Praetorium Agrippinae
römerzeitliche, militärisch-zivile Agglomeration am Niedergermanischen Limes Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
römerzeitliche, militärisch-zivile Agglomeration am Niedergermanischen Limes Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Praetorium Agrippinae ist der Name einer römerzeitlichen militärisch-zivilen Agglomeration am Niedergermanischen Limes, der 2021 zum UNESCO-Weltkulturerbe erhoben wurde.
Zu dem archäologischen Befundkomplex gehört insbesondere das Auxiliarlager Kastell Valkenburg. Das ehemalige Militärlager und heutige Bodendenkmal liegt in Valkenburg, einem Ortsteil der Gemeinde Katwijk in der niederländischen Provinz Zuid-Holland. Es gilt als einer der bestuntersuchten römischen Garnisonsorte in den Niederlanden und Europa, zum einen, weil es nahezu vollständig ausgegraben werden konnte, zum anderen, weil nirgendwo sonst gerade die frühesten Holzbauphasen in der Entwicklung römischer Kastelle so deutlich wurden wie dort. Auch der zum Kastell gehörende, weitläufige Vicus Valkenburg (Zivilsiedlung) konnte zu großen Teilen untersucht werden.[1]
Im Herbst 2020 wurde zudem westlich des Siedlungsabschnittes Marktveld auf einem ehemaligen Fliegerhorst das temporäre frührömische Legionslager Valkenburg entdeckt.
Vermutlich stand der Garnisonsort Valkenburg im unmittelbaren Zusammenhang mit den unter Caligula 39/40 gescheiterten und unter Claudius schließlich 43 erfolgten Eroberung Britanniens[2][3][4][5][6][7][8][9][10] und wurde erst anschließend zu einem Bestandteil des Niedergermanischen Limes.
Praetorium Agrippinae lag in römischer Zeit im Mündungsgebiet des Oude Rijn, unmittelbar an dessen südwestlichem Ufer. Das in antiker Zeit grundlegend anders aussehende Gelände war zu Siedlungszwecken nur bedingt geeignet. Die Landschaft und das mehrere Kilometer breite Flussgebiet des Oude Rijn waren stark durch die Gezeitenwirkung der nur knapp vier Kilometer entfernten Nordsee geprägt. So wurde auch in nachrömischer Zeit der nordöstliche Bereich des Valkenburger Militärlagers von den Tiden weggespült. Feste, wassergeschützte Siedlungsplätze konnten nur auf den Rücken der Strandwälle und Dünen längs der Nordseeküste und auf den Uferwällen des Rheins angelegt werden. Die tiefer gelegenen Bereiche waren von marinen und fluvialen Tonsedimenten bedeckt. Die Verkehrswege orientierten sich sowohl in der vorrömischen als auch in der römischen Zeit an den topographischen Gegebenheiten und nutzten dabei ebenfalls die höher gelegenen Geländeformationen. Trotz des schwierigen Geländes lässt sich vom Beginn der frühen Eisenzeit bis hin zu den Cananefaten der römischen Zeit eine intensive Besiedlung der Region nachweisen.[11][12]
Infolge der notwendigen Anpassung an die topographische Situation befinden sich die römischen Befunde auf insgesamt drei, von ehemaligen Gezeitenrinnen unterbrochenen und mit Brücken verbundenen Höhenrücken, die sich von Nord nach Süd längs des Flussverlaufes wie folgt erstreckten:
1941 entdeckte Albert van Giffen in Valkenburg eine römische Scherbe mit dem Graffito GRIPPIN. Er ergänzte die Inschrift zu [A]GRIPPIN[AE] („der Agrippina“) und stellte so einen Zusammenhang zu dem in der Tabula Peutingeriana verzeichneten Ort PRAETORIUM AGRIPPINAE (Praetorium der Agrippina, im Original Praetoriu agrippine) her, dessen Abstände zu den Kohortenkastellen Albaniana und Lugdunum Batavorum zur Befundsituation in Valkenburg passten. Auch wenn diese Gleichsetzung durch nur eine einzelne Scherbe nicht gänzlich gesichert und darüber hinaus nicht völlig klar ist, ob sich der Name auf Agrippina die Ältere oder Agrippina die Jüngere bezieht, ging der Name Praetorium Agrippinae als Synonym für den Valkenburger Befundkomplex in die Literatur ein.[14][15]
