Stanisław Jerzy Lec

polnischer Aphoristiker Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Stanisław Jerzy Lec

Stanisław Jerzy Lec (staˈɲiswaf ˈjɛʐɨ lɛts) (* 6. März 1909 als Baron Stanisław Jerzy de Tusch-Letz in Lemberg, Königreich Galizien und Lodomerien/Österreich-Ungarn; † 7. Mai 1966 in Warschau) war ein polnischer Lyriker und Aphoristiker.

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Stanisław Jerzy Lec

Leben

Zusammenfassung
Kontext

Kindheit und Jugend in Lemberg und Wien

Lec stammte aus einer großbürgerlich-jüdischen, ob ihrer Verdienste geadelten Familie, die in Czortków in Galizien (heute Чортків in der Ukraine) ansässig gewesen war. Stanisław war das einzige Kind von Baron Benno Letz de Tusch, eines Großgrundbesitzers und Bankdirektors, und seiner Ehefrau Adéle, die als Tochter von Jan de Safrin von sephardischen Juden abstammte. Die Schreibweise Letz entspricht den k.u.k. Urkunden, in den 1920er Jahren wurde sie zu Lec polonisiert. Beide Eltern konvertierten zum Protestantismus. Die privilegierte Familie, die Ländereien in Podolien und der Bukowina besaß, lebte in Lemberg, der damals viertgrößten Stadt Österreich-Ungarns, die zugleich Hauptstadt des teilweise mit Autonomierechten versehenen KronlandesKönigreich Galizien und Lodomerien“ war.

Meine größte Seinsfrage ist, warum ich ausgerechnet für diese Jahre eingeplant worden bin, wo doch die ganze Ewigkeit zur Verfügung stand.[1] Dies könnte, wie viele seiner Aphorismen, für einen Satz aus seiner Autobiographie stehen – geschrieben mitten in einem Jahrhundert, das von Kriegen, Vertreibungen, Bevölkerungs- und Völkermorden in einem bis dahin unvorstellbaren Ausmaß geprägt wurde.

Die behütete Kindheit begann sich 1914 mit dem Ersten Weltkrieg zu ändern. Als die Kaiserlich Russische Armee die Schlachten in Galizien gewann, was zur Besetzung von Ostgalizien samt Lemberg führte, floh die Familie nach Wien. Der Vater starb dort am 5. Oktober 1915 mit nur 43 Jahren[2] an Herzversagen, der Geschäftsbankrott ruinierte die Familie teilweise. Für Stanisław blieb Wien trotzdem zeitlebens ein Sehnsuchtsort, einschließlich einer ironischen Verklärung der Habsburgischen Monarchie. Erst nach dem Kriegsende kehrten Mutter und Sohn zurück nach Lemberg, das zwischenzeitlich zur Westukrainischen Volksrepublik gehört hatte, nach dem Polnisch-Ukrainischen Krieg aber im November 1918 Teil der Zweiten Polnischen Republik geworden war. Die Stadt hieß nun Lwów und wurde ab 1921 Hauptstadt der gleichnamigen Woiwodschaft. Die Latifundien der Familie waren enteignet worden oder mussten in der Folgezeit stückweise verkauft werden.

Nach Schulbesuchen in Wien und Lemberg machte Lec 1927 am deutschsprachigen, koedukativen „Jozefa S. Goldblatt-Kamerling“-Privatgymnasium von Lemberg das Abitur und studierte bis 1933 an der dortigen Jan-Kazimierz-Universität ein Jahr Polonistik und danach Jura, mit einem Abschluss als „Magister iuris“.

