt es zu einem Reaktorunfall, der zu einer teilweisen Kernschmelze führt. Verletzte oder Todesfälle sind am Unfalltag nicht zu beklagen, doch die unzureichende Kommunikation öffentlicher Stellen und sensationslüsterne Presseberichterstattung führen zu Verunsicherung der Bevölkerung. |
1980 | Berkeley | Einem Team um Nobelpreisträger Glenn Seaborg gelingt es, mittels kernphysikalischer Methoden, einige tausend Atome des Elements Bismuth in Gold zu transmutieren |
26. April 1986 | Tschernobyl | Die Explosion eines Kernreaktors im Kernkraftwerk Tschernobyl setzt große Mengen Radioaktivität frei und verursacht eine Nuklearkatastrophe. Dies ist der bisher schlimmste Zwischenfall in der zivilen Nutzung der Kernenergie. Mehrere Mitarbeiter des Kraftwerks und der Betriebsfeuerwehr erleiden teils tödliche Verletzungen, Verbrennungen sowie die Strahlenkrankheit. |
2004 | Eurajoki, Finnland | Die Bauarbeiten für das weltweit erste tiefengeologische Endlager für „abgebrannten“ Brennstoff beginnen. |
11. März 2011 | Fukushima | Durch ein Erdbeben und einen anschließenden Tsunami werden in mehreren Blöcken des Kernkraftwerks Fukushima Kernschmelzen ausgelöst. |
30. Juni 2011 | Berlin | Der deutsche Bundestag beschließt den Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung. |
31. Dezember 2013 | Nanticoke, Ontario | Im Zuge des Kohleausstiegs der kanadischen Provinz Ontario geht das ehemals 4 GW Nennleistung besitzende Kohlekraftwerk Nanticoke vom Netz. Der Kohleausstieg wurde auch durch die (Wieder-)Inbetriebnahme von Kernkraftwerken an den Standorten Bruce und Darlington ermöglicht. |
1. Juni 2021 | Königstein | Die letzte Lieferung mit Uran aus dem Erzgebirge, welche im Zuge des Sanierungsbergbaus gewonnen wurde, verlässt den Betrieb. Damit endet der Uranbergbau in Deutschland. |
15. April 2023 | Deutschland | Mit der Abschaltung der letzten Kernkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland endet in Deutschland die Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung. |
16. April 2023 | Olkiluoto, Finnland | Block 3 des Kernkraftwerk Olkiluoto nimmt den kommerziellen Betrieb auf. Es ist das letzte Kernkraftwerk an dessen Bau Siemens in größerem Ausmaß beteiligt war. Gleichzeitig geht der Reaktortyp EPR in erheblichem Ausmaß auf Entwicklungen des Konvoi / Baulinie 80 der KWU zurück und wurde ursprünglich (auch) für den deutschen Markt entwickelt. |
Die Konrad-Adenauer-Stiftung unterscheidet zwischen drei „nuklearen Zeitaltern“. Als „erstes nukleares Zeitalter“ definiert die KAS den Zeitraum von 1945 bis 1991,[2] als „zweites nukleares Zeitalter“ den Zeitraum von 1991 bis 2014[3] und als „drittes nukleares Zeitalter“ den Zeitraum seit 2014.[4]
Die Stiftung fasst die Entwicklung seit 1991 mit den Worten zusammen: „Das zweite nukleare Zeitalter, das mit dem Ende des Kalten Krieges eingeläutet wurde, wurde von dem gemeinsamen Schreckgespenst ‚abtrünniger‘ nuklearer Akteure heimgesucht. […] Das dritte nukleare Zeitalter, das potenziell gefährlicher ist als seine Vorgänger, entstand vorwiegend abseits der hart erkämpften Abkommen, die im Kalten Krieg ein gewisses Maß an Sicherheit boten. In den neuen Strategien ist für die Nuklearwaffen keine Abschreckungsfunktion vorgesehen, und die Investitionen in ihre Modernisierung signalisieren, dass sich das auch in Zukunft wenig ändern wird. Geheimhaltung, Spaltung, weniger Zeit für Entscheidungen und eine höhere Unfallwahrscheinlichkeit kennzeichnen die Cyberwelt des dritten nuklearen Zeitalters. Beteuerungen, ein Atomkrieg könne nicht gewonnen werden und dürfe niemals geführt werden, wirken mittlerweile phrasenhaft.“
Atombomben richten Zerstörungen in einem vor dem Atomzeitalter unbekannten Ausmaß an. Die Energie wird in Form von Hitze, Druck und radioaktiver Strahlung wirksam. In einem weltweiten thermonuklearen Krieg würden ganze Kontinente mit Flächenbränden überzogen, die weltweit zu einem nuklearen Winter mit sonnenundurchlässigen Rauchwolken und Temperaturen unterhalb des Gefrierpunktes führen würden. Lebensmittelrationen etwaiger Überlebender könnten nach ihrem Verbrauch nicht (hinreichend) durch neue Ernten ersetzt werden, und die Überlebenden würden an der Erdoberfläche konstant einer hohen Strahlendosis ausgesetzt sein, die sie krank machen und ihr Erbgut schädigen würde. Ein langfristiges Überleben der Menschheit wäre damit ausgeschlossen. Die Aussage, ein globaler Atomkrieg führe zu einer „Vernichtung der Menschheit“ (nuklearer Holocaust), ist also keine übertriebene Befürchtung.
