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Schweizer Künstler, Sprayer von Zürich Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Harald Oskar Naegeli (* 4. Dezember 1939 in Zürich) ist ein Schweizer Künstler. Er wurde als Sprayer von Zürich Ende der 1970er-Jahre weltweit bekannt, da er mit seinen illegalen Wandzeichnungen den öffentlichen Raum Zürichs besprayte.[1]
Harald Naegeli wurde in Zürich geboren. Seine Mutter, Ragnhild Osjord Naegeli[2] war eine norwegische Malerin und sein Vater, Hans Naegeli-Osjord (1909–1997), ein Arzt und Parapsychologe aus Zürich.[3] Im Alter von 17 Jahren begann Naegeli seine Ausbildung an der Zürcher Kunstgewerbeschule als wissenschaftlicher Zeichner. Sein Lehrer Karl Schmid (1914–1998) führte den jungen Kunststudenten in die Welt der Dadaisten ein. 1964 verbrachte Naegeli ein Jahr in Paris an der École des Beaux-Arts. Statt dem Unterricht zu folgen, studierte er im Cabinet des Dessins du Louvre Originalzeichnungen von Malern wie Antonio Pisanello und Rembrandt.[4]
Einer seiner Vorfahren war der Mediziner, Heimatforscher und Mundartautor Otto Nägeli.
Angeregt von der Dada-Bewegung in Zürich setzte sich Harald Naegeli in der Zeit an der Kunstgewerbeschule bis in die 70er-Jahre mit dem Medium der Collagen auseinander. In seinen frühen Werken sind Einflüsse seiner Vorbilder Hans Arp und Kurt Schwitters zu erkennen. Naegeli besuchte damals regelmässig die Kunsthistorikerin Carola Giedion-Welcker und studierte deren Kunstsammlung, worunter sich Werke von Arp, Schwitters, Mondrian und Kandinsky befanden. Giedion-Welcker war eine wichtige Mentorin für Naegeli. 1970 erwarb das Kunsthaus Zürich eine Collage mit dem Titel «Die Wespe». Ab 1969/70 schuf Naegeli minimalistische Schwarz-weiss-Collagen, deren Zeichenhaftigkeit und reduzierte Formensprache berets die späteren Sprayfiguren ankündigen.[5] Mitte der 70er-Jahre wandte sich Naegeli wieder dem Medium der Zeichnung zu. Er kaufte 500 Skizzenbücher aus China, die damals neu auf den Markt kamen und sehr preiswert waren. Auf Reisen durch die Schweiz füllte Naegeli die Bücher mit Sinneseindrücken aus Natur- und Tierwelt.[4]
Aus «Protest gegen die Unwirtlichkeit der Städte, der Architektur»[6] sprayte Naegeli sowohl auf öffentliche als auch private Wände schwarze Strichfiguren. Er begann nachts auf Gebäude und Plätze zu zeichnen und verbreitete seine Parolen und Figuren in ganz Zürich. Trotz eines ausgesetzten Kopfgeldes von 3.000 CHF[7] blieb Naegelis Identität lange unentdeckt, aber letztlich wurde er im Juni 1979 eines Nachts von einem Zivilpolizisten ertappt; er hatte beim Sprayen seine Brille verloren und war zurückgegangen, um sie zu suchen. Naegeli stand 1981 vor einem Zürcher Gericht und wurde wegen wiederholter Sachbeschädigung mit einer hohen Geldstrafe und neun Monaten Haft bestraft – von einem Richter, der ein Exempel statuieren wollte, wie der WDR-Journalist Hubert Maessen im deutschen Radio vom Prozess berichtete. Der Vollstreckung des Urteils entzog Naegeli sich durch eine Flucht aus der Schweiz nach Deutschland. Es erging ein internationaler Haftbefehl und er wurde am 28. August 1983 verhaftet.[8] Trotz der Intervention zahlreicher Künstler, Schriftsteller und Politiker und einer von Naegeli selbst eingereichten Beschwerde bei der Europäischen Menschenrechtskommission wurde er nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts am 24. April 1984 an sein Heimatland ausgeliefert. Nach sechs Monaten Gefängnisstrafe wurde Naegeli aus der Strafanstalt Wauwilermoos entlassen und zog nach Düsseldorf, wo er weiter sprayte.
Im Gefängnis entstanden einige Keramiken mit den bekannten Naegeli-Figuren; Naegeli hielt sich nicht an die Gestaltungsvorgaben der Haftanstalt. Nach seiner Entlassung zog Naegeli wieder nach Düsseldorf, unter anderem wohl wegen der damit verbundenen Nähe zu Beuys. Er sprayte weiter. Darüber hinaus erarbeitete er ein zeichnerisches Werk auf Papier, die sogenannten «Partikelzeichnungen». Dabei stehen die Bewegung und die Reduktion des Konkreten im Vordergrund. Neben klassischeren Arbeiten, bei denen die Natur oft eine Rolle spielt, entstanden grosse gegenstandslose «Urwolken» als Tuschezeichnungen, an denen der Künstler oft monatelang arbeitet.