Erste schriftstellerische Tätigkeiten in Lemberg und Warschau

Um 1929 gründete er zusammen mit Studienkollegen und Freunden wie Leon Pasternak (1910–1969) und Jan Śpiewak (1908–1967) eine Gruppe junger linker Dichter; ihre Monatszeitschrift Tryby (Getriebe) bekam schon nach der ersten Ausgabe 1931 Probleme mit der Zensur und wurde von den Behörden verboten. 1933 erschien sein erster Gedichtband Barwy (Farben), der u. a. düstere Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg widerspiegelt und ironische Gesellschaftskritik enthielt. Aufgrund seiner sozialpolitischen bzw. sozialistischen Ansichten, die sich z. B. in seinen Gerichts-Kolumnen unter dem Pseudonym „Stach“ in der Zeitung Dziennik Popularny (Volksblatt) niederschlugen, wurde er von der Polizei als „unzuverlässig“ betrachtet. In einem seiner späteren Aphorismen hieß es: Wie beurteilt man einen Staat am gerechtesten? Einfach – auf Grund seiner Gerichtsbarkeit.[3] Angesichts der 1934 propagierten „Jagd auf Linke“ verließ er rechtzeitig seine Heimatstadt und ging nach Warschau. Leon Pasternak kam währenddessen per Verfügung in das berüchtigte politische Gefängnis Bereza Kartuska.

Nach Pasternaks Freilassung gründeten beide 1936 in Warschau das literarische Kabarett „Teatr Pętaków“, auch „Teatr Krętaczy“ genannt, das nach nur acht Vorstellungen von den Behörden geschlossen wurde. Als Lyriker und als Satiriker schrieb Lec für verschiedene Blätter wie Szpilki (Nadeln, Nadelstiche), Sygnały (Signale), Lewar (Wagenheber[4]), Lewy Tor (Linkes Gleis), Cyrulik Warszawski (Der Barbier von Warschau), Skamander[5] und Czarno na Białem (Schwarz auf Weiß), die zu einem Teil der linken intellektuellen Szene zuzuordnen sind. 1935 wurde in Warschau sein zweiter Gedichtband unter dem Titel Zoo: wiersze satyryczne (Zoo: satirische Gedichte) veröffentlicht, mit den 1936 folgenden Satyry patetyczne (Pathetische Satiren) erreichte er seinen damaligen stilistischen Höhepunkt. Mit dem Verbot der Dziennik Popularny 1937 befürchtete Lec erneut Verhaftung, so dass er für kurze Zeit nach Rumänien und Podolien und schließlich wieder nach Warschau ging. Sein zeitweiser Aufenthalt in Podilla schlug sich im Manuskript von Ziemia pachnie (Die Erde riecht) nieder, doch der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verhinderte das Erscheinen.

Überleben zwischen den Fronten und Widerstand im Zweiten Weltkrieg

Dem Überfall auf Polen durch die Wehrmacht am 1. September 1939 folgte per deutsch-sowjetischem Nichtangriffspakt kurz darauf die sowjetische Besetzung Ostpolens. Lec, der von Warschau zurück nach Lemberg geflohen war, befand sich nun hinter der von der Roten Armee vollzogenen Curzon-Linie. Er unterstützte das Referendum vom 19. November 1939 für die Eingliederung des – historisch immer wieder umstrittenen – „Grenzlandes“ in die Belorussische und die Ukrainische SSR, die beide von der sowjetischen Regierung und der KPdSU in Moskau abhängig waren; aus Lwów wurde Львів/Lwiw. Gleichzeitig begann er für die sowjetische Propaganda in seiner nun westukrainischen Heimat zu arbeiten. 1940 trat er dem Nationalen Schriftstellerverband der Ukraine bei. Seine regimefreundlichen Beiträge, etwa in der polnischsprachigen Tageszeitung Czerwony Sztandar (Rote Fahne, hrsg. v. kommunistischen Stadtkomitee), und (wie damals üblich und von Lyrikern gefordert) eine Hymne auf Stalin brachten nachgeborene Kritiker dazu, ihn als antipolnischen „Sowjetkollaborateur“ zu betrachten.[6] In Lec’ Worten: Es ist schwer erkennbar, wer freiwillig mit dem Strom schwimmt.[7] Sei Realist: sprich nicht die Wahrheit.[8] Die offizielle Pflichtsprache ist der beste Knebel.[9] Die Aufgabe, Legenden zu erfinden, übernahm vom Volksmund die öffentliche Hand.[10] Perfide Henker lockern ihren Opfern die Schlinge.[11] Tatsächlich ging es nicht um die berufliche Existenz, sondern um ein physisches Überleben: Vorläufig war er der deutschen Besetzung Polens, der Verhaftung, Internierung und ggf. Erschießung durch die Einsatzgruppen der deutschen Gestapo oder SS (auch im Rahmen der „Intelligenzaktion“) sowie den damaligen antisemitischen Pogromen der ansässigen Bevölkerung entronnen – jetzt drohten ihm schon bei geringem Verdacht die Verfolgung und möglicherweise Vernichtung durch den sowjetischen NKWD, eine Deportation oder Zwangsarbeit im Gulag.[12] Aleksander Wat, der sein Kollege beim „Roten Banner“ und ebenfalls jüdischer Abstammung war, entging zwar dem Tod, aber nicht der Verhaftung im Januar 1940, Geheimdienst-Verhören in der Lubjanka und der Verbannung samt Frau und Kind nach Kasachstan.[13][14]

