Wolfskind

Kind, das isoliert von anderen Menschen aufwuchs Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Als Wolfskinder oder wilde Kinder bezeichnet man Kinder, die in jungen Jahren eine Zeit lang isoliert von anderen Menschen aufwuchsen und sich deshalb in ihrem erlernten Verhalten von normal sozialisierten Kindern unterscheiden. Manche Wolfskinder sollen von Tieren, etwa Wölfen, Hunden oder Bären, adoptiert worden sein und bei ihnen gelebt haben (Meyers Großes Taschenlexikon in 24 Bänden von 1983 etwa bezeichnet nur solche „wilden“ Kinder als Wolfskinder[1]). Die meisten Berichte über solche Fälle werden jedoch von der Wissenschaft angezweifelt.[2]

Wissenschaftliche Hintergründe

Zusammenfassung
Kontext
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Illustration von J. Lockwood Kipling, 1895

Es gibt zahlreiche Geschichten und Legenden über Wolfskinder, jedoch konnte die Wissenschaft bisher nur einige wenige reale Fälle studieren. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts sind mindestens 53 wilde Kinder beschrieben worden (sieht man einmal von der Dokumentation der preußischen Wolfskinder ab). Die Berichte stammen stets aus zweiter Hand und nicht von den Augenzeugen selbst. Um die wenigen Fakten herum wuchsen phantasievolle Ausdeutungen. Die in den historischen ebenso wie in manchen gegenwärtigen Quellen geschilderten Fälle setzen eine gewisse Leichtgläubigkeit beim Leser voraus. Hinsichtlich ihrer Typologisierung besteht ein Zusammenhang mit den im Aberglauben des christlichen Mittelalters verbreiteten Wechselbälgen. Beide Mal handelte es sich um die vermeintliche Erklärung von Behinderungen mit unter anderem den folgenden Merkmalen: eine bestimmte Form von Schwachsinn, fehlende Sprache und Erinnerungsvermögen, ein leerer oder rastlos umherschweifender Blick, anormale Bewegungsmuster und tierische Essgewohnheiten.[3]

Im 18. Jahrhundert prägte der schwedische Naturwissenschaftler Carl von Linné den Terminus des „Homo ferus“, des wilden Menschen, der sich wie ein Tier benahm, in der Regel auf allen vieren lief, nicht sprechen konnte und stark behaart war. Als dieser Begriff geprägt wurde, wandelte sich auch die Einstellung gegenüber den wilden Menschen. Wollte zum Beispiel der Mythos von der Gründung Roms mit der Aufzucht von Romulus und Remus durch eine Wölfin noch die wunderbare Herkunft der Helden unterstreichen, galten später wilde Kinder als Unheilsboten (zum Beispiel in einer Meldung über ein 1631 bei Southampton aufgefundenes Kind) und als Objekte höfischer Schaulust, so verdanken sie seit der Aufklärung ihre Aufmerksamkeit einem gelehrten Publikum und einer neu entstehenden Öffentlichkeit für anthropologische und pädagogische Fragen. Dass der Mensch nur im Schoße der Gesellschaft den hervorragenden Platz finden kann, der ihm von der Natur zugedacht ist, und ohne Zivilisation eines der schwächsten und unverständigsten Tiere sei, war beispielsweise die Grundauffassung des Arztes und Pädagogen Jean Itard, die er in einem ersten Gutachten über Victor von Aveyron (1797 erstmals gesichtet und später gefangen) äußerte. Itard verteidigte seine Meinung auch dann noch gegen alle Einwände, als die Versuche, Victor vollends in die menschliche Gesellschaft einzugliedern, weitgehend fehlgeschlagen waren.

Linnés „Homo ferus“

Mit der 10. Auflage von Systema Naturae (1758) begann Carl von Linné in seine Systematik des Menschen eine Gruppe aufzunehmen, die er als „tetrapus, mutus, hirsutus“ (laufen auf allen Vieren, können nicht sprechen, sind von Fell bedeckt) charakterisierte und die sich durch ihr Verhalten und Aussehen von anderen Menschen unterschieden:[4]

