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britischer Kulturtheoretiker und Geschichtsphilosoph Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Arnold Joseph Toynbee (* 14. April 1889 in London; † 22. Oktober 1975 in York, Yorkshire) war ein britischer Kulturtheoretiker und ein bedeutender Geschichtsphilosoph des 20. Jahrhunderts. Er gilt als letzter großer Universalhistoriker.
Sein Vater war Harry Valpy Toynbee (1861–1941), ein Bruder des britischen Volkswirtschaftswissenschaftlers und Wirtschaftshistorikers Arnold Toynbee, mit dem er häufig verwechselt wird. Toynbee studierte Geschichte in Winchester, in Heidelberg und am Balliol College in Oxford und arbeitete sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg für das britische Außenministerium. Er war Berater des War Propaganda Bureau und schrieb selbst gegen die Mittelmächte gerichtete Propaganda-Pamphlete.[1]
Nach dem Krieg nahm er 1919 an der Friedenskonferenz von Versailles teil. Gleich anschließend übernahm er den neugeschaffenen Lehrstuhl des Koraes Professor of Modern Greek and Byzantine History, Language and Literature am King’s College London. Nachdem er im Manchester Guardian auf griechische Kriegsverbrechen im Griechisch-Türkischen Krieg hingewiesen hatte, wurde ihm der Lehrstuhl entzogen[2]. Seit 1924 bekleidete er den Lehrstuhl für Internationale Geschichte an der London School of Economics and Political Science. Von 1925 bis 1956 war er zudem Direktor des Royal Institute of International Affairs. 1937 wurde er in die British Academy, 1941 in die American Philosophical Society, 1949 in die American Academy of Arts and Sciences und 1950 in die American Academy of Arts and Letters[3] gewählt.
Zwischen 1934 und 1961 arbeitete Toynbee an seinem zwölfbändigen Hauptwerk A Study of History (Der Gang der Weltgeschichte), in dem er die Bedingungen von Entstehung, Aufstieg und Verfall von Kulturen (civilizations) umfassend analysierte. Dabei widmete er in Abkehr von einer eurozentristischen Geschichtsschreibung den außereuropäischen Kulturen ebenso viel Aufmerksamkeit wie der europäischen.
Der Gang der Weltgeschichte knüpfte an die Weltgeschichtliche Betrachtungen von Jacob Burckhardt und Der Untergang des Abendlandes von Oswald Spengler an. Im Vergleich zu Spengler vertritt Toynbee aber nicht Spenglers kulturpessimistisch-deterministische Sicht, nach der alle Kulturen eine quasi naturgesetzliche und voneinander unabhängige Entwicklung von Aufstieg, Blüte und Verfall durchlaufen. Vielmehr propagiert Toynbee eine evolutionäre, prinzipiell ergebnisoffene Sichtweise. Danach entwickeln sich nicht alle Kulturen in einem steten Kreislauf von Aufstieg und Verfall, sondern jeweils unterschiedlich – je nach ihrer Fähigkeit, auf Herausforderungen angemessen zu reagieren.[4]
Je höher der Anreiz zur Entwicklung einer Kultur, desto höher ist nach Toynbee deren spätere Entwicklungsstufe. Die Herausforderung könne zu gering, aber auch zu stark sein und zu einer Überdehnung der Kräfte führen. Demnach entwickelten sich Kulturen, die vor zu einfache oder zu schwere Herausforderungen gestellt werden, überhaupt nicht oder fielen in Stagnation. Letzteres sei beispielsweise bei den Polynesiern und den Eskimos der Fall, die sich der extremen Herausforderung gestellt hätten, die Wasserwüsten des Pazifik bzw. die Eiswüsten der Arktis zu besiedeln.
Andere Kulturen (Toynbee unterschied deren bis zu 32) hätten dagegen Lösungen für die zu bewältigende Aufgabe gefunden – wie etwa die altägyptische Kultur auf die jährlich wiederkehrenden Überschwemmungen des Nillandes – und seien dadurch zu großer Blüte gelangt. Einige davon gingen laut Toynbee auch wieder unter, andere dagegen erlebten eine Transformation in eine oder mehrere Tochterkulturen. So seien etwa die abendländische und die byzantinische Kultur aus der römisch-hellenistischen hervorgegangen. Wieder andere erwiesen sich als sehr langlebig – weil anpassungs- und wandlungsfähig – wie etwa die chinesische Kultur. Als entscheidende Triebkraft der Geschichte sieht Toynbee keine abstrakten Ideen oder Gesetzmäßigkeiten, sondern die Arbeit konkreter Menschen.
Während Katholizismus und Islam laut Toynbee die Rassenschranken durchbrochen haben, seien die Protestanten, vor allem die Puritaner, das Opfer von Missverständnissen des Alten Testaments und damit zu »Rassisten« geworden. So erklärt Toynbee sich auch die Vernichtung der Indianer durch die britischen Siedler. Auch die Juden hätten ihre Religion immer exklusiv mit ihrer Ethnie verbunden. In Israel wurde Toynbee daher kritisch betrachtet und als Antisemit eingestuft, unter anderem weil er Israel als unnatürlichen Anachronismus betrachtete und als „Fossil“ bezeichnet hatte. Nach einem Streitgespräch mit dem israelischen Botschafter in Ottawa, Ja’akov Herzog, musste Toynbee seine Einschätzungen revidieren und milderte sie ab, wobei er den jüdischen Staat zugleich in die Pflicht nahm, den atomaren Weltkrieg verhindern zu müssen.[5]
Ein zentrales Merkmal von „Kulturen“ im Sinne Toynbees ist die Religion, weshalb heutige Beobachter Parallelen zu Samuel P. Huntingtons Kampf der Kulturen sehen. Den Humanismus der griechischen Antike und den Glauben der Aufklärung an die menschliche Vernunft sah er dagegen kritisch. Den modernen Nationalismus verurteilte er aufs Schärfste und auch den europäischen Kolonialismus, an dem er in seiner Jugend noch als Kolonialbeamter aktiv Anteil genommen hatte, kritisierte er.
Eine kritische Aufnahme seiner Ideen findet sich bei Franz Borkenau (Ende und Anfang).
Toynbee sah einen allgemeinen Weltstaat im Entstehen, dessen große Herausforderung seiner Ansicht nach darin bestehe, den Frieden zu garantieren. In seinem letzten, universalgeschichtlichen Werk Menschheit und Mutter Erde von 1974 schreibt er:
Toynbee ist Vater des im Widerstand gegen das NS-Regime in der Bonner „Gruppe Universität der KPD“ unter Walter Markov tätigen Lokalhistorikers Anthony Toynbee, der sich bald darauf umbrachte, sowie des schillernden Schriftstellers Theodore Philip Toynbee (1916–1981). Zudem ist er Großvater der bekannten atheistischen Bürgerrechtlerin und Journalistin Polly Toynbee (* 1946), der Tochter von Theodore Philip Toynbee. Seine Schwester war die Klassische Archäologin Jocelyn Mary Catherine Toynbee. Der Wirtschaftshistoriker Arnold Toynbee ist sein Onkel.
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