Der Einmarsch deutscher Truppen beim Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 war der vierte gravierende Machtwechsel dieser Region zu Lecs Lebzeiten. Er wurde verhaftet, zunächst in das Zwangsarbeitslager Lemberg-Janowska und dann in ein Konzentrationslager bei Tarnopol gebracht, wo er wiederholt zu fliehen versuchte. Als Lec sich im Juli 1943 zur Erschießung sein eigenes Grab schaufeln sollte, konnte er entkommen. Mittels deutscher Uniform floh er durch das nun errichtete Generalgouvernement wieder zurück nach Warschau und arbeitete dort für die Presse der Untergrundbewegung. Später schloss er sich den polnischen Partisanen in der Woiwodschaft Lublin an. Er wurde Mitglied der kommunistischen Arbeiterpartei Polens (Polska Partia Robotnicza) und deren bewaffneten Widerstandes, der Gwardia Ludowa/Armia Ludowa, und nahm im Mai 1944 an der Schlacht bei Rąblów teil. Nach der territorialen Befreiung arbeitete Marcel Reich-Ranicki im Oktober 1944 unter dem damaligen Oberleutnant „Łukasz“ beim Aufbau einer Propaganda- und Übersetzungseinheit der polnischen Volksarmee.[15] Lec wurde in der 1. Polnischen Armee bis zum Rang eines Majors der Reserve befördert. Für seine Verdienste im Widerstandskampf wurde er mehrfach dekoriert, u. a. mit dem Partisanenkreuz, der Medaille für Warschau 1939–1945 und der Medaille des Sieges und der Freiheit 1945.

„Pole, Jude, Europäer“ – das Wirken ab 1945

Zusammen mit Leon Pasternak und dem Karikaturisten Jerzy Zaruba (1891–1971) gründete er 1945 in Lódź die satirischen Zeitschrift Szpilki neu. Im 1946 erschienenen Band Notatnik polowy (Feldnotizbuch) reflektierten die Gedichte seine Kriegszeit. Im selben Jahr veröffentlichte er den Satireband Spacer cynika (Spaziergang eines Zynikers), 1948 Życie jest fraszką (Das Leben ist ein Scherzgedicht).

Als Presseattaché der Polska Misja Polityczna/Polskie Przedstawicielstwo Polityczne (Polnische Politische Mission/Polnische Politische Agentur) arbeitend, lebte er von 1946 bis 1950 mit seiner Frau Elżbieta (geb. Cukierman/Zukerman, geänd. Rusiewicz, 1918–1995)[16] und den beiden Kindern Małgorzata (* 1944) und Jan (* 1946) in Wien. Nowe wiersze (Neue Gedichte) von 1950 waren dort bereits teilweise unter dem Titel Über Brücken schreitend auf Deutsch übersetzt erschienen. Er beobachtete jedoch besorgt, wie sich der damals stalinistisch geprägte polnische Staat in der Ära von Bolesław Bierut entwickelte, mit dem beklemmenden, immer stärker werdenden Anspruch, die Menschen tiefgreifend zu kontrollieren und zu drangsalieren.