Die Entdeckung sowie die Untersuchungen und Beschreibungen des römischen Valkenburgs gehen bis auf das Jahr 1664 zurück, als der niederländische Altertumskundler Joachim Oudaen (auch Joachim Oudaan, 1628–1692) in seinem Werk Roomsche Mogentheid einen Münzfund aus Valkenburg beschrieb und über weitere römische Funde vom Marktveld berichtete.[16] Es dauerte jedoch noch bis zum Jahr 1875, ehe ernstzunehmende archäologische Untersuchungen unter der Leitung des späteren Direktors des Rijksmuseums van Oudheden, Willem Pleyte (1836–1903), durchgeführt wurden. Ab 1922 erfolgten wissenschaftliche Untersuchungen unter der Leitung des jungen und früh verstorbenen belgischen Archäologen August Remouchamps (1892–1927) im Bereich von De Woerd, der jedoch seine Befunde als die eines Kastells fehlinterpretierte.[17]
Albert van Giffen forschte erstmals 1908 als studentischer Praktikant auf Valkenburger Gebiet, intensivierte seine Tätigkeiten in den folgenden viereinhalb Jahrzehnten und sorgte insbesondere in der schwierigen Zeit der deutschen Besatzung in den Kriegsjahren (1940–1945) durch eine vorsichtige Kooperation mit den Besatzungsbehörden dafür, dass die Ausgrabungen allen widrigen Zeitumständen zum Trotz bis einschließlich 1943 fortgesetzt werden konnten.[18]
In der Nachkriegszeit wurden die Ausgrabungen bereits 1946 wieder aufgenommen und erneut, bis in die späten 1950er Jahre, von van Giffen dominiert.[19] Sein Nachfolger wurde Willem Glasbergen, der für die Grabungsaktivitäten der 1960er Jahre ähnlich prägend wirkte wie van Giffen in den Jahrzehnten zuvor.[20]
In den letzten Jahrzehnten wurden die Grabungsaktivitäten durch verschiedene bedeutsame lokale Schwerpunkte gekennzeichnet, unter denen De Woerd (1972), Auxiliarkastell (1980), Marktveld und wieder De Woerd (1985–1988), Veldzicht (1994–1997) und das Legionslager (seit 2020) hervorragen.[21]
Praetorium Agrippinae | |
---|---|
Alternativname | Kastell Valkenburg |
Limes | Niedergermanischer Limes |
Datierung (Belegung) | A) 39/40 bis 41/42 u. Z. B) 41/42 bis 47 C) 47 bis 69 D.a) 70 bis um 100/117 D.b) um 100/117 bis 174/178 D.c) um 174/178 bis um 240 D.d) um 250 bis um 400 |
Typ | A-C) Vexillationskastell D.c) Kohortenkastell D.d) Logistischer Umschlagspunkt |
Einheit | A) Vexillation der Cohors III Gallorum equitata[22] B) Vexillation der Ala I Cannanefatium (?) C) Vexillation einer unbekannten Ala D.a-c) Cohors IV Thracum equitata[23] D.d) keine reguläre militärische Einheit (logistische Funktion) |
Bauweise | A-D.a) reines Holz-Erde-Lager D.b-d) steinerne Principia D.c-d) steinerne Umwehrung |
Erhaltungszustand | Bodendenkmal, Umrisse im Stadtbild markiert |
Ort | Katwijk-Valkenburg |
Geographische Lage | 52° 10′ 49,2″ N, 4° 25′ 59,4″ O |
Höhe | 0 m NAP |
Vorhergehend | Lugdunum Batavorum (nordwestlich) |
Anschließend | Matilo (südöstlich) |
Rückwärtig | Forum Hadriani (südsüdwestlich) |
Vorgelagert | Flevum (nördlich) |
