Stocherkahnrennen

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Stocherkahnrennen

Das Tübinger Stocherkahnrennen ist ein traditionelles Bootsrennen studentischen Ursprungs auf dem Neckar. Als solches handelt es sich um ein lokal bedeutendes und überregional bekanntes touristisches Ereignis. Es findet jährlich – seit einigen Jahren immer am Fronleichnamstag – statt, Teilnehmer sind hauptsächlich lokale studentische Gruppen mit ihren Stocherkähnen. Das Stocherkahnrennen zählt zu den Höhepunkten[1] des universitären Sommersemesters, bei schönem Wetter verfolgen regelmäßig rund 15.000 Zuschauer[2][3] die Veranstaltung.

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Kostümwettbewerb (2005)
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Im Nadelöhr (2006), rechts der Schottenkahn
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Beim Nadelöhr (2012)
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Stocherkahnrennen (2023)

Geschichte und Bedeutung

Zusammenfassung
Kontext

Das Rennen wurde 1956 von Mitgliedern der Studentenverbindung Tübinger Lichtenstein ins Leben gerufen. Zu diesem Zeitpunkt hat die Verwendung von Stocherkähnen in Tübingen bereits eine lange Tradition. Die erste bildliche Darstellung eines Stocherkahns im Zusammenhang mit Tübingen stammt aus dem 16. Jahrhundert, dargestellt in der Cosmographia Sebastian Münsters. Erste Bildbelege über eine Nutzung von Stocherkähnen zu Vergnügungszwecken durch studentische Verbindungen finden sich schließlich im 19. Jahrhundert.[4]

Das Stocherkahnrennen selbst entwickelte sich aus einer Einweihungsfeier für den neu erworbenen Stocherkahn der Studentenverbindung. Die Lichtensteiner traten mit ihrem Kahn „Bluthund“ (heute Kahn #77) gegen sechs weitere Studentenverbindungen an. Das erste Schiedsgericht stellte die AV Virtembergia, da sie mangels Kahn nicht teilnehmen konnte, seither wird das Rennen regelmäßig durch den Verlierer des Vorjahres organisiert. Bereits in den Anfangszeiten des Wettbewerbs nahmen Mannschaften in Verkleidungen am Stocherkahnrennen teil. Seit 1967 wird daher zusätzlich zum Sieg im Wettrennen ein Preis für die originellste Kostümierung vergeben.[5]

Das Teilnehmerfeld der ursprünglich auf Studentenverbindungen begrenzten Veranstaltung wurde im Laufe der Zeit auch für andere Gruppierungen geöffnet. Inzwischen ist die Veranstaltung fester Bestandteil des städtischen Veranstaltungskalenders und eine touristische Attraktion,[6][7][8] die regelmäßig 10.000 Besucher,[5][9] in der Spitze sogar zwischen 15.000 und 20.000 Besucher zählt.[10][11]

Vergleichbare Traditionen in Großbritannien

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Im Ziel nach dem Boat Race (2002)

Vergleichbare studentische Stocher-Traditionen existieren unter der Bezeichnung „Punting“ (engl.: to punt = staken, stochern) im britischen Oxford und Cambridge.[12]

Wettkampfbedingungen

Zusammenfassung
Kontext

Zum Rennen zugelassen sind lediglich unmotorisierte Stocherkähne aus Holz. Eine Mannschaft besteht aus acht Personen inklusive des „Stocherers“, wobei sieben davon versuchen, mit Hilfe der Hände den Kahn weiter zu beschleunigen oder sich der anderen Kähne zu erwehren. Mit Ausnahme der Stocherkahnstange sind Hilfsmittel jedweder Art untersagt. Die Details der Wettkampfbedingungen unterliegen häufigen Änderungen und entsprechen den Vorgaben des Stocherkahngerichts, das sich aus Mitgliedern der ausrichtenden Gruppierung zusammensetzt und jährlich wechselt.