Seiner Abberufung in Wien kam er 1950 durch die Übersiedlung mit seiner Familie nach Israel zuvor. Das „Gelobte Land“ blieb ihm fremd, so dass er 1952 mit seinem Sohn nach Warschau zurückkehrte. Der Verband der Polnischen Literaten (Związek Literatów Polskich) hatte ihn inzwischen ausgeschlossen, seine Bücher waren aus den Bibliotheken entfernt worden, Bekannte mieden ihn. Er heiratete zum zweiten Mal, aus seiner Ehe mit der Schauspielerin Krystyna Światońska stammt sein jüngster Sohn Tomasz (* 1955). Mit einem Veröffentlichungsverbot belegt, wandte sich Lec der Übersetzung von deutschen, russischen, weißrussischen und ukrainischen Dichtern zu. Die Literatin Joanna Kulmowa sah darin wenigstens einen positiven Aspekt, denn „er musste nicht widerliche Dinge schreiben und Fußtritte verteilen, wie manch einer, der sich noch vor kurzem als sein Freund bezeichnet hatte. Er musste es nicht, denn er durfte es nicht – also war er frei. Auf eine paradoxe Weise frei. Freibaron de Tusch-Lec.“[17] Wenngleich zusätzlich mit einem Reiseverbot belegt, aber: Ein Staat, aus dem die Bürger nicht herauskönnen, hat wohl keinen Ausweg.[18]

Seine eigenen Gedichte aus der Zeit in Israel konnten 1956 als Rękopis jerozolimski (Jerusalemer Handschrift) erscheinen. Mit dem „Polnischen Oktober1956, dessen Ereignisse zu einer Liberalisierung der Politik führten, begann seine Karriere vor allem zu einem der wesentlichsten Aphoristiker des 20. Jahrhunderts, wobei er mit doppel- und mehrdeutigen Formulierungen „Sprengstoff mit stilistischen Sicherheitsvorkehrungen“[19] entwickelte. Bereits im Oktober 1957 endete die polnische „Tauwetter-Periode“, womit auch wieder literarische Zensur eingeführt wurde – ohne dass Lec, erneut Mitglied des Schriftstellerverbandes, sich davon noch beirren ließ. Jede Religion datiert die Weltschöpfung anders. Bei uns herrschten bis vor kurzem die Bekenner einer Religion, nach der die Welt ihren Anfang 1944 genommen habe.[20] Sieht sich ein Staat von einem kleinen Gedanken bedroht, ist es klar, daß der Gedanke groß und der Staat klein ist.[21]

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Grab von Stanisław Jerzy Lec auf dem Powązki-Friedhof

Inspiriert wurde Lec auch durch seine Übersetzungen: Gedichte von Goethe, Grillparzer, Lessing, Morgenstern und vor allem von Heine, aber auch Werke von Brecht[22], Kraus, Ringelnatz, Trakl und Tucholsky. Er selber liebte den zwei- oder vierzeiligen, epigrammhaft scherzenden Lyrik-Stil, auf Polnisch fraszką genannt. Nach einer ersten Fassung der Myśli nieuczesane (Unfrisierte Gedanken) von 1957 folgten 1959 deren zweite Auflage sowie Z tysiąca i jednej fraszki (Aus tausendundeinem Scherzgedicht) und Kpię i pytam o drogę (Ich spotte und frage nach dem Weg), 1961 Do Abla i Kaina (An Abel und Kain), 1963 List gończy (Steckbrief) und 1964 Poema gotowe do skoku (Gedichte auf dem Sprung). 1964 erschienen auch die Myśli nieuczesane nowe (Neue unfrisierte Gedanken) und 1966 Frazkobranie (Scherzgedicht-Lese). 1961 wurde er von der polnischen Vereinigung der Bühnenautoren und -komponisten (ZAiKS) für sein satirisches Werk ausgezeichnet.

Schon längere Zeit erkrankt, starb Lec am 7. Mai 1966 in Warschau an Magenkrebs. Noch 1966 mit dem Orden Polonia Restituta ausgezeichnet, erhielt er ein Staatsbegräbnis mit militärischen Ehren auf dem Powązki-Militärfriedhof in Warschau, die Ehrenwache hielten seine schriftstellerischen Weggefährten Jarosław Iwaszkiewicz und Artur Międzyrzecki.