Der Beginn der militärischen Besiedlung wird mit den nicht realisierten Plänen Caligulas zur Besetzung Britanniens in Verbindung gebracht und auf den Winter 39/40 u. Z. datiert. Die Zuweisung an Caligula basiert im Wesentlichen auf dem Fund eines Weinfasses aus dem Besitz des Kaisers, wobei jedoch nicht ausgeschlossen werden kann, dass auch ein höherer Offizier dieses Fass in seinem Besitz gehabt haben könnte. Weitere Indizien sind der Name des Kastells, das den Namen der Mutter oder der Schwester des Kaisers trug,[24] sowie ein unmittelbar neben dem Auxiliarkastell befindliches Legionslager derselben Zeitstellung. Nach dem Scheitern der Offensivpläne gegen Britannien wurde das Kastell als Hilfstruppenlager in den Niedergermanischen Limes integriert. Insgesamt sind aus der Zeit seiner Existenz (39/40 bis um 400) sieben verschiedene Bauphasen bekannt. Auffällig ist, dass es in den ersten sechs Phasen das einzige Hilfstruppenlager dieses Limesabschnittes war, in dem bis zur Mitte des dritten Jahrhunderts Kavallerieeinheiten stationiert waren. Erst in dem weiter östlich im Landesinneren gelegenen Nigrum Pullum (Alphen aan den Rijn-Zwammerdam) lässt sich wieder die Anwesenheit von berittenen Truppen nachweisen.[25]
In allen Bauphasen war das Kastell mit seiner Praetorialfront (Vorderfront) zum Rhein und den dort befindlichen Kaianlagen ausgerichtet. Bis zur fünften Bauphase war das Lager dreitorig, die Porta decumana (rückwärtige Pforte) fehlte. Sie konnte erst in der sechsten Bauphase festgestellt werden. Die Umwehrung war mit Eck- und Zwischentürmen, die Tore mit flankierenden Seitentürmen versehen. In den Holzbauphasen dienten vor der Holz-Erde-Mauer drei Spitzgräben als Annäherungshindernisse.
Holz-Erde-Lager mit einer Vexillation der Cohors III Gallorum equitata[22] (3. teilberittene Kohorte der Gallier), bestehend aus vier Centuriae Infanterie und zwei Turmae Kavallerie, also aus insgesamt rund 320 Infanteristen und 64 Reitern. Die Infanterie war in vier Einzel- und zwei Doppelbaracken in der Retentura (rückwärtiger Lagerteil), die Kavallerie in zwei Doppelbaracken in der Praetentura (vorderer Lagerteil) untergebracht. Inmitten der Retentura befanden sich die Principia (Stabsgebäude), im südlichen Teil der Praetentura das von zwei Reiterbaracken eingerahmte Praetorium (Wohngebäude des Kommandanten).[26]
Die aus Infanterie und Kavallerie kombinierte Truppe der ersten Phase wurde um die Jahre 41/42 durch die Vexillation einer Ala ersetzt, vermutlich der Ala I Cannanefatium, in der Größe einer halben Ala quingenaria, also bestehend aus acht Turmae (256 Reiter). Da sich die infrastrukturellen Bedürfnisse einer reinen Reitereinheit naturgemäß von denen einer gemischten Einheit unterscheiden, wurde das Lager diesen Bedürfnissen angepasst und entsprechende Umbaumaßnahmen wurden vorgenommen. Ihr Ende fand diese Bauphase vermutlich durch einen Überfall chaukischer Piraten, wofür das Vorhandensein einer Brandschicht spricht.[27]
Das zerstörte Kastell wurde alsbald durch ein Holz-Erde-Lager der Vexillation einer unbekannten Ala in der Größe einer halben Ala quingenaria, bestehend aus acht Turmae (256 Kavalleristen), ersetzt. In der Retentura befanden sich insgesamt sechs, Rücken an Rücken gebaute Mannschaftsbaracken, unmittelbar südlich der Principia lag ein Stall für die 192 Pferde der in der Retentura untergebrachten sechs Turmae. Zwei baugleiche Mannschaftsbaracken lagen im südlichen Quadranten der Praetentura, die Stallungen für die beiden dort untergebrachten Turmae konnten bislang nicht nachgewiesen werden. Sein Ende fand das Kastell während der Ereignisse des Bataveraufstands (69–70), eine mächtige Brandschicht verweist darauf, dass es in dieser Zeit in Flammen aufging.[28]
