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deutscher Anatom (Mediziner und Zoologe) und Morphologe Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Wilhelm John Lubosch (* 28. März 1875 in Berlin; † 16. Februar 1938 in Gundelsheim (Württemberg)) war ein deutscher Anatom (Mediziner und Zoologe) und Morphologe.[1]
Wilhelm Lubosch wurde im Frühjahr 1875 als Sohn des jüdischen Kaufmanns und Fabrikbesitzers Simon Lubosch (1842–1902) und dessen Ehefrau Fanny (geb. Sternfeld) geboren.[2] Nach dem Abitur am Königsstätter Gymnasium 1893 absolvierte er ein Medizinstudium in Berlin, wo er bei Heinrich Wilhelm Waldeyer mit einer Dissertation über die vergleichende Anatomie der Wurzeln des 11. Gehirnnerven promoviert wurde. Nach drei Jahren Assistenz bei Carl Hasse an der Universität Breslau ging Lubosch als Assistent von Friedrich Maurer (1859–1936) nach Jena, u. a. zu Albert von Kölliker, Hermann Braus und Ernst Haeckel, habilitierte sich (Privatdozent, 1902) und wurde hier 1907 Titular-Professor. Als solcher wechselte er 1912 nach Würzburg,[Anm. 1] wo er 1916 (noch als Soldat „im Felde stehend“) zum außerordentlichen, 1921 zum ordentlichen Professor für Topographische Anatomie (als Nachfolger Oskar Schultzes) ernannt wurde – und bis zum Tode blieb. Ab 1925 war Lubosch Vorstand der Abteilung für topographische und angewandte Anatomie. Von da an wirkte mit ihm Hans Petersen am Würzburger Anatomischen Institut, wo er bis zum Jahr 1935 tätig war.[3] In den Folgejahren widmete er sich insbesondere der Herausgabe des Handbuchs der vergleichenden Anatomie.
Lubosch war aktives Mitglied der Goethe-Gesellschaft.
Wilhelm Lubosch starb am 16. Februar 1938 im Alter von 62 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts. Ein Nachruf auf Lubosch erschien erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch den damaligen Schriftführer der Anatomischen Gesellschaft, Heinrich von Eggeling (1869–1954).[4]
Während seiner Jenaer Zeit hatte Lubosch am 8. August 1911 in Weimar die 1882 in Dorpat geborene Else Raehlmann geheiratet, eine Tochter des Ophthalmologen und ehemaligen Professors an der Universität Dorpat, Eduard Raehlmann (1848–1917).[5] Aus dieser Ehe ging 1912 der Sohn Richard Lubosch hervor, der Schiffsbauingenieur wurde und 1946 an den Folgen eines Hirntumors starb.[6]
Lubosch ist ein Vertreter der vergleichenden Anatomie und der Morphologie. Er leistete unter anderem bedeutende Beiträge zur Mikroanatomie des Bewegungsapparats (1910, 1937).
Dank seinem steten Interesse an den theoretischen Grundlagen der vergleichenden Anatomie befasste er sich mit der Morphologie im Sinne von Goethe als einer Wissenschaft, die Gesetzmäßigkeiten ohne Kausalanalysen aufdeckt (vgl. Lubosch 1918a, 1919; vgl. auch seine Geschichte der vergleichenden Anatomie im Band I des Handbuchs, 1931. S. 3-76).
Lubosch gab gemeinsam mit Louis Bolk (Amsterdam; 1845–1930), Ernst Göppert (Marburg; 1866–1945) und Erich Kallius (Heidelberg; 1867–1935) das siebenbändige Handbuch der vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere heraus. Dieses im Urban & Schwarzenberg Verlag in den Jahren 1931 bis 1939 erschienene Werk umfasste insgesamt 6380 Seiten. Lubosch galt hierbei als Spiritus rector dieses Unternehmens, welches als letzter Versuch einer umfassenden Gesamtdarstellung anzusehen ist. Der umfangreichste Beitrag erschien im zuletzt fertiggestellten (V.) Band von Lubosch selbst: über die Kopfmuskeln (1938). Nur der Indexband erschien posthum.[Anm. 2]
Doch kam es bei all den „letzten Morphologen“ wie Jan Versluys, Wilhelm Marinelli nie zum klaren Systematisieren ihrer Positionen – Marinelli etwa erwähnte die Sache bloß gelegentlich in einer Vorlesung.