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Kostümparade (2019)

Das Stocherkahnrennen beginnt traditionell mit einer Kostümparade aller Stocherkahnmannschaften auf dem Neckar. Die zuletzt rund 50 teilnehmenden Kähne und ihre Mannschaften präsentieren sich dabei den Zuschauern und der Jury des Stocherkahngerichts in selbst gebastelten Verkleidungen.[13] Aus allen Teilnehmern wird von einer Jury der Sieger des Kostümwettbewerbs gekürt, der einen Sonderpreis erhält.

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Der Stau am Nadelöhr (2019)

Das anschließende Wettrennen führt um die Tübinger Neckarinsel herum. Die Länge der Wettkampfstrecke beträgt etwa 2,5 km,[14] der Zieleinlauf des Siegers erfolgt nach rund zwanzig Minuten.[15] Startpunkt ist eine Fußgängerbrücke westlich der Insel, von der aus die Insel nördlich umfahren werden muss. Der Wendepunkt befindet sich unmittelbar östlich der Insel, an einem Pfeiler der angrenzenden Neckarbrücke. Statt eines einfachen Wendemanövers muss der Pfeiler jedoch in Form einer Schleife umfahren werden. Der entscheidende Rennabschnitt ist dadurch der als Nadelöhr bezeichnete Zwischenraum zwischen Neckarinsel und Neckarbrücke, da er von jeder Mannschaft zweimal durchfahren werden muss. Er ist regelmäßig Schauplatz von Rangeleien, wenn sich die Stocherwege der an der Spitze liegenden, ausfahrenden Mannschaften mit denen des ebenfalls zur Wende ansetzenden Hauptfeldes kreuzen und sich die Teilnehmer somit gegenseitig blockieren. Nach Absolvierung des Nadelöhrs wird die Neckarinsel stromaufwärts im Süden umfahren, das Ziel befindet sich hinter einer Eisenbahnbrücke an der Westspitze der Insel.

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Die Verlierer des Rennens kurz vor dem Lebertrantrinken (2023)

Der Abschluss des Wettbewerbs mit Pokalvergabe und Lebertrantrinken fand früher auf dem sogenannten Bügeleisen, nahe dem Ziel am Westende der Neckarinsel, statt und heute auf einem Floß. Traditionell erhalten die Sieger des Rennens den Wanderpokal zusammen mit einem von der Stadt Tübingen gestifteten Fass Bier und verpflichten sich zur Ausrichtung der abendlichen Siegesfeier.[5][7] Die Mitglieder des Verliererteams müssen vor den Augen der Zuschauer pro Kopf jeweils einen halben Liter Lebertran austrinken und fungieren üblicherweise im Folgejahr als Veranstalter für das Rennen, was zugleich mit einer einjährigen Auszeit als Teilnehmer verbunden ist. Lebertran gibt es auch für wegen Regelwerksverstößen disqualifizierte Kähne. Ein Spanferkel als Sonderpreis geht an die Mannschaft mit der besten Kostümierung.

Regelmäßig kommt es zu Auseinandersetzungen um die Art und Weise der konkreten Austragung. Da das Reglement im Wortlaut häufig geändert wird, tauchen diesbezüglich immer wieder Unstimmigkeiten auf. So wurden 2003 die Regeln vor dem Rennen derart verschärft, dass nur studentische Gruppierungen zum Rennen zugelassen wurden. Daraufhin wurde dieses Rennen von vielen Stocherkahnfahrern boykottiert und ein weiteres, offenes Rennen im Anschluss ausgetragen. Diese scharfe Trennung wurde im Folgejahr jedoch aufgehoben.[16]