In Zusammenarbeit mit dem Wiener Komponisten Karlheinz Essl entwickelte Harald Naegeli zwischen 1991 und 1993 das Performance-Projekt «Partikel-Bewegungen», bei dem er in Galerien und Museen sehr reduzierte Sprayaktionen auf Acrylglasplatten durchführte, die von Musik begleitet wurden.
Im Wintersemester 1998/99 präsentierte die Graphische Sammlung am Kunsthistorischen Institut der Eberhard Karls Universität Tübingen erstmals die bis dahin fast unbekannten Radierungen des Künstlers aus den Jahren 1989 bis 1998. All seine Radierungen gingen daraufhin als grosszügige Schenkung Harald Naegelis in den Besitz dieser Graphischen Sammlung über und werden vom Museum der Universität Tübingen MUT verwaltet.[9] Vom 6. Juni bis 19. Juli 2002 zeigte die Graphische Sammlung als Beitrag zum Universitäts-Jubiläumsjahr eine Ausstellung mit Zeichnungen. Die grossformatigen Federzeichnungen im Kontext der sogenannten «Urwolke» spielen eine herausragende Rolle im Werk des Künstlers. Inhaltlich ging es Naegeli dabei um seine zeichnerische Utopie des kosmischen Raumes. Die filigranen Zeichnungen entstanden über Monate und manchmal auch Jahre. Die einzelnen Schritte der Entstehung wurden auf den Rückseiten der Zeichnungen genau vermerkt.[10]
Harald Naegeli ist Mitglied im Deutschen Künstlerbund. Er gehörte 2003 zu den 40 Teilnehmern der DKB-Projektausstellung Herbarium der Blicke, die in der Bundeskunsthalle in Bonn gezeigt wurde.[11]
Ab Dezember 2018 schuf Naegeli im Turm des Zürcher Grossmünsters einen auf vier Jahre geplanten sichtbaren Totentanz. Er erstellte das entfernbare Werk ohne Honorar.[12] Das Werk konnte allerdings nicht vollendet werden, da die in einem Vertrag vorgesehene Fläche für die Intentionen des Künstlers zu klein war.[13]
Auch 2019 wurde er in Düsseldorf zur Wiedergutmachung von Graffitischäden verpflichtet, ein Verfahren wegen Sachbeschädigung wurde eingestellt.[14]
Anfang Dezember 2019 kündigte Naegeli an, Düsseldorf verlassen und wieder in Zürich leben zu wollen: «Meine Lebenszeit und meine Zeit hier ist abgelaufen … Ich will wieder zurück an meinen Ursprung».[15] Naegeli kehrte im März 2020 nach Zürich zurück und setzte den in den Grossmünster-Türmen begonnenen Totentanz in der ganzen Stadt fort; dabei entstanden von April bis Juni gegen 50 Zeichnungen.[16] Während das Kunsthaus Zürich und der Kanton eine Strafanzeige wegen Sachbeschädigung erhoben, zeichnete die Stadt Zürich den 80-jährigen Naegeli mit dem Kunstpreis der Stadt Zürich 2020 aus.[17][18]
Ab den 1980er Jahren, beginnend in Köln, sprühte Naegeli seine so genannten Totentanz-Zyklen. Diese sind inspiriert von spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Motiven, etwa dem Basler Totentanz oder dem Totentanz von Hans Holbein dem Jüngeren, die als Symbole der Vergänglichkeit an die Sterblichkeit des Menschen gemahnten. Es werden vier verschiedene Totentänze von Naegeli unterschieden.[19]
Um 1980/81, nachdem Naegeli sich der Schweizer Strafverfolgung durch Ausreise ins Rheinland entzogen hatte, wechselte er in Köln von seinen bisherigen „Strichmännchen“ zu dem Motiv des Totengerippes. Diese erschienen auf Betonpfeilern, an Wänden von Parkdecks, Fabrikruinen und öffentlichen Bauwerken und wurden zum größten Teil sehr schnell wieder beseitigt. Die Serie wurde als Kölner Totentanz bezeichnet; das einzige erhaltene, früh als Kunst akzeptierte und auch regelmäßig restaurierte Exemplar befindet sich am zugemauerten Westportal der romanischen Basilika St. Cäcilien, die auch das Museum Schnütgen beherbergt. Im September 2024 wurde es von Mitarbeitenden der Kölner Abfallwirtschaftsbetriebe (AWB) versehentlich fast vollständig beseitigt, soll jedoch wiederhergestellt werden.[20][21]