Unter den Heutigen war Rupert Riedl (2006) der Einzige, der den Verlust dieser Morphologie empfand und knapp vor seinem Tod noch bedauerte.[7]
Als vergleichender Anatom war Lubosch mit einigen Fragen fast lebenslang befasst – eine lautete: „Wie ist es zur Bildung des Squamosodentalgelenks der Säugetiere gekommen?“ Alle anderen Wirbeltiere haben ja, sofern sie Kiefermäuler sind, ihr Kiefergelenk zwischen Quadratum und Articulare (dieses Gelenk besteht weiter, aber beim Menschen im Mittelohr). Lubosch glaubte, das neue Gelenk wäre vielleicht schon bei „fischartigen Säuger-Ahnen“ aufgetreten, und zwar zuerst zwischen Knorpelstücken am Unterkiefer im Ligamentum primordiale (= Lig. maxillomandibulare posterius), das Lubosch eben im Hinblick auf den ,Ursprung’ (primordium) des neuen Kiefergelenks so benannte. Diese Theorie war zwar falsch, aber man verdankt ihr eine Reihe von wichtigen Publikationen zur trigeminusinnervierten Muskulatur der Knochenfische (gipfelnd 1929). Lubosch (1923a) entdeckte auch als scheinbare Stütze der Theorie die Streptognathie bei Seepapageien (die also ein intramandibulares Gelenk zusätzlich zwischen Dentale und Articulare haben[Anm. 3]) – es ist somit ersichtlich, dass auch ein in sich beweglicher Unterkiefer zu kräftigem Beißen taugen kann.[Anm. 4] Allerdings ging Lubosch auf funktionelle Einzelheiten, die ihm die Unhaltbarkeit seiner Theorie vor Augen geführt hätten, gar nicht ein – mit der Erklärung: „Es gibt ohnehin viel mehr Formen als Funktionen.“ Wer so denkt, kann freilich dem Darwinismus nicht allzu viel abgewinnen – er fasst die belebte Natur als Bereich des ungerichteten Luxurierens zweckfreier Gestaltungskräfte auf.[Anm. 5] Lubosch war aber weder erklärter Vitalist noch Orthogenetiker; den damals auch noch verbreiteten Holismus (Hans Bökers) lehnte er ausdrücklich ab mit dem treffenden Satz „Das Ganze existiert real; aber erkennbar ist es nur in den Relationen seiner Teile“, selbst wenn (mit Aristoteles) „das Ganze vor den Teilen ist“.
Die Frage nach der Genese des sekundären Kiefergelenkes beschäftigte schon idealistische Morphologen; hingegen ist das folgende Problem erst infolge Darwins Abstammungslehre aufgetaucht. Schon in den drei (z. T. infolge Einberufung) vorläufigen Veröffentlichungen zur Trigeminusmuskulatur der Fische erwähnt Lubosch (bes. 1917) mehrfach seine neue, dem Herkömmlichen völlig entgegengesetzte Sicht auf die Verwandtschaft der Taxa: durch „Polyphylie“. „Verdacht“ geschöpft hatte er wohl schon bei der Arbeit an der Dissertation, da sich die Gestaltungen des Nervus accessorius Willisii nicht auf eine einfache Primitivform zurückführen ließen. Und bei seinen myologischen Untersuchungen sei er immer wieder auf Merkmale gestoßen, die man gemeinhin als Konvergenzen deutet. Da er aber funktionelle Unterschiede ohnehin geringachtete, kam er auf die heute fast absurd scheinende Idee, diese „Konvergenzen“ müssten Hinweise auf echte Verwandtschaft (gemeinsame Abstammung) sein. Zwar gäbe es rezent, so weit bekannt, keine Belege oder Hinweise auf phyletische „Verwandtschaft übers Kreuz“, aber für bestimmte zurückliegende Zeiten sei mit dieser Möglichkeit zu rechnen, wenn uns auch ihre Verursachung noch gänzlich unverständlich sei. In solchen „Mutationsperioden“ (Zeiten des Labilwerdens von Arten) sei noch die Möglichkeit fruchtbarer Kreuzungen trotz bereits „eingeleiteter“ erbgleicher Sonderung [Isolation] von Individuengruppen [Populationen] der Arten anzunehmen. Diese Kreuzungen, denen dann eine Nachkommenschaft mit mannigfachen neuen, konstanten Merkmals-Kombinationen entwüchse, könnten die Erklärung „für die so oft im Tierreich beobachteten Erscheinungen, dass das gleiche Merkmal sich in verschiedenen Arten und Ordnungen vorfindet und dass eine Art oder Ordnung Merkmale in sich vereinigt, die bei anderen Arten isoliert vorkommen“ geben (Lubosch 1920a).[Anm. 6]