Nach diesen kriegerischen Ereignissen wurde das Kastell im Jahre 70 neu errichtet und zum Standort einer vollständigen Cohors quingenaria equitata (teilberittene Kohorte), wahrscheinlich der Cohors IV Thracum.[23] Die Chronologie der Bauphasen setzt sich wie folgt zusammen:
In der vierten Bauphase noch als Holz-Erde-Lager ausgeführt, wurden in der fünften Phase die Principia und in der sechsten Phase die Umwehrung in Tuffstein gemauert. Die Verstärkung der Umwehrung steht vermutlich im Zusammenhang mit den Überfällen chaukischer Piraten, die in der ersten Hälfte der 170er Jahre die Küstengebiete verwüsteten. Die chaukischen Angriffe wurden von Didius Julianus, dem damaligen Statthalter der Provinz Gallia Belgica (172–175), Suffektkonsul des Jahres 175, späterem Statthalter der Provinz Germania inferior (180–185) und letztlich kurzfristigem Kaiser im Zweiten Vierkaiserjahr (193), zurückgeworfen. Anschließend ließ Julianus die alten Kastelle am Rheinlimes verstärken und neue errichten, wovon die auch in Valkenburg gefundenen Dachziegel mit dem Stempel SVB DIDI(O)IVL(IANO)CO(N)S(ULARE) (Sub Didio Iuliano Consulare = Unter dem Konsulat des Didius Julianus = 175 u. Z.) Zeugnis ablegen.[29]
In seiner siebten Phase scheint das Kastell nicht mehr von einer operativen militärischen Einheit belegt, sondern zu rein logistischen Zwecken genutzt worden sein. Innerhalb der noch erhaltenen Ummauerung der Phase 6 konnten die steinerne Principia und drei hölzerne Horrea identifiziert werden. Alle Horrea befanden sich in der Praetentura, eines nördlich, zwei südlich der Via Praetoria. Die Ausgräber vermuteten, dass Praetorium Agrippinae in dieser Phase als Umschlagplatz für von Britannien her angeliefertes Getreide zur Versorgung der römischen Truppen am Rhein diente. Für die Jahre 346 und 354 sind noch Reparaturen an der Südmauer der Principia nachweisbar, eine letzte Instandsetzungsmaßnahme an einem der Horrea lässt sich auf das Jahr 365 datieren.[30][31]
Unmittelbar südwestlich des Kastells[32] wurden die Spuren eines zum Teil steinernen Gebäudes freigelegt, das von Van Giffen als Tempel interpretiert wurde und als Het Tempeltje van Van Giffen in den örtlichen Sprachgebrauch eingegangen ist. In der jüngeren Literatur hingegen wird das Gebäude als die Kastellthermen angesprochen, die sich üblicherweise bei jedem römischen Auxiliarlager befanden und sowohl den Soldaten des Kastells (kostenlos) als auch den Zivilisten des Vicus (gegen geringe Gebühr) zur Benutzung zur Verfügung standen.[33]
Bemerkenswert ist der Fund einer Spintria („Bordellmünze“), vergesellschaftet mit Scherben von reliefverzierter Terra Sigillata, die erotische Szenen aufweisen, im Bereich der Thermen. Dieser Fund spricht zumindest für die Existenz eines Bordells in der Nachbarschaft des Badehauses, möglicherweise sogar dafür, dass Prostituierte ihren festen Platz innerhalb der Thermen gehabt haben könnten.[34][35]
Legionslager Valkenburg | |
---|---|
Alternativname | Castrum Valkenburg |
Limes | Niedergermanischer Limes |
Datierung (Belegung) | 39 bis 43 |
Typ | Legionslager |
Einheit | unbekannte Legion oder Vexillation in Legionsstärke |
Größe | 440 m × 440 m = 19,36 ha |
Bauweise | Holz-Erde-Lager |
Erhaltungszustand | Bodendenkmal |
Ort | Katwijk-Valkenburg |
Geographische Lage | 52° 10′ 24,6″ N, 4° 25′ 52,6″ O |
Höhe | 0 m NAP |