Bereits in Zürich hatte sich Naegeli mit Fischmotiven beschäftigt, zu denen er einen biografischen Bezug hatte (seine Mutter stammt aus einer Fischerfamilie) und dessen Symbolik ihn beschäftigte. Nach dem Sandoz-Großbrand im November 1986, bei dem die Kontaminierung des Rheins ein Fischsterben und eine Rotfärbung des Flusswassers ausgelöst hatte, wollte Naegeli – dem Natur- und Tierschutz am Herzen lag – ein Zeichen setzen. Er sprühte auf einer Strecke von etwa 100 Kilometern auf Brückenpfeilern Fische mit Totenköpfen auf dem Bauch, die senkrecht aus dem giftigen Wasser zu springen schienen.[19]
Auf die Wasserverschmutzung durch Kreuzfahrtschiffe und die Industrie in Mestre in Venedig reagierte Naegeli 1987 mit einem weiteren Totentanz der Fische. Die Zeichnungen wurden nicht entfernt und erfuhren – eingereiht „in den Kanon anderer Graffiti“ – eine natürliche Alterung.[19]
Ab Ende 2018 erreichte Naegeli nach vierzehn Jahren Vorbereitungszeit, verbunden mit entsprechenden Diskussionen, in den beiden Grossmünstertürmen neue Skelette sprühen zu dürfen. Da er geringfügig über den ihm zugestandenen „Perimeter“ hinaus gearbeitet hatte, wurde eine Weiterführung nicht genehmigt und die Arbeit blieb ein Fragment.[22][23][24]
Doch während der COVID-19-Pandemie und den Ausgangsbeschränkungen im Frühjahr 2020 erschienen etwa 50 Totentanz-Skelette an verschiedenen Orten der Stadt, von denen die meisten schnell wieder entfernt wurden. Ein am Kunsthaus Zürich – auf der Wand hinter Rodins „Höllentor“ – gesprühtes Skelett wurde beseitigt und Strafanzeige wegen Sachbeschädigung gestellt, später jedoch wieder zurückgezogen. Später wurde seitens der Stadt Zürich entschieden, sechs verbliebene Exemplare des Zürcher Totentanzes zu erhalten.[25][26][27][28][29]
Zu seiner Zeit wurde Naegelis Tat noch als rebellisch und anarchisch gewertet, während sie heute in der Kunstwelt als anerkannter und geschätzter künstlerischer Eingriff in die Alltagswelt gesehen wird (Streetart). Schon damals und heute immer noch erregten öffentliche Gebäude und Wände als Bildträger für Zeichnungen allgemeine Aufmerksamkeit und entfachten kontroverse Diskussionen. Besonders für Hausbesitzer und etablierte Künstler ist der alternative Charakter der illegalen Kunst noch immer in einem gewissen Sinn provozierend. Da laut Ulrich Blanché Street Art «ein urbanes Statement gegen kommerziell erzeugten Massengeschmack und bürgerlichen common sense ist, das anarchistisch-kreative Denkanstöße gibt»,[30] würden Graffiti und Street Art als autonome und nicht kommerzielle Kunst ihren Anreiz und Charakter verlieren, wenn sie mit offizieller Genehmigung ausgeführt werden würden.
Eines seiner Strichmännchen, den weiblichen Wassergeist Undine an der Fassade des Deutschen Seminars in der Schönberggasse, liess der Kanton Zürich 2004 restaurieren und konservieren.[31] Das illegal entstandene Graffito sprayte Naegeli 1978 an die Betonwand des Physikinstituts. Nach einem Umbau 1995 stufte die kantonale Baudirektion diese Sprayerei als erhaltenswert ein und schützte sie mit einer Holzabdeckung. Nun, mit der Konservierung von Undine, rehabilitiert die Stadt Zürich Harald Naegeli und bezeichnet seine «Schmiererei» als Kunst und Naegeli als Künstler. Wenige weitere Strichmännchen sind im Parkhaus des Warenhauses Jelmoli zu sehen, wo die Kunstwerke 2009 ebenfalls restauriert wurden.[32]
In der Parkgarage der ETH Zürich befand sich die umfangreichste Gruppe an Sprayfiguren im öffentlichen Raum. In der Zeit von 1978 bis 2019 entstanden rund 37 Werke. 2021 wurde die Garage umfassend saniert. Die Kommission Kunst am Bau der ETH Zürich erkannte die Bedeutung dieser künstlerischen Position und entschied sich, alle Werke auf bestehenbleibenden Wänden zu erhalten.[33] Zusätzlich wurden in einem speziellen Restaurationsverfahren drei Graffiti abgetragen und in die «Bestände der Baukultur ETH Zürich» aufgenommen.[34] 22 Sprayfiguren sind in der Garage erhalten geblieben und zählen heute zum Inventar des eidgenössischen Kunstbestands.
Im Sommer 2021 gründete er die Harald Naegeli Stiftung, die sein Werk pflegen und für die Öffentlichkeit zugänglich machen soll. Ausserdem engagiert sich die Stiftung für Natur- und Tierschutzprojekte.[35]
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