Mit dem „Gleichgewicht des Schreckens“, das seit 1949 bestand (dem Zeitpunkt der ersten Zündung einer sowjetischen Atombombe), wurden auch Hoffnungen verbunden. Der Politologe und Friedensforscher Klaus Jürgen Gantzel zieht diesbezüglich die Lehre des Militärtheoretikers Carl von Clausewitz heran und bemerkte, in Kriegen gehe es darum, dass der Stärkere in einem „erweiterte[n] Zweikampf“[5] den Schwächeren besiege, wonach jener diesem seinen Willen aufzwingen könne. Im Atomzeitalter jedoch sei unter den Bedingungen des atomaren Rüstungswettlaufs der Supermächte während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Overkill-Potential so groß geworden, dass die Menschheit bereits vernichtet wäre, bevor das Arsenal beider Seiten erschöpft wäre. Dadurch habe die Kategorie des Sieges ihren Sinn verloren; es gäbe keine Kriegsgewinner mehr und damit auch keinen Anreiz, einen Krieg zu beginnen. „Daß mit solchen Massenvernichtungswaffen keine Politik mehr zu machen sei, könnte als tiefere Einsicht hinter den Verabredungen zwischen Reagan und Gorbatschow am 10. Oktober 1986 in Reykjavik gestanden haben, mit denen sie das Ende des Ost-West-Konflikts und erste wirkliche Abrüstungsschritte einläuteten, was immer die unmittelbaren Interessen der beiden Supermachtführer und ihrer Berater gewesen sein mögen...“[6]
Die neue Dimension des Atomzeitalters besteht unter anderem darin, dass zwei Staaten, die beide Atomwaffen besitzen, nicht mehr auf das Instrument des Kräftemessens im Krieg gegeneinander zurückgreifen können, ohne das Risiko der raschen und völligen Vernichtung der eigenen Bevölkerung, wenn nicht der ganzen Menschheit in Kauf zu nehmen. Die auf der Konferenz von Jalta beschlossene Aufteilung der Welt, die sogenannte „bipolare“ (an den „Polen“ Washington und Moskau als Machtzentren orientierte) Welt, hatte während der Dauer des Kalten Krieges im Wesentlichen Bestand, was einige als Erfolg der atomaren Abschreckung,[7][8] andere als glücklichen Zufall bewerten.[9][10]
„atomwaffen a–z.info“ weist darauf hin, dass seit 1953 ständig das „nukleare Tabu“ von Politikern und Militärstrategen in Frage gestellt worden sei, wonach Atomwaffen nicht dem Zweck dienten, eingesetzt zu werden, sondern lediglich abschreckend wirken sollten.[11]
Das Ende des Kalten Krieges wurde durch den Abschluss des INF-Vertrags (des Washingtoner Vertrags über nukleare Mittelstreckensysteme) eingeleitet. Dieser Vertrag wurde am 8. Dezember 1987 von dem US-Präsidenten Ronald Reagan und Michail Gorbatschow, dem Generalsekretär der KPdSU, unterzeichnet; er trat am 1. Juni 1988 in Kraft. Mit dem Vertrag wurde die Abrüstung aller Mittelstreckenraketen der USA und der Sowjetunion mit einem Reichweitenbereich von 1000 bis 5500 Kilometer und aller Kurzstreckenraketen mit einem Reichweitenbereich von 500 bis 1000 Kilometer vereinbart.
Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und den begleitenden atomaren Abrüstungsinitiativen der seinerzeitigen Supermächte nahmen zunächst die Hoffnungen auf Vermeidung des atomaren Holocaust zu. Zusätzlich stimuliert wurden sie unmittelbar nach dem Amtsantritt des US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama, der das „Ziel einer Welt ohne Nuklearwaffen“ zu seinem Programm machte.[12] Für Präsident Obama rangierte 2009 unter allen internationalen Sicherheitsproblemen der Nuklearterrorismus auf Platz eins der internationalen Gefahrenliste.[13] 2007 hatten vier US-amerikanische Realpolitiker eine „nuklearwaffenfreie Welt“ gefordert, darunter der lange Zeit als „Falke“ geltende ehemalige Außenminister Henry Kissinger.[14] Michael Rühle stellte die Forderung 2008 in den Kontext eines von ihm erkannten „zweiten Nuklearzeitalters“. Dieses sei geprägt durch eine „Zunahme ‚virtueller‘ Nuklearmächte, die ihr ziviles Nuklearprogramm binnen kürzester Zeit militärisch nutzen können“, sowie durch die wirtschaftliche Globalisierung. So könne z. B. ein „Staat, der sich ganze Zentrifugen oder sogar Baupläne von Sprengköpfen beschaffen will,“ diese „auf dem Schwarzmarkt erwerben oder von anderen nuklearen Emporkömmlingen, etwa im Austausch gegen die Lieferung von eigenen ballistischen Raketen, erhalten.“[15]
Der nach dem Kalten Krieg begonnene Abrüstungsprozess ist 2014 praktisch vollständig zum Erliegen gekommen. Stattdessen hatten die Atommächte umfangreiche Modernisierungsprogramme begonnen, um neue, bessere Atomwaffen zu entwickeln und die Einsatzbereitschaft auf Jahrzehnte hin sicherzustellen.[16]
Frank Sauer, Forscher an der Universität der Bundeswehr München, hielt 2008 den Nichtgebrauch von Nuklearwaffen seit 1945 keineswegs für selbstverständlich, sondern für erklärungsbedürftig.[17] Insbesondere müsse geklärt werden, welche Folgen die Tatsache habe, dass die Welt seit 1990 nicht mehr an den „Polen“ Washington und Moskau ausgerichtet sei. Es sei wahrscheinlich, dass in einer Welt mit immer mehr Atommächten diese Waffen irgendwann eingesetzt werden. Mehr Kernwaffenstaaten führten zu einer größeren Gefahr unautorisierten Zugangs zu Waffen und waffenfähigem Material. Terrorgruppen, die über Kernwaffen verfügen, würden von deren Einsatz wahrscheinlich nicht abgehalten werden können.[18] 2009 stellte Andreas Herberg-Rothe fest: „Die Verhinderung des Atomkrieges steht seit dem Ende des Kalten Krieges wieder an erster Stelle der internationalen Politik.“[19] Das Risiko eines Atomkriegs geht Herberg-Rothe zufolge vor allem von kleinen Atommächten aus, die aus Angst vor dem Verlust ihrer Zweitschlagkapazität (sofern eine solche überhaupt gegeben ist) einen Erstschlag führen könnten.
