Wesentliche Anregungen für seine serielle Kompositionsmethode empfing Lachenmann von Karlheinz Stockhausen während der sogenannten „Kölner Kurse“ und von Luigi Nono, der ihn auf die Probleme der gesellschaftlichen Funktion von Musik aufmerksam machte. Im Gegensatz zu Nono versteht Lachenmann seine Musik so: „An die Stelle des starr punktuellen Klangs sollten bei meiner Musik Klangtypen verschiedener Art treten: Ein- und Ausschwingprozesse, Impulse, statische Farben, Fluktuationen, Texturen, Strukturen.“[1]
Lachenmanns Werk ist einerseits die Auseinandersetzung mit seriellen Techniken und Zufallsmanipulationen, andererseits ein Reflektieren des Selbstverständnisses als freischaffender Komponist. Dies zeigt der Umgang mit Geräuschen als integralem Teil des Klangs, wenn Lachenmann in Guero (1970) das Klavier als Schlag- und Zupfinstrument „zweckentfremdet“. Er will den „hörigen“ Hörer von seinen Hörgewohnheiten befreien und ein neues Kompositions- und Hörverständnis entwickeln. Das geschieht bei Lachenmann in der Art von John Cage und der französischen Musique concrète der frühen 1950er Jahre. Es geht Lachenmann um die Erweiterung des Musikbegriffs, um dessen Loslösung von einer an Tonalität und Tonhöhen fixierten musikalischen Auffassung, wobei jedes akustische Ereignis zu Musik geformt werden kann.
Lachenmann entwickelte konsequent eine Musique concrète instrumentale, die mittels neuer Spieltechniken für die traditionellen Orchesterinstrumente eine Klanglichkeit erzeugt, die dem Geräusch oft näher steht als der sinfonischen Tradition. In der Konfrontation des „philharmonischen Apparates“ mit Klängen, die ihre akustischen Vorgänge offenlegen, soll die Wahrnehmung von Spielern und Hörern auf die Struktur der konkreten Klänge gelenkt werden. Nicht das Erlebnis von Schönklang ist das Ziel seines Komponierens, sondern die Erfahrung von Anordnung und Verwandlung ungewohnter, da ungewöhnlicher Klangereignisse.
Der bisher größte Erfolg Lachenmanns war die Uraufführung des Bühnenwerks Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1997) an der Hamburgischen Staatsoper. Das Werk wurde auch in Paris, Stuttgart und Tokio (Neufassung 2003) aufgeführt. Anlässlich seines 70. Geburtstages fanden auf der ganzen Welt Konzerte mit seiner Musik statt.
Lachenmann hat eine ganze Generation von Komponisten mit seiner Ästhetik (Schönheits- und Wahrheitsbegriff/Materialstand) beeinflusst. Seine klanglichen Verfremdungen und neuen Spieltechniken bezeichnet er darum heute gern als „bereits touristisch erschlossen“. In neueren Werken etwa seit Allegro sostenuto (1986–1988) bezieht Lachenmann wieder in verstärktem Maße traditionelle Tonhöhenkonstellationen ein, auf die nun die zuvor in der Musique concrète instrumentale gemachten Erfahrungen angewendet werden (von ihm selbst als „Gang in die Höhle des Löwen“ etikettiert). Dies führte zu der unvermeidlichen Kontroverse, ob Lachenmann seine frühere avantgardistische Position nun aufgegeben habe.
Lachenmann ist mit der Pianistin Yukiko Sugawara verheiratet und lebt in Leonberg-Höfingen. In erster Ehe war er mit der Schriftkünstlerin und Malerin Annette Lachenmann (geb. Büttner) verheiratet und ist Vater von drei Kindern.[2]
Nun für Flöte, Posaune und Orchester mit Männerstimmen (1997–99/2002) 40 min.
Sakura-Variationen über ein japanisches Volkslied für Saxophon, Schlagzeug und Klavier (2000) 6 min.
3. Streichquartett „Grido“ (2001/02) 25 min.
Schreiben für Orchester (2003–04) 28 min.
Double (Grido II) für Streichorchester (2004; Bearbeitung seines 3. Streichquartetts) 23 min.
Concertini für Ensemble (2005) 42 min.
Got Lost... Musik für Stimme und Klavier (2007–08), Text: Friedrich Nietzsche und Fernando Pessoa, 26 min.
Berliner Kirschblüten. Ein Arrangement mit drei Variationen über ein japanisches Volkslied für Altsaxophon, Klavier und Schlagzeug (2008) – eine Fortführung der Sakura-Variationen über das japanische Volkslied Sakura, ein Nebenwerk.