Grabinschrift: Es ist nicht leicht, nach dem Tod zu leben. Manchmal muss man dafür sein ganzes Leben opfern.[23]

Der Aphoristiker – Werk und Rezeption

Zusammenfassung
Kontext

Nomen est omen – bereits im Familiennamen Letz schien die Bestimmung enthalten: im Jiddischen bezeichnet ליצ den Lästerer, Spötter, Clown oder eben Satiriker. Und trotz seiner lyrischen Ambitionen[24]: Von der Mehrzahl der Werke bleiben nur Zitate übrig. Ist es dann nicht besser, von Anfang an nur die Zitate aufzuschreiben?[25]

Seine zahlreichen, sich zuweilen ähnelnden, ergänzenden oder (scheinbar) widersprechenden Aphorismen, die er in „Sudelhefte“[26], auf Zettel oder Café-Servietten schrieb, waren ursprünglich zumeist durch Zeitungen wie Świat (Die Welt, 1951–1969, nach der Krise der März-Unruhen 1968 in Polen[27] verboten) bekannt geworden. Sie werfen nicht nur ein ironisches Bild auf menschliche Eitelkeiten und Schwächen (Ich bin schön, ich bin stark, ich bin weise, ich bin gut. Und ich habe das alles selbst entdeckt![28]), sondern auch ein messerscharf kritisches, teils sehr sarkastisches Licht auf alle (sich doch wiederholenden) Formen von Ideologien sowie des autokratischen Denkens und Handelns. Er selbst bezeichnete diese Gedanken als eigentlich 6 000 Jahre alt, so alt, dass die Welt die Erinnerung an sie nur längst vergessen gehabt hätte.[29] Sich dabei wohl bewusst: In jeder Epoche fallen die gleichen Worte, aber andere Köpfe.[30]

Die internationale Popularität begann in Deutschland, mit den von Karl Dedecius kongenial übersetzten[31], in mehreren Folgen (und späteren Zusammenstellungen) seit 1959 im Carl Hanser Verlag München verlegten Unfrisierten Gedanken – der Titel ist eine Anspielung auf ein Zitat[32] von und gleichzeitig eine Verneigung vor Heinrich Heine. In den 1970er Jahren, der Zeit der beginnenden freundlicheren Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland, wurden regelmäßig in der ZEIT eine Handvoll Aphorismen des damals schon verstorbenen Lec veröffentlicht. Die 1978 in der DDR erschienene Auswahl[33] war dort eine gesuchte Rarität, ebenso wie im gleichen Jahr in der Sowjetunion die erste russische Übersetzung (von Wladimir Rossels)[34]; es kursierten deshalb hand- und maschinenschriftliche Kopien. Teile seines Werkes wurden außerdem u. a. ins Albanische, Belorussische, Bulgarische, Dänische, Englische, Estnische, Finnische, Französische, Hebräische, Italienische, Kroatische, Lettische, Litauische, Niederländische, Schwedische, Serbische, Slowakische, Spanische, Tschechische, Türkische, Ukrainische und (aus dem Russischen) ins Vietnamesische übersetzt.

Die in Polen im Laufe der Jahrzehnte bereits mehrfach erweiterten Auflagen wurden in der Ausgabe von 2006 um zusätzliche, z. T. zuvor der Zensur zum Opfer gefallene Aphorismen ergänzt, so dass die Myśli nieuczesane wszystkie insgesamt 4 711[35] seiner „unfrisierten Gedanken“ zählten, die Jubiläumsausgabe der Myśli nieuczesane von 2017 nochmals 101 mehr[36]. Für den Literaturwissenschaftler Michał Paweł Markowski sind es Ein-Satz-Zusammenfassungen von Freud, Nietzsche, Bergson, Heidegger, Wittgenstein und vielen anderen modernen Philosophen, scheinbar beiläufig und sorglos, aber nie zufällig, verbunden mit anderen Gedanken, die sich um dieselben Themen drehen, nämlich die Wahrheit, Sprache, Existenz, den Teufel, Gott, womit ihm der Ruf des größten und zugleich ernsthaftesten polnischen Schriftstellers zustehe.[37] Für Marcel Reich-Ranicki gehörte Lec „vor dem Krieg zu den besten polnischen Satirikern der jungen Generation“[38] und wurde danach „der weitaus bedeutendste europäische Aphoristiker in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts.“[39]