2015 berichtete das Wissenschaftsmagazin „Spektrum der Wissenschaft“ über chinesische Modellrechnungen für den Fall eines Atomkriegs zwischen Indien und Pakistan. Dabei würden „nur“ 0,3 Prozent der weltweit verfügbaren Atomwaffen eingesetzt. Trotzdem würden in dem nicht unmittelbar von dem Krieg betroffenen China „die Reisproduktion um ein knappes Drittel, die von Mais um ein Fünftel und die von Weizen sogar um mehr als die Hälfte“ zurückgehen. Mindestens eine Milliarde Menschen weltweit würden akut vom Hungertod bedroht sein.[20] Im Jahr 2019 gewinnen solche „Gedankenspiele“ dadurch an Bedeutung, dass sich der seit Jahrzehnten schwelende Kaschmir-Konflikt deutlich verschärft hat. Pakistan und Indien könnten jeweils 140 bis 150 Atomsprengköpfe im Rahmen des Konflikts einsetzen.[21]
Im Frühjahr 2016 stellte Spiegel Online fest: „Der US-Präsident [Obama] will seine Vision einer Welt ohne Atomwaffen erneuern. Dabei ist sie längst gescheitert.“ Obama habe Nordkorea nicht daran hindern können, zur seinerzeit jüngsten Atommacht zu werden, obwohl ihm das im Fall des Iran gelungen sei.[22]
Einige Experten sahen bereits frühzeitig mit der Annexion der Krim 2014 ein neues Zeitalter anbrechen, das mit der Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine begonnen habe. Am 3. April 2014 kommentierte Jana Puglierin für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik die Lage. „Der erste Verlierer der Krim-Krise heißt internationale atomare Nichtverbreitung. Denn 1994 unterzeichnete die Ukraine mit Russland, den USA und Großbritannien das ‚Budapester Memorandum‘. Als Gegenleistung für den Verzicht auf die im Land stationierten sowjetischen Nuklearwaffen erklärten sich Russland, die USA und Großbritannien bereit, die Souveränität, die Grenzen und die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Ukraine zu achten.“ Puglierin bezweifelt, dass nach der Annexion der Krim je ein Staat wieder dazu bereit sein werde, Atomwaffen abzugeben oder deren Entwicklungsprogramme einzustellen, wenn völkerrechtlich verbindliche Verpflichtungen von Vertragspartnern nicht mehr eingehalten würden.[23]
Noch 2018 stellten jedoch Helmut W. Ganser, Wulf Lapins und Detlef Puhl fest, dass innerhalb der NATO ernsthaft über die Frage disputiert werde, ob nicht „eine dauerhafte europäische Sicherheitsarchitektur nur mit und nicht gegen Russland aufgebaut werden“ könne.[24]
Im Präsidentschaftswahlkampf 2016 soll Donald Trump die (rhetorische?) Frage gestellt haben: „Wenn wir Atomwaffen haben, warum setzen wir sie nicht ein?“[25] Donald Trump regte 2016 an, Japan und Südkorea sollten eigene Atomwaffen bauen (was zu einer Vergrößerung der Zahl der Atommächte führen würde). Als Präsident kündigte er den INF-Vertrag; er trat am 2. August 2019 außer Kraft.[26] Allerdings erschien in der Ära Trump der Iran-Konflikt als die gefährlichste Auseinandersetzung mit einer großen Wahrscheinlichkeit des Einsatzes von Atomwaffen neben dem Kaschmir-Konflikt.[27]
Bereits 2015 hatte „Spiegel Online“ in einem „Das nukleare Gespenst kehrt zurück“ betitelten Artikel die These aufgestellt, dass die Annexion der Krim 2014 durch Russland „die Nato und Russland in den Kalten Krieg zurückgeworfen“ habe. Die Zusammenarbeit bei der nuklearen Sicherheit sei eingestellt worden, und ein „Rotes Telefon“ gebe es nicht mehr.[28]
Einem Beitrag des „Spiegel“[29] im Februar 2020 zufolge interviewten Mitarbeiter des Stevens Institute of Communication 1500 US-Amerikaner. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in ihrem Leben einen Atomkrieg erleben würden, schätzten die Befragten durchschnittlich auf 50 Prozent ein. Sorgen habe das aber nur wenigen bereitet. Die Politikwissenschaftlerin Kristyn Karl meinte, dass „[j]unge Amerikaner […] fast nichts über die Risiken atomarer Waffen“ hörten. Ihnen fehle die Erfahrung des Kalten Kriegs. Im August 2020 verallgemeinerte der „Spiegel“ den Befund. Er zitierte Nikolai Sokov vom „Wiener Zentrum für Abrüstung und Non-Proliferation (VCDNP)“ mit den Worten: „Wir haben verlernt, uns vor dem Atomkrieg zu fürchten. […] Und das Schlimme ist: Wenn man ihn nicht fürchtet, wird er unausweichlich.“[30] In dem Artikel werden auch Zweifel daran laut, dass wirklich keine Atommacht einschließlich der etablierten Atommächte die Absicht habe, einen Erstschlag zu führen.