Eine archäologische Sensation war die Entdeckung eines römischen Legionslagers auf dem Gelände des ehemaligen Militärflugplatzes Valkenburg im Herbst 2020. Die Spuren des Lagers wurden erstmals im Oktober entdeckt, die archäologischen Ausgrabungen dauerten zunächst bis zum Mai 2021. Dabei wurde insbesondere die westliche, rückwärtige Befestigungsmauer ergraben, die sich einschließlich ihrer Nord- und Südecke auf einer Strecke von 440 Metern verfolgen ließ. Es handelte sich bei der westlichen Lagerumwehrung um eine Holz-Erde-Mauer, die mit rund einem Dutzend Türmen versehen war und von einem einfachen, vier Meter breiten und zwei Meter tiefen Spitzgraben geschützt war. In der Mitte der Westfront befand sich die 25 Meter breite und mit zwei Durchfahrten versehene Porta decumana (rückwärtiges Lagertor). Auf der nördlichen Seite des Lagers gab es keinen Graben, dessen Funktion übernahm ein künstlich angelegter Kanal, der den Rhein mit den Gezeitenrinnen im Landesinneren verband. Aufgrund der ermittelten Maße wurde ein Lager mit quadratischem Grundriss und einer Fläche von 19,36 Hektar interpoliert, das sich bis an das römerzeitliche Rheinufer erstreckte und somit auch das gesamte Marktveld in Anspruch nahm. Die bisherigen archäologischen Befunde des Vicus auf dem Marktveld (siehe weiter unten) werden daher teilweise neu interpretiert werden müssen.
Die Errichtung des Lagers fällt in die Zeit der Anlage der Phase 1 des Auxiliarkastells und dürfte möglicherweise zusammen mit diesem im Herbst des Jahres 39 stattgefunden haben und mit den gescheiterten Plänen des Caligula in Verbindung stehen, Britannien zu erobern. Nachdem unter Caligulas Nachfolger Claudius durch Aulus Plautius schließlich im Jahr 43 die Okkupation Englands vollzogen worden war, wurde es nicht mehr länger benötigt, aufgelassen und schließlich von dem Vicusabschnitt Marktveld (siehe weiter unten) überbaut. Vielleicht hatte es zuvor noch im Feldzug des Aulus Gabinius Secundus gegen die Chauken im Jahr 41 eine Rolle gespielt.[2][3][4][5][6][7][8][9][10]
Die kommenden Jahre und Jahrzehnte dürften bezüglich der Valkenburger Befunde und ihrer Interpretationen noch die eine oder andere Überraschung erwarten lassen.[36][3]
Vom Auxiliarkastell aus zog der Limesweg zunächst in südsüdwestliche Richtung, bevor er kurz vor Leiden mehr nach Westsüdwest abknickte, um Matilo zu erreichen. Entlang des ersten Abschnittes erstreckte sich der weitläufige, rund einen Kilometer lange Vicus, die Zivilsiedlung des Kastells, in der sich Veteranen, Angehörige von Soldaten, Händler, Handwerker, Prostituierte, Schankwirte und andere Dienstleister niederließen. Infolge der oben beschriebenen topographischen Unzulänglichkeit des Geländes zu Siedlungszwecken war der Vicus von zwei größeren Gezeitenrinnen unterbrochen, so dass er sich im archäologischen Befund in insgesamt drei Bereiche untergliedert: die Abschnitte Veldzicht, Marktveld und De Woerd. In antiker Zeit waren diese Bereiche mit Brücken über die Gezeitenrinnen verbunden.[37]
Dieser nördlichste Abschnitt des Vicus[38] wurde in den Jahren 1994 bis 1997 archäologisch untersucht. Die Ausgrabungen waren notwendig geworden, weil die Gemeinde in diesem Bereich ein Wohnbauvorhaben durchführen wollte. Die Forschungen standen unter der wissenschaftlichen Leitung der niederländischen Archäologen Harry L. W. van Enckevoort, Wilfried A. M. Hessing, Wouter K. Vos und Joris J. Lanzing. Das untersuchte Gebiet umfasste rund einen Hektar, auf dem der Verlauf des Limesweges und die Grundrisse von sechs Gebäuden identifiziert werden konnten.