Resultate

Zusammenfassung
Kontext
Weitere Informationen Ergebnisse des Stocherkahnrennens seit 1956, Jahr ...
Ergebnisse des Stocherkahnrennens seit 1956
JahrSiegermannschaftVerlierermannschaft aKostümpreis bAnzahl Kähne Belege
1956Tübinger Lichtenstein6 [17]
1957Ev. Studentenkreis „Schwaben“Lichtenstein8 [17]
1958Akademische Verbindung Igel9 [17]
1959Akademische Turnverbindung Arminia14 [17]
1960Akademische Verbindung Igel18 [17]
1961Akademische Turnverbindung ArminiaEv. Studentenkreis „Schwaben“21 [17]
1962Akademische Verbindung Igel29 [17]
1963Verbindung NormanniaEberhardina – Markomannia35 [17]
1964Verbindung NormanniaAV Guestfalia Tübingen38 [17]
1965Verbindung Normannia [17]
1966Akademische Turnverbindung ArminiaChristliche Pfadfinder [17]
1967Verbindung NormanniaTübinger Burschenschaft Derendingia41 [17]
1968Akademische Turnverbindung ArminiaGhibelliniaLandsmannschaft Schottland35 [17]
1969Akademische Turnverbindung ArminiaSchottland14 [17]
1970Verbindung NormanniaSchottland23 [17]
1971KStV RechbergCheruskiaGhibellinia22 [17]
1972Verbindung NormanniaKönigsgesellschaft Roigel14 [17]
1973Verbindung NormanniaRoigel19 [17]
1974Landsmannschaft UlmiaRechbergRoigel16 [17]
1975UlmiaTurnerschaft HohenstaufiaNormannia13 [17]
1976Verbindung NormanniaArminiaRoigel21 [17]
1977K.St.V. AlamanniaRoigelRoigel12 [17]
1978AlamanniaStochdorphia16 [17]
1979UlmiaSchottlandStochdorphia18 [17][18]
1980Verein Deutscher StudentenEberhardina – MarkomanniaRoigel22 [17]
1981Verbindung NormanniaRechberg21 [17]
1982Akademisch-Musische Verbindung StochdorphiaHohenstaufia/UlmiaStochdorphia21 [17]
1983AV Virtembergia24 [17]
1984Alte Straßburger Burschenschaft GermaniaAV FöhrbergStochdorphia28 [17]
1985Tübinger Burschenschaft DerendingiaHohenstaufiaStudentengemeinschaft Sachsenhaus27 [17]
1986Akademische Verbindung IgelStraßburger Burschenschaft Arminia27 [17][19]
1987Akademische Verbindung IgelFachschaft ZahnmedizinCheruskia27 [17]
1988Akademisch-Musische Verbindung StochdorphiaAlamannia / SchottlandAkademische Verbindung Laetitia / Roigel32 [17]
1989Akademische Verbindung Igel / Team „Brutus“Hohenstaufia / Tübinger WingolfLaetitia / Roigel35 [17][20]
1990Team „Iltis“Rechberg / Sängerschaft Hohentübingen / Team Albrecht-Bengel-HausVerein Deutscher Studenten33 [17]
1991Team „Iltis“GuestfaliaRoigel31 [17]
1992PegasusCorps FranconiaCorps Franconia [17]
1993Team „Brutus“35 [17]
1994Team „Brutus“StochdorphiaRoigel36 [17]
1995Team „Brutus“PalatiaRoigel40 [17]
1996PegasusArminiaArminia36 [17]
1997SpleinixSängerschaft HohentübingenRoigel42 [17]
1998Stocherkahnverein Tübingen (Kahn „Brutus“)LaetitiaRoigel38 [17]
1999SleipnirStudentenwohnheim GeigerleRoigel43 [17]
2000Stocherkahnverein Tübingen (Kahn „Brutus“)GermaniaRoigel46 [17]
2001AV CheruskiaCorps BorussiaRoigel
2002Evangelisches Stift TübingenStraßburger Burschenschaft ArminiaNormannia
2003 cFachschaft SportCorps FranconiaAkademische Gesellschaft Stuttgardia Tübingen [21]
Stocherkahnverein Tübingen (Kahn „Brutus“)Leibniz KollegLeibniz Kolleg
2004Verbindung NormanniaHohenstaufiaAkademischer Skiclub Tübingen – ASCT
2005Stocherkahnverein Tübingen (Kahn „Brutus“)Burschenschaft Germania TübingenKönigsgesellschaft Roigel
2006Professorenkahn Claus HippCorps BorussiaFachschaft Geologie [22]
2007Tübinger StocherkahnvereinSängerschaft HohentübingenAkademische Gesellschaft Stuttgardia Tübingen [23][24]
2008Carusos SängerTübinger WingolfFachschaft Geowissenschaften55 [25]
2009Fachschaft ZahnmedizinVerein Deutscher StudentenFachschaft Geowissenschaften47 [26][27]
2010Team OktopusAlte Straßburger Burschenschaft GermaniaTeam Geowissenschaften 254 [28]
2011Fachschaft der SportwissenschaftlerAV Guestfalia TübingenFachschaft Geowissenschaften56 [29]
2012SportwissenschaftlerinnenSchottlandJugendhaus Lustnau54 [30][31]
2013Fachschaft der SportwissenschaftlerStraßburger Burschenschaft Arminia dFachschaft Geowissenschaften55 [32][33]
2014Akademisch-Musische Verbindung StochdorphiaAkademische Verbindung IgelFachschaft Geowissenschaften57 [34]
2015Ehemaligste Fachschaft SportSängerschaft HohentübingenJugendhaus Lustnau47 [35][36][37]
2016 Ehemaligste Fachschaft Sport Corps Borussia Fachschaft Geowissenschaften 52 [38][39][40][41]
2017 Akademische Turnverbindung Arminia Alte Straßburger Burschenschaft Germania Fachschaft Geowissenschaften 53 [42][43][44][45]
2018 Team Orang Ukahn Verein Deutscher Studenten Fachschaft Umweltnatur- und Geowissenschaften 56 [46][47]
2019 Nicaria AV Guestfalia Fachschaft Umweltnatur- und Geowissenschaften 53 [48]
2020 – 2021 e [49]
2022 Nicaria Landsmannschaft Ghibellinia Fachschaft Umweltnatur- und Geowissenschaften 43 [50][49]
2023 ATV Arminia Turnerschaft Hohenstaufia Fachschaft Umweltnatur- und Geowissenschaften/Akademischer Skiclub Tübingen 46 [51][52][53][54][55][56][57][58]
2024 Team Orang Ukahn Alte Turnerschaft Palatia Akademischer Skiclub Tübingen 43 [59][60][61][62][63][64][65][66]
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Weitere Quellen: Tübinger Blätter, Schwäbisches Tagblatt.