Am 22. Februar 2022, zwei Tage vor dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine, bilanzierte Hans-Peter Bartels die Bewusstseinslage der meisten Menschen im Westen im 21. Jahrhundert: „Im Ranking der Risiken, mit denen wir persönlich rechnen, ist der Atomkrieg weit nach unten gerutscht. Klima und Terror, Corona und Inflation wirken im 21. Jahrhundert weit bedrohlicher.“[31]
Die ukrainischstämmige Sängerin und Komponistin Mariana Sadovska, die zu einer Lesung von Schriftstellern in der Reihe „Kultur im Kanzleramt“ am 28. März 2022 eingeladen worden war, warf der NATO auf dieser Veranstaltung in Gegenwart von Bundeskanzler Olaf Scholz vor, sich allein von der Furcht vor atomarer Vergeltung davon abhalten zu lassen, eine Flugverbotszone in der Ukraine einzurichten. Auch sie habe „große Angst, dass dadurch alles eskaliert und es zu einem Atomkrieg kommt und die ganze Welt untergeht. […] Aber wir können doch nicht so einen Verbrecher wie Putin davonkommen lassen, nur weil er mit der Atombombe droht. […] Wenn die Welt untergeht, weil wir der Ukraine helfen, […] dann soll es halt so sein!“[32] Der Berichterstatter, Patrick Bahners, weist in seinem Artikel darauf hin, dass Sadova nicht die Möglichkeit eingegangen ist, dass Putins Drohungen, Atomwaffen einzusetzen, nur Bluff sind.
Dass Russland im Fall einer (drohenden) Niederlage in einem mit konventionellen Waffen geführten Krieg einen Atomkrieg beginnt, hält Timothy Snyder für wenig wahrscheinlich: Putin habe fast komplette Kontrolle über die Wahrnehmung des Krieges in seinem Land. Seinen Erklärungen würden die meisten Russen glauben. Putin könne also einen Krieg verlieren, ohne wegen drohender Blamage bis zu dem Atomkrieg eskalieren zu müssen.[33]
Im April 2022 konkretisierte Putins Pressesprecher Dmitri Sergejewitsch Peskow Russlands Pläne zum Einsatz von Atomwaffen im Ukrainekrieg: „Das Ergebnis dieser ‚Operation‘ ist natürlich kein Grund zum Einsatz von Atomwaffen.“ Ein Grund für einen solchen Einsatz sei nur die „Bedrohung der Existenz des Staates“ Russland.[34] Der US-amerikanische Präsident Joe Biden hatte bereits im Dezember 2021 erklärt, dass es „alleiniger Zweck der US-Atomwaffen“ sei, „nukleare Angriffe abzuschrecken und, falls nötig, auf diese zu reagieren. Gegen konventionelle Aggressionen würden die USA nie Kernwaffen einsetzen.“[35] Das deutsche Bundesministerium der Verteidigung betont: „Mit dem Einsatz von Truppen in der Ukraine würde die NATO unmittelbar zu einer Konfliktpartei werden. Dabei bestünde die Gefahr, dass der Konflikt erheblich weiter über die Ukraine hinaus eskalieren“ und die atomare Schwelle überschritten werden kann.[36]
Seit der Annexion ukrainischer Gebiete durch Russland am 5. Oktober 2022[37] besteht die Gefahr, dass Russland den Versuch, diese zurückzuerobern, als „Bedrohung der Existenz des Staates Russland“ bewertet. US-Präsident Joe Biden erklärte am 7. Oktober 2022, dass die Welt einem Atomkrieg so nahe sei wie in der Kubakrise. Es drohe ein „Armageddon“.[38]
Am 22. März 2023 beantwortete der US-amerikanische Kriegsforscher James D. Fearon in einem Interview aus seiner Sicht die Frage, wie wahrscheinlich die Eskalation des Kriegs über die nukleare Schwelle hinweg sei: „Was die Frage des nuklearen Risikos angeht, so glaube ich, dass man das nicht kleinreden darf. Aber das Risiko ist nicht immer gleich gross. Letzten Herbst ([2022]) war es grösser als jetzt. Die US-Regierung geht davon aus, wenn ich sie richtig verstehe, dass der Einsatz einer taktischen Atombombe möglich wäre. Und zwar in einem Szenario, in dem die russische Armee zusammenbricht und in dem die Krim plötzlich in Gefahr ist. Das ist nicht sehr wahrscheinlich, aber das Risiko ist auch nicht gleich null. Zudem können immer auch Unfälle passieren. Gerade wenn man die Inkompetenz des russischen Militärs sieht, ist das nicht ermutigend.“[39]