Der Weg wies zwei Bauphasen auf. In der ersten Phase wurde er vermutlich auf einem künstlichen Deich errichtet. Im archäologischen Befund zeigte er sich durch zwei parallele Reihen von senkrecht stehenden Holzpfählen, die waagerecht daran befestigte Bretter trugen. Die Konstruktion bestand aus unterschiedlichsten Holzsorten, darunter auch Weichhölzer. Dazwischen hatte man Boden aufgeschüttet, der den Straßenbelag trug. Der Abstand zwischen den Pfahlreihen und somit die Breite des Weges belief sich auf rund 4,50 m. Die Enddatierung dieses ersten Weges ist nicht gänzlich gesichert, er dürfte aber wohl in den Perioden I, II und IIIa (siehe weiter unten) genutzt worden sein. Die zweite Phase folgte der Trasse der ersten, jedoch mit geänderter Konstruktionsweise. Der eigentliche Weg war wiederum 4,50 m breit und von senkrecht stehenden Pfahlreihen gesäumt, wobei diese ausschließlich aus Eichenholz bestanden. Zusätzlich wurden dieses Mal rechts und links des Weges jeweils noch sanft abfallende Böschungen von 2,50 m Breite angesetzt, an ihren Enden waren die Böschungen mit Brettern fixierten. Der gesamte Straßenkörper wuchs damit auf eine Breite von rund 9,50 m. Im Befund stellt er sich durch vier parallel verlaufende Pfostenreihen dar. Dendrochronologisch konnte nachgewiesen werden, dass die Eichen im Winter 123/124 gefällt worden waren, so dass nur eine Nutzung in den Perioden IIIb und IV in Frage kommt. Der gleiche, zweiphasige archäologische Befund setzt sich auch im Vicusabschnitt Marktveld fort.[39]
Seitlich des Weges konnten insgesamt sechs Gebäude festgestellt werden, fünf davon unmittelbar durch die Pfostenlöcher ihrer Außenwände, eines wurde rekonstruiert. Es waren einschiffige Haustypen, deren Dachkonstruktion ausschließlich durch die Wände gestützt wurden, innere Dachstützbalken kamen nicht vor, so dass sich jeweils ein einzelner, großer Innenraum ergab. Die durchschnittlichen Abmessungen von fünf der sechs Häuser belief sich auf rund sechs mal fünfzehn Meter, wodurch sich eine Fläche von rund 90 m² ergab. Die für römische Gepflogenheiten ungewöhnliche Bauweise legt die Vermutung nahe, dass es sich nicht um originär römische, sondern um Gebäude in einheimischer Tradition handelt.[39]
Zur Entwicklung dieses Abschnittes des Vicus konnten mehrere Bauphasen differenziert und datiert werden.