Auf diese Weise wollte Lubosch etwa das Auftreten von „Hai-Merkmalen“ bei Teleosteern deuten oder z. B. die Muskelportion A1β in der Kaumuskulatur von Zoarces, den er zu den Blennioiden zählte, während der Muskel sonst nur bei Gadoiden zu finden sei.[Anm. 7] Die bekannte Erscheinung, dass Insektenlarven mitunter einer anderen Taxonomie „folgen“ als die zugehörigen Imagines, gehöre ebenso hierher. Systematisch belegen wollte Lubosch (1920a) seine neue Theorie, die er – im Gegensatz zur Darwinschen Deszendenzlehre – provokant als „Aszendenztheorie“ bezeichnete, durch eine Studie an den Steinheimer Schnecken. Es handelt sich hier um ein reiches Material von kleinen Tellerschnecken (Gyraulus) aus dem fossilen See des Steinheimer Meteoritenkraters, der etliche hunderttausend Jahre Bestand hatte und daher phylogenetische Serien bieten kann. Hierbei kommt aber alles auf die Interpretation an – an demselben Material hatte immerhin Franz Hilgendorf (1866) schon einen ersten „Beweis“ der Deszendenztheorie geführt! (Formal begründet Lubosch seine „Aszendenz“ ganz unlogisch mit der rückwärts in Zweierpotenzen pro Generation zunehmenden Zahl leiblicher Ahnen, was ja automatisch recht bald zur Artgrenzen-Überschreitung führen „müsse“.)
1929 wird die „Verwandtschaft übers Kreuz“ oder [reale] Polyphylie (bei den Knochenfischen) noch erörtert, danach trat sie offenbar infolge der Herausgeberarbeit am Handbuch in den Hintergrund – ob sie Lubosch aber je ganz aufgegeben hat, bleibt ungewiss. Bis heute wird sie bei Esoterikern[Anm. 8] und Darwinismusgegnern diskutiert.
Lubosch wirkte in einer Zeit, die noch stark von einem mechanistischen Denken geprägt war. So wurde das Aufeinanderzubewegen zweier Skelettteile gewissermaßen als eine mathematische Rechnung verstanden. Wichtige Zeitgenossen und Vertreter dieser sogenannten „funktionellen Anatomie“ waren beispielsweise Rudolf Fick und Hans Strasser. Lubosch erkannte hingegen als Erster die „Omniserenz“ (der Ansatz rundum) als das wesentliche Prinzip der Muskeln an.[8]
Neben seiner langjährigen Tätigkeit als Hochschullehrer beteiligte sich Wilhelm Lubosch an der damals geführten Debatte über die Bedeutung der Anatomie im Rahmen der medizinischen Ausbildung (1920 b). Hierbei verstand Lubosch es als „Aufgabe der deutschen Universitäten […] nicht nur die Kenntnis des nackten Stoffes zu vermitteln, sondern auch die wissenschaftlichen Zusammenhänge, in denen er sich befindet, darzustellen […]“ (Wiedergabe aus dem Vorwort des 1925 erschienenen Werkes Grundriss der wissenschaftlichen Anatomie).
Ferner übernahm Lubosch die Herausgabe des Atlas der topographischen Anatomie von Oskar Schultze (Abbildungen dieses Werks wurden später in dem bekannten Buch von Johannes Sobotta abgedruckt) sowie die 2. Auflage des Werkes Grundriss der mikroskopischen Anatomie von Alfred Brauchle (weitere Auflagen wurden durch Hermann Voss und dessen Schüler vorgenommen).
Insgesamt wirkte Wilhelm Lubosch in einer umbruchshaften Zeit, was auch für sein Fachgebiet, die Anatomie, mit großen Folgen versehen war. Besonders bemerkenswert ist sein offenes Eintreten für eine „humanistische“ Bildung in den Naturwissenschaften (1920c). Für sein eigenes Denken galt ihm die Antike als Vorbild ohne Vorherrschen des Kausalitätsprinzips.