Eine pessimistische Analyse der Weltlage lieferte im Mai 2023 Siegfried Hecker, früherer Direktor des US-Atomforschungszentrums Los Alamos. Keine der „vier Säulen der nuklearen Ordnung der vergangenen Jahrzehnte“ sei noch intakt. Das gelte erstens für das „nukleare Tabu“, zweitens die Nichtverbreitung von Kernwaffen, drittens den Kampf gegen den nuklearen Terrorismus und viertens den rein friedlichen Charakter der zivilen Nutzung der Kernenergie. Die Gefahr, so Hecker, „die heute besteht, ist nicht ein einzelnes Ereignis. Es ist das Ende der nuklearen Ordnung selbst.“[40] Die Diskussion über eine „Krise der Nuklearen Ordnung“ begann nicht erst mit der Annexion der Krim durch Wladimir Putin. Bereits 2007 wurde diskutiert, ob nicht George W. Bush eine Hauptrolle bei der Entstehung der Krise gespielt habe.[41] Oliver Thränert, Leiter des „Centers for Security Studies (CSS)“ an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, sah 2010 die Hauptgefahr für die Nukleare Ordnung darin, dass es „mehr instabile Akteure ohne Fähigkeit zu ‚nuklearem Lernen‘“ gebe.[42]
Ein anderer Aspekt des Atomzeitalters ist darin zu sehen, dass das Prinzip der Kernspaltung eine neue Form der Energienutzung ermöglicht, und zwar vor allem in Form der Stromerzeugung in Atomkraftwerken. Diese neuartige Energiequelle wurde zuerst auch militärisch genutzt: Im Rahmen des Manhattan-Projekts gelang Enrico Fermi am 2. Dezember 1942 die erste kontrollierte nukleare Kettenreaktion in einem Kernreaktor in Chicago (Chicago Pile One). Mindestens bis in die 1970er Jahre galt die neue Form der Energienutzung überwiegend als technischer Fortschritt. Die Emissionen aus Atomkraftwerken wurden als sehr gering bewertet. Der GAU in Three Mile Island (1979) sowie die Super-GAUs in Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011) ließen die Skepsis gegenüber dieser positiven Sichtweise wachsen.
Die heute noch unter Anhängern von Atomkraftwerken verbreitete Formulierung „friedliche Nutzung der Kernenergie“[43] wird von Kritikern als Euphemismus bewertet, in dem ein „strahlender Akkord […] von kerniger Energie, Nützlichkeit und Frieden“ ertöne.[44]
Das Problem der industriell betriebenen Kernspaltung liegt darin, dass ständig neue radioaktive Substanzen geschaffen werden, die sicher von der Umwelt abgeschirmt werden müssen und deren Endprodukte teilweise eine sehr lange Halbwertszeit aufweisen. Dies macht sichere Endlager erforderlich. Ein genehmigtes Endlager für hochradioaktive Substanzen existiert derzeit (Stand: Mai 2023) weltweit nur in Finnland, und zwar auf der Insel Olkiluoto, in der Gemeinde Eurajoki.[45]
Insbesondere nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011 wurde in Deutschland und weiteren Staaten von verschiedenen Seiten das „Ende des Atomzeitalters“[46] ausgerufen; in manchen anderen Ländern dagegen wurden seit Anfang der 2010er Jahre neue Atomkraftwerke konzipiert und gebaut.[47] Damals war allerdings weltweit die Zahl betriebener Atomkraftwerke rückläufig. Der Anteil des Atomstroms am Energiemix sank weltweit von ca. 17,5 Prozent im Jahr 1996 auf ca. 10 Prozent 2019. Ohne dauerhafte staatliche Subventionen sind laut dem Kernkraftgegner und Nuklearanalysten Mycle Schneider neue Atomkraftwerke unrentabel. Finanzmathematiker rechneten 2011 aus, dass Kernkraftwerke 72 Milliarden Euro jährlich für ihre Haftpflichtversicherung bezahlen müssten, wenn sie alle Risiken ohne Subventionen abdecken wollten. Um diesen Betrag zu erwirtschaften, müsste der Strompreis verzwanzigfacht werden.