Marche Fatale Version für Klavier Solo (2016)
Marche Fatale Version für großes Orchester (2017)
My Melodies für acht Hörner und großes Orchester (2012–18)[7]
Mes Adieux, Streichtrio II (2021/22)
Sammelbände
Musik als existentielle Erfahrung – Schriften [1959] 1966–1995. Herausgegeben von Josef Häusler. Breitkopf & Härtel/Insel, Wiesbaden 1996. Überarbeitete 2. Auflage 2004. ISBN 3-7651-0247-4.
Kunst als vom Geist beherrschte Magie. Texte zur Musik 1996 bis 2020. Herausgegeben von Ulrich Mosch. Breitkopf & Härtel/Insel, Wiesbaden 2021. ISBN 978-3-7651-0478-7.
Aufsätze
Hören ist wehrlos – ohne Hören. Über Möglichkeiten und Schwierigkeiten, in: MusikTexte 10, Juli 1985, 7–16.
Struktur und Musikantik, nova giulianiad 6/85, S. 92 ff.
Über das Komponieren, in: MusikTexte 16, Oktober 1986, 9–14.
Über Strukturalismus, in: MusikTexte 36, Oktober 1990, 18–23.
Kunst und Demokratie, in: MusikTexte 122, August 2009, 26–28.
Tradition der Irritation. Nachdenken über das Komponieren, den Kunstbegriff und das Hören, in: MusikTexte 132, Februar 2012, 11–13.
Komponieren am Krater, in: MusikTexte 151, November 2016, 3–5.
„Nicht hörig, sondern hellhörig“. Helmut Lachenmann im Gespräch mit Frank Hilberg, in: MusikTexte 67/68, Januar 1997, 90–92.
„Ernst machen: das kann ja heiter werden!“. Hören als Beobachten: Helmut Lachenmann im Radiogespräch mit Michael Struck-Schloen, in: MusikTexte 140, Februar 2014, 20–26.
„Ich bin selber die Wunde“. Helmut Lachenmann im Gespräch mit Tobias Rempe, in: MusikTexte 151, November 2016, 60–62.
„Ich komponiere nicht, ich werde komponiert“. Helmut Lachenmann im Gespräch mit Stephan Mösch, in: Komponieren für Stimme. Von Monteverdi bis Rihm, hg. von Stephan Mösch, Bärenreiter Verlag, Kassel 2017, S. 342–347
"Ich hasse Humor". Helmut Lachenmann im Gespräch mit Johann Jahn, in: BR-Klassik am 6. Juni 2018[8]
"Currentzis-LAB mit Patricia Kopatchinskaja und Helmut Lachenmann". Livemitschnitt aus der Stuttgarter Liederhalle vom 15. September 2020[10]
Ludolf Baucke: „Mensch, erkenn dich doch ...“. Anmerkungen zu Helmut Lachenmanns „Harmonica“. In: MusikTexte 3, Februar 1984, S. 6–9.
Karsten Häcker: Versuch über den Strukturklang. „Air“ für Schlagzeug und Orchester. In: MusikTexte 67/68, Januar 1997, S. 95–104.
Lena Dražić: Die Politik des Kritischen Komponierens. Diskursive Verflechtungen um Helmut Lachenmann. transcript, Bielefeld 2024, ISBN 978-3-8376-6701-1 (online).
Jörn Peter Hiekel (Hrsg.): Helmut Lachenmann und seine Zeit. Laaber, Lilienthal 2023, ISBN 978-3-89007-809-0.
Frank Hilberg: Die erste Oper des 21. Jahrhunderts? Helmut Lachenmanns "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern". In: Neue Zeitschrift für Musik. 1997, Heft 4, S. 14–23.
Klaus-Michael Hinz: Lachenmann lesen – ein Kinderspiel. In: MusikTexte 67/68, Januar 1997, S. 2.
Klaus-Michael Hinz: Räume der Wollust. Zu Lachenmanns Kompositionstechnik. In: MusikTexte 67/68, Januar 1997, S. 75–76.
Josefine Helen Horn: Postserielle Mechanismen der Formgenerierung. Zur Entstehung von Helmut Lachenmanns „Notturno“. In: MusikTexte 79, Juni 1999, S. 14–25.
Nicolaus A. Huber: Prophetische Unbedingtheit. Zu Helmut Lachenmann. In: MusikTexte 20, Juli–August 1987, S. 14–15.
Eberhard Hüppe: Über das Höhlengleichnis. Zu Lachenmanns Ästhetik. In: MusikTexte 67/68, Januar 1997, S. 62–67.