Stanislaw Wygodzki würdigte ihn in der Encyclopaedia Judaica als eine einzigartige Kombination aus der polnischen und der ausgelöschten polnisch-jüdischen Kultur, der in sich den Witz eines Narren mit der traurigen Weisheit eines Rabbis vermengte, was er mit brillant komprimierten, tief philosophischen einzelnen Sätzen oder Sentenzen auf den Punkt zu bringen vermochte.[40]

„Es gibt bei bei Lec Parallelen und Pointen, Techniken und Wortspiele à la Lichtenberg, Ebner-Eschenbach, Ringelnatz, Kästner, Kraus, aber niemals ohne schöpferische Eigenleistung, ohne triftige akute Bezüge oder Bilder. Wo Lichtenberg die anmutige Ironie eines gelehrten Kauzes, Karl Kraus die Bissigkeit eines Misanthropen kennzeichnet, ist Lec die melancholische Menschenfreundlichkeit eigen, das Lächeln mit der Träne im Auge.“ Karl Dedecius[41]

„Er hat noch anderes geschrieben, aber die Unfrisierten Gedanken haben seinen Ruhm begründet. Es ist nämlich ein Buch, von dem jeder zivilisierte, nachdenkliche Mensch jeden Abend drei oder vier Zeilen lesen sollte, bevor er einschläft (wenn er es dann noch kann).“ Umberto Eco[42]

Aphorismen

  • Wenn es nichts zu lachen gibt, kommen Satiriker auf die Welt.[43]
  • Wenn ich zum zweiten Mal geboren werde, laß ich mich gleich unter einem falschen Namen eintragen.[44]
  • Geh mit der Zeit, aber komme von Zeit zu Zeit zurück.[45]
  • Viele, die ihrer Zeit vorausgeeilt waren, mußten auf sie in sehr unbequemen Unterkünften warten.[46]
  • Es bedarf großer Geduld, um sie zu lernen.[47]
  • Die erste Vorbedingung für die Unsterblichkeit ist das Sterben.[48]
  • Schade, daß man ins Paradies mit einem Leichenwagen fährt![49]
  • Alle Götter waren unsterblich.[50]
  • Ob ich gläubig bin? Das weiß nur Gott allein.[51]
  • Vielleicht hat Gott selber mich zum Atheisten auserwählt?[52]
  • Wahre Auserwählte haben keine Wahl.[53]
  • Man unterscheidet zwei Arten von Teufeln: degradierte Engel und beförderte Menschen.[54]
  • Man kann das »Lied der Freiheit« nicht auf dem Instrument der Gewalt spielen.[55]
  • Die Uhr schlägt. Alle.[56]
  • Gedankenlosigkeit tötet. Andere.[57]
  • Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie.[58]
  • Liebet eure Feinde, vielleicht schadet das ihrem Ruf.[59]
  • Das Gesicht des Feindes entsetzt mich, weil ich sehe, wie sehr es meinem eigenen ähnelt.[60]
  • Ich habe von Freud geträumt. Was bedeutet das?[61]
  • Bestimmte Wirtschaftstheorien leiden am Freudschen Mehrwertkomplex.[62]
  • Ich hätte viele Dinge begriffen, hätte man sie mir nicht erklärt.[63]
  • Tiefe kann man durch Färbung vortäuschen.[64]
  • Den Blick in die Welt kann man mit einer Zeitung versperren.[65]
  • Unser Unwissen erobert immer weitere Welten.[66]
  • Trotz immer schnellerer Verkehrsmittel kommen wir immer langsamer an unsere Ziele.[67]
  • Die Technik ist auf dem Weg, eine solche Perfektion zu erreichen, daß der Mensch ohne sich selbst auskommt.[68]

… und quasi aus seiner eigenen Todesanzeige:

  • Er ist nicht tot. Er hat seine Lebensweise geändert.[69]