Im Siedlungskomplex konnten für die Perioden I bis III insgesamt vier Pferdegräber nachgewiesen werden, was in Anbetracht der Belegung des Auxiliarlagers mit berittenen Einheiten in der Zeit von 39 bis 240 nur schlüssig erscheint. Jeweils eines der Pferdegräber wird den Perioden I, II zugeschrieben, zwei weitere den Perioden IIIa und/oder IIIb. Insbesondere bei den letzteren kam durch ihre Nähe zur Bebauung die Frage auf, ob es sich tatsächlich um reguläre Bestattungen oder vielmehr um die behelfsmäßige Verscharrung möglicher „Verkehrsopfer“ handelt.[39]
Kleinkastell Marktveld | |
---|---|
Limes | Niedergermanischer Limes |
Datierung (Belegung) | 70 bis um 110/115 |
Typ | Kleinkastell |
Einheit | unbekannte Zenturie oder Vexillation in Zenturienstärke |
Bauweise | Holz-Erde-Lager |
Erhaltungszustand | Bodendenkmal |
Ort | Katwijk-Valkenburg |
Geographische Lage | 52° 10′ 29,1″ N, 4° 26′ 12,2″ O |
Höhe | 0 m NAP |
Südlich des Vicusabschnittes Veldzicht schloss sich, von diesem durch eine mächtige Gezeitenrinne getrennt, der Abschnitt Marktveld an. In der ersten Phase seines Bestehens (Periode 1, 39/40 bis 69/70) diente er primär als Umschlagplatz für Dinkel, Emmer, Gerste und Linsen. Anzahl und Volumen der nachgewiesenen Horrea waren ausreichend, um die Truppen mit den grundlegenden Nahrungsmittel zu versorgen. Während des Bataveraufstandes wurden die Horrea niedergebrannt.
In der folgenden Periode 2 (70 bis 110/115) wurde der Bereich mit einem Kleinkastell verstärkt,[40] das Platz für eine Zenturie (80 Mann) oder eine Vexillation in Zenturienstärke bot. Bei dem Kastell handelte es sich um ein U-förmiges, eintoriges Holz-Erde-Lager, das von einem einfachen Graben geschützt wurde. Vor der Nordwestecke dieses Kastells wurde um das Jahr 80 zusätzlich noch ein Wachturm errichtet, der bis um 90 Bestand hatte.
Erst gegen Ende des ersten Jahrhunderts siedelten sich auch Zivilisten auf dem Marktveld an. Im Unterschied zu den einschiffigen Wohngebäuden auf der Veldzicht dominierten dort dreischiffige Wohnstallhäuser.
Im Norden des Marktvelds wurde in den Jahren 1985 bis 1988 ein umfangreiches Gräberfeld entdeckt, das über 700 Bestattungen beinhaltete.[41] Der Umfang des Gräberfeldes muss ursprünglich noch wesentlich größer gewesen sein, jedoch sind die östlichen Bereiche der Nekropole von den Fluten des Rheins zerstört worden. Das Gräberfeld wurde ausweislich seines Fundmaterials in den Jahren zwischen 50 und 225 belegt. Bemerkenswert ist, dass der Anteil der Körpergräber recht hoch ist, während es sich bei nachweislich rund 400 der über 700 Grablegen um die zeittypischen Brandbestattungen handelte. Gewöhnlich war im ersten und zweiten Jahrhundert bei den Römern die Kremierung, verbunden mit einer rituellen Handlung und dem Einbringen von Beigaben am Grab üblich, Körperbestattungen dagegen, außer bei Kindern, höchst ungewöhnlich.
Bei einer Gruppe von 44 Erwachsenengräbern des Marktvelds waren die Körperbestattungen äußerst nachlässig und chaotisch durchgeführt worden, so dass von einer regulären Bestattung kaum die Rede sein kann. Die Leichen lagen vielmehr (teils zu mehreren in einer Grube) in unterschiedlichen Richtungen ausgerichtet kreuz und quer durcheinander, die Beigaben waren äußerst spärlich. Dies warf die derzeit noch ungelöste Frage auf, um welche Menschen es sich bei diesen Bestattungen gehandelt haben mag, wobei insbesondere Sklaven oder andere Personen nichtrömischer Herkunft in Betracht gezogen werden.