Insbesondere mit seinem Buch Grundriss der wissenschaftlichen Anatomie versuchte Wilhelm Lubosch, dieses Fachgebiet der Humanmedizin mitzugestalten. Da die Lehre in der Anatomie in diesen Jahren jedoch auf ihre klinische Anwendbarkeit fokussiert wurde, fand es insgesamt eine eher kritische Aufnahme in der Fachwelt.[Anm. 9]
In seinem Spezialgebiet, der Morphologie, d. h. der „klassischen“ Betrachtung von Anatomie als Phänomenologie, kann das von ihm herausgegebene Handbuch bis heute als ein Standardwerk betrachtet werden. Zu Lebzeiten, als Anatomie in wissenschaftlicher Hinsicht verstärkt von experimentellen Ansätzen geprägt wurde, erfuhr Lubosch hierzu insgesamt jedoch nur eine geringe Resonanz. Sein Handbuch der Morphologie wurde von Hermann Hoepke in der Zeitschrift für Anatomie und Entwicklungsgeschichte durchaus wohlwollend besprochen. Weitere Vertreter der Morphologie grenzten sich später deutlich von Luboschs wissenschaftlichem Werk ab. So sagte der Anatom Dietrich Starck in einem Interview: „Ja, ich wende mich vor allem gegen die Forderung yon Lubosch physiologische Betrachtungen aus der morphologischen Analyse zu verbannen; es ist Ausdruck eines extremen Platonismus. Deshalb verstehe ich meine Arbeiten auch als deutliche und logisch begründete Absagen gegen die reine Idealistische Morphologie.“[9]
Für die geringe Resonanz zu seinen Lebzeiten sind verschiedene Faktoren zu berücksichtigen:
So war die politische Lage in Deutschland für Anti-(Neo-)Darwinisten wie Lubosch wohl nicht ersprießlich. Das Deutsche Reich förderte zwar sonst eine speziell „Deutsche Wissenschaft“, aber auf dem Gebiet der Biologie war man durchaus im darwinistischen Fahrwasser, sieht man einmal von der völkisch-sozialdarwinistischen Rassenlehre („Volk ohne Raum“ u. dgl.) ab, und bekämpfte alle (im weitesten Sinn) „lamarckistischen Abweichler“.
Zudem war Lubosch jüdischer Abstammung, wobei über sein Wirken während der Zeit des Nationalsozialismus nur wenig bekannt ist. Seine Teilnahme an dem Würzburger Treffen der Anatomischen Gesellschaft im Jahr 1934 ist fotografisch belegt. Zudem sind Schriftwechsel mit Heinrich von Eggeling und Ernst Kallius erhalten.[3][10]
Ferner mögen wissenschaftliche und wohl auch persönliche Diskrepanzen, beispielsweise zum Biologen Hans Böker[11][Anm. 10] oder zu den Schülern der von Hermann Braus vertretenen „Biologischen Anatomie“, hierbei eine Rolle gespielt haben. In den Schriften seiner Würzburger Kollegen Curt Elze und Hans Petersen finden sich keinerlei Referenzen auf Wilhelm Lubosch.
So brachte Lubosch auch seine Ablehnung einer (auf die am Ende des 18. Jahrhunderts wirkenden Anatomen Camper und Soemmering zurückgehende)[12] „Rassenanatomie“[Anm. 11] in einem veröffentlichten Vortrag über „Individual- und Durchschnittsanatomie“ (1922) zum Ausdruck.
1912 erhielt Wilhelm Lubosch den Carus-Preis der Leopoldina.
„Wäre die Anatomie nicht Wissenschaft von etwas Lebendigem, so würde sich alle Morphologie in Stereometrie, alle Ätiologie in Mechanik auflösen lassen.“
„Wer die Geschichte der vergleichenden Anatomie vorträgt, hat zwei Aufgaben zu lösen. Er muß darstellen, woher die Ideen, in deren Dienst die Wissenschaft steht, ihren Ursprung genommen haben, und er muß schildern, in welcher Reihenfolge und unter welchen Umständen der Tatsachenschatz erworben worden ist, über den wir heute in der vergleichenden Anatomie verfügen. Gehen wir dem Ursprung der Ideen nach, so werden wir auf die Quelle geführt, aus der so viel Erhabenes und Schönes unserer Kultur überhaupt stammt: auf das klassische griechische Altertum […] Dem griechischen Genius […] war es beschieden aus der Betrachtung der organischen Natur zur Entwicklung der tiefsten, bis heute nicht erschöpfend beantworteten, ja eigentlich unbeantwortbaren Fragen zu gelangen.“
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