Publikationen

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Kontext

Originalausgaben

  • Barwy: poezje [Farben: Gedichte]. Nakł. Księgarni Nowości, Lwów 1933. (Neuausgabe als „Reprint wydany w 50. rocznicę śmierci poety“ mit Nachworten von Lidia Kośka und Tomasz Lec. Noir sur Blanc, Warszawa 2016)
  • Zoo: wiersze satyryczne [Zoo: satirische Gedichte]. Instytut Wyd. „Sfinks“, Warzawa 1935.
  • Satyry patetyczne [Pathetische Satiren]. M. Fruchtman, Warzawa 1936.
  • Spacer cynika: satyry [Spaziergang eines Zynikers: Satiren]. Czytelnik, Warzawa 1946.
  • Notatnik polowy: poezje [Feldnotizbuch: Gedichte]. Spól. Wyd. Ksiażka, Warzawa 1946.
  • Życie jest fraszką [Das Leben ist ein Scherzgedicht]. Ksiazka, Warzawa 1948.
  • Nowe wiersze [Neue Gedichte]. Ksiazka & Wiedza, Warzawa 1950.
  • Rękopis jerozolimski [Jerusalemer Handschrift]. Czytelnik, Warzawa 1956.
  • Myśli nieuczesane [deutsche Aufl. als Unfrisierte Gedanken]. Wyd. Literackie, Kraków, 1957.
  • Z tysiąca i jednej fraszki [Aus tausendundeinem Scherzgedicht]. Państwowy Wyd. „Iskry“, Warzawa 1959.
  • Kpię i pytam o drogę [Ich spotte und frage nach dem Weg]. Wyd. Literackie, Kraków 1959.
  • Do Abla i Kaina [An Abel und Kain]. Państwowy Instytut Wyd., Warzawa 1961.
  • List gończy [Steckbrief]. Państwowy Instytut Wyd., Warzawa 1963.
  • Myśli nieuczesane nowe [deutsche Aufl. als Neue unfrisierte Gedanken]. Wyd. Literackie, Kraków, 1964.
  • Poema gotowe do skoku [Gedichte auf dem Sprung]. Państwowy Instytut Wyd., Warzawa 1964.
  • Frazkobranie [Scherzgedicht-Lese]. Państwowy Wyd. „Iskry“, Warzawa 1966.
  • Myśli nieuczesane wszystkie [Alle unfrisierten Gedanken]. Noir sur Blanc, Warszawa 2006; erweiterte und um Fußnoten ergänzte Neuausgabe als Myśli nieuczesane. Noir sur Blanc, Warszawa 2023.
  • Fraszki [Scherzgedichte]. Hrsg. und Nachwort von Lidia Kośka, Gestaltung Tomasz Lec. Noir sur Blanc, Warszawa 2024.

Deutschsprachige Ausgaben

Herausgegeben und aus dem Polnischen übersetzt von Karl Dedecius, wenn nicht anders vermerkt.

  • Über Brücken schreitend. Gedichte. Übersetzt von Helene Lahr, mit einem Vorwort von Franz Theodor Csokor. Zwei Berge, Wien 1950.
  • Unfrisierte Gedanken. Bilder von Herbert Pothorn. Hanser, München 1959.
  • Neue unfrisierte Gedanken. Bilder von Daniel Mróz. Hanser, München 1964.
  • Letzte unfrisierte Gedanken. Aphorismen. Mit fünf Zeichnungen von Heinz Edelmann. Hanser, München 1968.
  • Spätlese unfrisierter Gedanken. Hanser, München 1976.
  • Das große Buch der unfrisierten Gedanken. Aphorismen, Epigramme, Gedichte und Prosa. Hanser, München 1971
  • Alle unfrisierten Gedanken. Hanser, München 1982
  • Allerletzte unfrisierte Gedanken. Mit Zeichnungen von Zygmunt Januszewski. Hanser, München 1996.
  • Steckbriefe. Epigramme, Prosa, Gedichte. Hanser, München 1986.
  • Sämtliche unfrisierte Gedanken. Dazu Prosa und Gedichte. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1996. Neuausgabe: Sanssouci im Carl Hanser Verlag, München 2007, ISBN 3-8363-0058-3.
  • Liebet eure Feinde, vielleicht schadet das ihrem Ruf. Unfrisierte Gedanken zur Macht. Ausgewählt von Heiner Geißler, illustriert von Jiří Slíva. Sanssouci, München 2001, ISBN 3-7254-1221-9.

Literatur

Nachweise

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