Bekannte Fälle

Weitere Informationen Name, Jahr ...
Name Jahr Fundalter Ort weitere Entwicklung nach der Entdeckung Anmerkung
Hessischer Wolfsjunge1344/15443 JahreHessenjuvenis lupinus hessensis[5][6]
Wetterauer Wolfsjunge1344/154412 JahreWetterau[5]
Bamberger Rindsjungebeschrieben 1591 von Philipp CamerariusBambergjuvenis bovinus bambergensis[5][7]
Irischer Schafsjungebeschrieben 1652 von Nicolaes Tulp?Irlandjuvenis ovinus hibernus[5][8]
Litauischer Bärenjunge1661Litauenjuvenis ursinus lithuanus[5]
Zweites litauisches Bärenkind169410 JahreLitauenjuvenis ursinus lithuanus[5]
Drittes litauisches Bärenkind?12 JahreLitauenjuvenis ursinus lithuanus[5]
Mädchen von Overijssel1711?damalige niederländische Provinz Overijsselpuella transisalana[5]
Mädchen von Kranenburg171719 JahreKranenburg (Overijssel), Provinz OverijsselPuella Transisalana [5][9]
Zwei pyrenäische Jungen1719?Pyrenäenpueri pyrenaici[5]
Wilder Peter von Hameln172412 JahreHamelnerlernte nie das Sprechen, lachte nie und zeigte absolute sexuelle und finanzielle Gleichgültigkeit; war musikalisch interessiert, konnte unterrichtet werden und verrichtete verschiedene Aufgaben, litt möglicherweise unter dem genetisch bedingten Pitt-Hopkins-Syndrom[10]juvenis hannoverianus[5][11]
Marie-Angélique Memmie LeBlanc173119 JahreChâlons-en-Champagnelernte französisch zu sprechen und zu schreibenpuella campanica[5][12]
Lütticher Hans?21 JahreLüttichJohannes Leodicensis[5][13]
Tomko von Zips1767?Ungarn[5]
Bärenmädchen von Krupina176710 JahreKomitat Hontpuella karpfensis[5]
Victor von Aveyron17979 JahreAveyronlernte einfache Haushaltstätigkeiten zu verrichten und menschliche Regungen zu zeigen, sowie einige Worte zu schreibenjuvenis averionensis[5]
Johannes Seluner182816 JahreToggenburg (Schweiz)Wurde bei einer Höhle in den Alpen aufgefunden
Schweinemädchen von Salzburg?22 JahreSalzburg[5]
Kind von Husanpur1843?Husanpur[5]
1. Kind von Sultanpur1843?Sultanpur[5]
2. Kind von Sultanpur1848?Sultanpur[5]
Kamala und Amala19209 Jahre und 18 MonateMedinipurAmala starb bald nach ihrer Entdeckung; Kamala lernte aufrecht zu gehen und einige Worte zu sprechen
Isabelle19386 JahreOhioerreichte mit achteinhalb Jahren den normalen Entwicklungsstand eines Kindes dieses Alters
Anna19386 JahrePennsylvaniawar mit neun Jahren auf dem Entwicklungsstand einer Zweijährigen
Genie197013 JahreLos Angeles Countyweiterhin schwer behindert
Andrei und Vanya[14]19677 JahreTschechische Republikholten ihren Rückstand auf, besuchten eine technische Hochschule und gingen qualifizierten Tätigkeiten nach, beide sind verheiratet, haben Kinder und werden als normal entwickelt beschrieben[15]
Oxana Malaya19918 JahreNowaja Blagoweschtschenka, Ukraine[16]
Victoria Barr[17]19979 JahreAustin, USAlernte nie zu sprechen, lernte jedoch in Zeichensprache zu kommunizierenahmte Ratten nach
Iwan Mischukow[18][19]19986 JahreRetowa, Russlandkonnte in die Gesellschaft integriert werdenvon Hunden aufgezogen
Andrej Tolstyk[19]20047 JahreBespalowskoja, Russlandvon Hunden aufgezogen
Rochom P'ngieng200727 JahreOyadao, Kambodscha[20]
Natascha Michailowa[21]20095 JahreTschita, Russlandnahm hundeähnliches Verhalten an
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Literarische Wolfskinder

In Sage und modernerer Belletristik werden viele Wolfskinder beschrieben, denen die tierische Aufzucht zum Vorteil ausschlug. Seit der Aufklärung ist vor allem Jean-Jacques Rousseaus Konzept des Edlen Wilden für diese Vorstellung ursächlich.