a 
Die Verlierermannschaft ist üblicherweise der Ausrichter des nächsten Jahres.
b 
Wird erst seit 1967 vergeben.
c 
Wegen einer Regelwerksverschärfung fanden 2003 zwei Rennen statt. Rennen 1 wurde ausschließlich von studentischen Gruppen ausgetragen, Rennen 2 stand allen interessierten Gruppen offen.
d 
Wegen „absichtlichen Verlierens“ und unsportlichen Verhaltens wurde die Mannschaft der AV Cheruskia Tübingen disqualifiziert. Die für diesen Regelverstoß zugedachte Strafe (Lebertran zu trinken) wurde demonstrativ verweigert.[67]
e 
2020 und 2021 wurde das Stocherkahnrennen aufgrund der COVID-19-Pandemie nicht ausgetragen.

Siehe auch

Sonstige Rezeption

Literatur

  • Stefan Hug, Jörg Mielke: Die Stange bleibt am Mann. Der Stocherkahn und das Stocherkahnrennen in Tübingen. Universitas Verlag, Tübingen 2000, ISBN 3-924898-30-8.
  • Ingeborg Weber-Kellermann: Volksfeste in Deutschland (= HB-Bildatlas spezial. Band 3). HB-Verlag, Hamburg 1981, DNB 830972137.
Commons: Stocherkahnrennen – Sammlung von Bildern

Einzelnachweise

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