Stefan Jena: „Logik der Verweigerung“. Zur Musikästhetik von Helmut Lachenmann. In: MusikTexte 64, April 1996, S. 16–19.
Thomas Kabisch: Dialektisches Komponieren – dialektisches Hören. Zu Helmut Lachenmanns Klavierkompositionen (1956–1980). In: MusikTexte 38, Februar 1991, S. 25–31.
Martin Kaltenecker: Manches geht in Nacht verloren. Fragmente zu Lachenmanns „Reigen seliger Geister“. In: MusikTexte 67/68, Januar 1997, S. 67–74.
Martin Kaltenecker: Was ist eine reiche Musik? Laudatio auf Helmut Lachenmann. In: MusikTexte 134, August 2012, S. 37–40.
Daniel Kötter: Die Irreführung der Oper. Sprachlosigkeit und -fertigkeit in Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“. In: MusikTexte 105, Mai 2005, S. 37–48.
Rainer Nonnenmann: Auftakt der „instrumentalen musique concrète“. Helmut Lachenmanns „temA“ von 1968. In: MusikTexte 67/68, Januar 1997, S. 106–114.
Rainer Nonnenmann: Angebot durch Verweigerung: Die Ästhetik instrumentalkonkreten Klangkomponierens in Helmut Lachenmanns frühen Orchesterwerken (Kölner Schriften zur Neuen Musik; 8), Schott, Mainz 2000, ISBN 3-7957-1897-X.
Rainer Nonnenmann: Der Gang durch die Klippen. Helmut Lachenmanns Begegnungen mit Luigi Nono anhand ihres Briefwechsels und anderer Quellen 1957–1990. Breitkopf und Härtel, Wiesbaden 2013, ISBN 978-3-7651-0326-1.
Rainer Nonnenmann: Jenseits des Gewohnten. Ein Kommentar zu Schülerbriefen an den Komponisten [mit Schülerbriefen]. In: MusikTexte 151, November 2016, S. 63–72.
Reinhard Oehlschlägel: Wider-Setzungen. Helmut Lachenmanns „Schwankungen am Rande“ für „Blech und Saiten“. In: MusikTexte 67/68, Januar 1997, S. 93–94.
Wolfgang Rihm: Bewegt. Für Helmut Lachenmann. In: MusikTexte 8, Februar 1985, S. 17.
Wolfgang Rihm: Unendlich dankbar. Laudatio auf Helmut Lachenmann. In: MusikTexte 71, August 1997, S. 27–31.
Yuval Shaked: Helmut Lachenmanns 'Salut für Caudwell' – Eine Analyse, nova giulianiad 6/1985, S. 97 ff.
Yuval Shaked: „Wie ein Käfer, auf dem Rücken zappelnd“. Zu „Mouvement (– vor der Erstarrung –)“ (1982–84) von Helmut Lachenmann, in: MusikTexte 8, Februar 1985, S. 9–16.
Frank Sielecki: Das Politische in den Kompositionen von Helmut Lachenmann und Nicolaus A. Huber. Pfau-Verlag, Saarbrücken 2000, ISBN 3-89727-033-1.
Milena Stawowy: „Fluchtversuch in die Höhle des Löwen“. Helmut Lachenmanns „Tanzsuite mit Deutschlandlied“, in: MusikTexte 67/68, Januar 1997, S. 77–90.
Ulrich Tadday (Hrsg.): Helmut Lachenmann (Musik-Konzepte Neue Folge; 146). edition text&kritik, München 2009, ISBN 3-86916-016-0.
Matthias & Maciej Walczak: Erweiterte Spieltechniken in der Musik von Helmut Lachenmann. CD-ROM, Verlag Breitkopf, ISBN 978-3-7651-0297-4.
Tobias Werner: Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Hörens von Helmut Lachenmanns Komposition „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Magisterarbeit Hochschule für Musik Weimar 2005.
Michael Zink: Strukturen. Analytischer Versuch über „Ausklang“ von Helmut Lachenmann. In: MusikTexte 96, Februar 2003, S. 27–41.
Musica Viva – Forum der Gegenwartsmusik: Helmut Lachenmann, Regie: Peider A. Defilla, Deutschland 2003
… zwei Gefühle … – Der Komponist Helmut Lachenmann, Regie: Uli Aumüller, Deutschland 1996
…Wo ich noch nie war – Der Komponist Helmut Lachenmann, Regie: Bettina Ehrhardt, Deutschland, 2006
Helmut Lachenman – My Way, Regie: Wiebke Pöpel, Deutschland 2021, Deutscher Dokumentarfilmpreis 2021