Bereits in der mythischen Vorgeschichte Roms werden Romulus und Remus von einer Wölfin (lupa) gesäugt. Auch im Abstammungsmythos der frühen Türken findet sich eine ähnliche Geschichte mit dem Namen Asena-Legende; hier soll ein Junge der letzte Überlebende seines Stammes gewesen und von Wölfen aufgezogen worden sein. Auch Wolfdietrich, Protagonist des gleichnamigen mittelhochdeutschen Heldenepos, verlebt Teile seiner Kindheit in der Obhut von Wölfen. Ähnliches wird von den slowakischen Recken Waligor und Wyrwidub berichtet.

Eine berühmte moderne literarische Figur ist der von Wölfen aufgezogene Mowgli aus dem Dschungelbuch (1894, 1895) von Rudyard Kipling. Tarzan von Edgar Rice Burroughs von 1912 ist eine bis heute sehr populäre Gestalt in der literarischen Tradition des Helden, der bei wilden Tieren zu einem fähigeren und besseren Menschen wird.

Siehe auch

Literatur

  • Systema Naturae (1766, 12. Auflage)[22]
  • Johann Friedrich Blumenbach: Vom Homo sapiens ferus Linn. und namentlich vom Hamelchen wilden Peter. In: Beyträge zur Naturgeschichte. Theil 2. Göttingen 1811, S. 10–44, insbesondere S. 32–40, Online.
  • Joseph Amrito Lal Singh, Robert M. Zingg: Wolf-children and feral man (= Contributions of the University of Denver; 4). Harper, New York, 1942.
  • Joseph Amrito Lal Singh: Die „Wolfskinder“ von Midnapore. Tagebuch des Missionars (= Anthropologie und Erziehung; 10). Quelle & Meyer, Heidelberg 1964.
  • Lucien Malson: Les enfants sauvages (deutsche Ausgabe: Die wilden Kinder. Übersetzt von Eva Moldenhauer. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1972, ISBN 3-518-06555-6, zuletzt in 12. Auflage 1999; Taschenbuch ISBN 978-3-518-36555-7) – enthält den Text zweier Studien von Jean Itard: De l'éducation d'un homme sauvage (1801) und Rapport fait à S. E. le Ministre de l'Intérieur sur les nombreux développements et l'état actuel du sauvage de l'Aveyron (1807)
  • Jane Yolen: Die Wolfskinder von Midnapur. Oetinger, Hamburg 1986, ISBN 3-7891-1752-8 (Jugendbuch)
  • David Malouf: Das Wolfskind. Greno, Nördlingen 1987, ISBN 3-89190-804-0
  • Russ Rymer: Das Wolfsmädchen. Eine moderne Kaspar-Hauser-Geschichte. Hoffmann & Campe, Hamburg 1996, ISBN 3-455-11047-9 (belletristische Darstellung)
  • Friedrich Koch: Das Wilde Kind. Die Geschichte einer gescheiterten Dressur. Hamburg 1997. ISBN 978-3-434-50410-8
  • Nicole Saathoff: Der Hessische Wolfsjunge und die mittelalterliche Wahrnehmung eines „Wilden Kindes“. In: Jahrbuch für historische Bildungsforschung. ISSN 0946-3879, 7. Jg. 2001, S. 89–108
  • P. J. Blumenthal: Kaspar Hausers Geschwister. Auf der Suche nach dem wilden Menschen. Deuticke, Wien und Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-216-30632-1
  • Der Wolfskind Diskurs. In: Nicolas Pethes: Zöglinge der Natur: der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts. Wallstein Verlag, 2007, ISBN 978-3-8353-0154-2, S. 62–97.
  • Hansjörg Bruland: Wilde Kinder in der Frühen Neuzeit. Geschichten von der Natur des Menschen. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-515-09154-1
Wiktionary: Wolfskind – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
  • Nicole Ruchlak: Wolfskinder – Spekulationen über Wesen zwischen Mensch und Wolf. (mp3-Audoo) In: radioWissen auf Bayern 2. 13. Januar 2009; ehemals im Original (nicht mehr online verfügbar);.@1@2Vorlage:Toter Link/www.br-online.de (Seite nicht mehr abrufbar. Suche in Webarchiven)
  • David Crystal: Children of the Wild. In: The Cambridge Encyclopedia of Language. Cambridge University Press, Cambridge, 1987, S. 289; (englisch).
  • Feral Children: An anthropology of wild, savage and feral children. Archiviert vom Original am 20. April 2015; (englisch).
  • Christian Staas: Wolfskinder: Der Kaspar-Hauser-Komplex. In: Spiegel Online. 25. Dezember 2007;.

Einzelnachweise

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