[48] Christian Stöckers Fazit zu den Kosten der Atomenergie lautete 2021: Die Schäden, die das „Geschäftsmodell Atomkraftwerke“ verursache, „und die Risiken, die es birgt, werden vergesellschaftet. Für die – statistisch betrachtet nach aktuellem Stand tatsächlich ziemlich kleinen, aber eben im Schadensfall katastrophalen – Risiken haftet im Zweifelsfall der Staat. Also wir alle.“ Die Kosten der Endlagerung abgebrannter Kühlelemente seien, so Stöcker, unbekannt und in der o. g. Kalkulation nicht enthalten.[49]
Weniger als die Hälfte der weltweit betriebenen 417 Atomkraftwerke war 2019 jünger als dreißig Jahre.[50] Galt zum Zeitpunkt des Baus vieler Reaktoren eine bilanztechnische Lebenszeit von vierzig Jahren als Grundlage der Kalkulationen, so sind einige Kraftwerke seit über fünfzig Jahren in Betrieb, so das Kernkraftwerk Beznau. In den USA haben einige Kraftwerke bereits Lizenzen für eine Gesamtbetriebszeit von achtzig Jahren erhalten.[51][52]
Neben der Nutzung von Kernenergie zur Erzeugung elektrischer Energie gibt es auch Nutzungskonzepte für den Kernenergieantrieb, u. a. für Schiffe. Jedoch lässt sich aus technischer Sicht die zivile Nutzung (siehe Liste ziviler Schiffe mit Nuklearantrieb) nicht von der militärischen Nutzung (siehe Atom-U-Boot) trennen. Frühe Konzepte aus den 1950er Jahren schlugen auch den Kernenergieantrieb von Automobilen und Lokomotiven vor, wurden aber nicht umgesetzt. Darüber hinaus gab es Konzepte zum nuklearen Antrieb von Fluggeräten.
Forschungsreaktoren wie der Forschungsreaktor München II haben neben ihren Funktionen in Grundlagenforschung und Ausbildung bis heute unschätzbaren Wert in Nuklearmedizin und Industrie und dienen unter anderem der Erzeugung medizinischer Radionuklide sowie der Transmutationsdotierung in der Halbleiterfertigung. Auch Länder wie Deutschland oder Australien[53][54], welche aus der Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung ausgestiegen sind oder diese nie betrieben haben, werden derartige Forschungsreaktoren auf absehbare Zeit weiter betreiben, um diagnostische Isotope wie Technetium-99m weiterhin zur Verfügung zu stellen. Auch kommerzielle Leistungsreaktoren dienen teilweise der Erzeugung medizinischer Radionuklide, so Cobalt-60 am Kernkraftwerk Bruce in Kanada.[55]
Eine einheitliche mehrheitliche Meinung der Menschen in den Staaten der Europäischen Union zur Kernkraft gibt es nicht. Die traditionell starke Ablehnung der Kernenergie in deutschsprachigen Ländern ist für die „Neue Zürcher Zeitung“ aufgrund der Geschichte der dort relativ starken Grünen kein Zufall.[56] Zugleich habe, so Okascharow, „[v]on den Niederlanden über Tschechien und Polen bis Frankreich und Grossbritannien […] die Atomkraft […] an Zuspruch gewonnen.“ Zwar kommen in Frankreich „über 70 Prozent des Stroms aus der Kernkraft“; Okasharow weist allerdings nicht darauf hin, dass weniger als 50 % der in Frankreich Befragten 2021 die Frage, ob sie in den nächsten 20 Jahren mit positiven Auswirkungen der Atomkraft rechnen, bejahten. Laut der Zeitschrift „Capital“ gab es ungefähr gleich viele Mitgliedsstaaten der EU, in denen die „Ja“-Antworten auf diese Frage eine absolute Mehrheit bildeten, wie Staaten, in denen das nicht der Fall war.[57] Beide Quellen stützen sich auf die in der Einleitung erwähnte Befragung des „Eurobarometers“.
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