Auffällig sind auch die Skelettfunde von 90 Babyleichen. Sie weisen auf eine sehr hohe Kindersterblichkeit hin. Wie Isotopenanalysen zeigten, wurde diese wohl durch Bleivergiftungen verursacht, wobei das niedrige Alter der Babys dafür spricht, dass das Blei bereits mit der Muttermilch aufgenommen worden sein muss. Die gemessenen Bleikonzentrationen waren bis zu 50-mal höher als die normalerweise anzutreffenden Werte. Blei wurde in römischer Zeit unter anderem zur Herstellung von Wasserleitungen und Kosmetika sowie als Süßungsmittel [!] für Wein verwendet.[42][43][44][45][46]
Der südlichste Vicusabschnitt De Woerd[48] war der am frühesten entdeckte Befund des Vicuskomplexes. Lange Zeit wurde er für das Auxiliarlager Praetorium Agrippinae gehalten, während man die Befunde im Stadtzentrum für Relikte des Vicus hielt. Der Abschnitt De Woerd unterscheidet sich von den beiden oben genannten durch eine höhere Diversität der Gebäudetypen. Neben den Wohnstallhäusern treten hier die von Vicusbefunden in England und Deutschland her bekannten, auf niederländischem Gebiet ansonsten unbekannten, so genannten Streifenhäuser auf. Sie besaßen in ihrem vorderen, der Straße zugewandten Teil zumeist ein Ladenlokal oder eine Werkstatt, unmittelbar davor war der Bereich für Fußgänger mit einer Portikus überdacht. Hinter dem Geschäftsraum schloss sich der oft unterkellerte Wohnbereich an. Ihren Abschluss fanden sie oft in einem eingefriedeten, mit Brunnen oder Ofen versehenen Hof. Die Länge der Gebäude (Wohnstallhäuser und Streifenhäuser) im Bereich De Woerd variierte zwischen zehn und 44 Metern bei einer Breite zwischen fünf und acht Metern. Nachdem das Gelände durch Aufschüttungen und Planierungen bebaubar gemacht worden war, begann im letzten Jahrzehnt des ersten Jahrhunderts die Besiedlung. Es handelte sich um eine reine Holz-/Lehmbauweise, steinerne Fundamente wurden nicht nachgewiesen. Es ist ungewiss, ob die Häuser hypokaustiert waren oder Kanalheizungen besaßen, da sich davon keinerlei Spuren in den Befunden zeigten. Vermutlich erfolgte die Beheizung über einzelne Öfen und/oder Herdstellen.[49][50][51]
Die Bereiche des Kastells (Rijksmonument 46140)[52] und der Zivilsiedlung (Rijksmonument 46141)[53] sind als Bodendenkmale (Rijksmonumente) auf Grundlage des monumentenwet (Denkmalschutzgesetz) von 1988[54] unter besonderen Schutz gestellt. Praetorium Agrippinae ist auch Bestandteil der Liste von Fundplätzen des Niedergermanischen Limes, dessen Ernennung zum UNESCO-Weltkulturerbe 2017 beantragt und 2021 vollzogen wurde.[55]
Der Verlauf der nicht mehr in situ sichtbaren römischen Grundrisse wurden zum Teil (unter anderem durch Pflastermarkierungen, moderne Kunstwerke und Rekonstruktionen) im Gelände visualisiert.
Der größte Teil des Fundmaterials befindet sich im Rijksmuseum van Oudheden in Leiden oder wird im Provinciaal Archeologisch Depot Zuid-Holland (Provinzialarchäologisches Depot Südholland) aufbewahrt,[47] einige Exponate werden aber auch im örtlichen Torenmuseum der Vereniging Oud Valkenburg präsentiert.[56]
Seamless Wikipedia browsing. On steroids.
Every time you click a link to Wikipedia, Wiktionary or Wikiquote in your browser's search results, it will show the modern Wikiwand interface.
Wikiwand extension is a five stars, simple, with minimum permission required to keep your browsing private, safe and transparent.