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rechtlicher Begriff aus der Schweiz Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Als Notrecht (französisch droit de nécessité, italienisch diritto di necessità, rätoromanisch dretg d’urgenza) werden in der Schweiz staatliche Massnahmen bezeichnet, die nicht im Rahmen der normalen demokratischen Kompetenzordnung getroffen werden.
Staatliches Handeln ist im demokratischen Rechtsstaat in der Regel nur auf der Grundlage eines Gesetzes zulässig. Zuständig für die Gesetzgebung ist das demokratisch gewählte, repräsentativ zusammengesetzte Parlament (die Bundesversammlung), unter Vorbehalt des Referendumsrechts des Volkes. Diese demokratischen Verfahren brauchen Zeit. Nun gibt es aber Situationen, in welchen unverzüglich dringliche Massnahmen getroffen werden müssen, um schwerwiegende Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit abzuwenden. Das Notrecht dient dazu, in solchen Situationen die Handlungsfähigkeit des Staates zu wahren.
Der Begriff «Notrecht» kommt im geschriebenen schweizerischen Recht allerdings nicht vor. Das führt zu einer «Mehrdeutigkeit» bzw. «Unschärfe des Notrechtsbegriffs».[1] Unbestritten sachgemäss ist die Verwendung des Begriffes für das extrakonstitutionelle – also ungeschriebene – Notrecht im engeren Sinne, wie es letztmals im Zweiten Weltkrieg zur Anwendung gelangt ist (Vollmachtenregime). Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff aber vor allem auch für das konstitutionelle Notrecht verwendet, d. h. für das Notverordnungsrecht der Regierung, das zwar eine Verfassungsgrundlage, aber keine Gesetzesgrundlage hat. Diese Begriffsverwendung wird von der Staatsrechtslehre teilweise kritisiert, weil dadurch der grundlegende Unterschied verwischt wird zwischen dem extrakonstitutionellen Notrecht, mit welchem das Parlament der Regierung umfassende Vollmachten erteilt, und dem Notverordnungsrecht der Regierung, welches nur unter restriktiven Voraussetzungen für kurze Zeiträume Geltung haben darf.[2]
Das Notverordnungsrecht des Bundesrates «gelangt bei schweren Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zur Anwendung und ist damit ein Notinstrument, das die staatliche Handlungsfähigkeit sicherstellen soll, wenn die gegebenen Instrumente der Rechtsordnung nicht ausreichen. (…) Das Verfahren der ordentlichen und/oder dringlichen Gesetzgebung kann (…) nicht abgewartet werden».[3]
Die Gesetzgebung bei Dringlichkeit wird manchmal auch als «Notrecht» bezeichnet, was aber unzutreffend ist. Dieses Dringlichkeitsrecht hat zwar auch eine vorübergehende Abweichung von der normalen demokratischen Kompetenzordnung zur Folge; es dient aber nicht nur zur Bewältigung von Notlagen und ist ordentliches Gesetzesrecht.[4]
Gemäss Art. 185 Abs. 3 der Bundesverfassung (BV) kann der Bundesrat «unmittelbar gestützt auf diesen Artikel, Verordnungen oder Verfügungen erlassen, um eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit zu begegnen. Solche Verordnungen sind zu befristen.» «Unmittelbar gestützt auf diesen Artikel» bedeutet, dass diese Verordnungen und Verfügungen anders als im Regelfall keine Grundlage in einem Gesetz haben müssen. Verordnungen sind generell-abstrakte rechtsetzende Bestimmungen (siehe die Definition in Art. 22 Abs. 4 Parlamentsgesetz); Verfügungen sind Anordnungen in einem konkreten Einzelfall.
Die erwähnten Verordnungen des Bundesrates werden als Notverordnungen bezeichnet. Sie oder entsprechende Verfügungen sind nur zulässig, wenn sie dem definierten Zweck dienen. Gemäss Praxis und Doktrin müssen kumulativ folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
Der Begriff des fundamentalen Rechtsgutes ist restriktiv zu verstehen. Es geht um Rechtsgüter, die für Private (Leib, Leben, Gesundheit) und den Staat (innerer/äusserer Frieden, äussere Unabhängigkeit) von existentieller Bedeutung sind. Diese Rechtsgüter können z. B. betroffen sein durch schwere Unruhen, militärische oder terroristische Bedrohungen, Naturkatastrophen, Epidemien, u. ä.[5]
In der Rechtslehre umstritten ist, ob auch wirtschafts- und sozialpolitische Massnahmen, wie sie der Bundesrat in der neueren Praxis (siehe unten) getroffen hat, als Gegenstand von Notverordnungen zulässig sind. Dagegen spricht, dass damit der primär sicherheitsrechtliche Begriff der «Störung der öffentlichen Ordnung» sehr weit ausgelegt wird; bei der Entstehung der Verfassungsbestimmung war davon nicht die Rede.[6] Dafür spricht, dass die engere Auslegung den Staat hindern kann, bestimmten ausserordentlichen Lagen gerecht zu werden. Das Beispiel der Corona-Krise (siehe unten) zeigt, dass eine ausserordentliche Lage auch zu einem wirtschaftlichen Desaster führen kann, welches nur durch Notverordnungsrecht abgewendet oder zumindest gelindert werden kann.[7]
Art. 185 Abs. 3 BV begründet kein extrakonstitutionelles Recht (siehe dazu unten) und gibt damit dem Bundesrat keine umfassende Vollmacht, von der Bundesverfassung abzuweichen. Es handelt sich um verfassungsmässiges Notrecht; seine Anwendung muss im Rahmen der Bundesverfassung erfolgen. Insbesondere sind die «Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns» (Art. 5) einzuhalten, d. h., das Notrecht muss «im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein.» Art. 36 erlaubt «Einschränkungen von Grundrechten» im Falle von «ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr» auch ohne Grundlage im Gesetz, sondern eben z. B. auf der Grundlage einer Notverordnung. Art. 36 Abs. 4 legt aber fest: «Der Kerngehalt der Grundrechte ist unantastbar». Ein Eingriff in die verfassungsmässigen Zuständigkeiten der Kantone erscheint als zulässig, sofern davon auszugehen ist, dass eine Notlage nicht im Rahmen der Zuständigkeiten der Kantone behoben werden kann.
Uneinigkeit besteht in der Rechtslehre darüber, ob Notrecht des Bundesrates im Widerspruch zu bestehendem Gesetzesrecht stehen darf (contra legem) oder ob es nur in Ergänzung zu diesem Recht (praeter legem) erlassen werden darf. Für die letztere Auffassung spricht insbesondere, dass der Bundesrat selbst in seinen erläuternden Ausführungen zum Entwurf der Bundesverfassung im Jahre 1996 festgehalten hatte: Die Anordnungen «dürfen nicht im Widerspruch zu Erlassen der Bundesversammlung stehen».[8] In der neueren Praxis (siehe dazu unten) hat sich der Bundesrat aber nicht an diese Beschränkung gehalten. Die neuere Lehre billigt teilweise diese Kursänderung. Es liege in der Natur des Notrechts, dass sein Zweck in bestimmten Situationen nur mit sachlich notwendigen Massnahmen erreicht werden kann, die im Widerspruch zu geltendem Recht stehen.[9]
Der Bundesrat darf eine Notverordnung nur dann erlassen, wenn eine Beschlussfassung durch das Parlament nicht abgewartet werden kann. «Notrecht ist nie eine Alternative, wenn es möglich ist, das Parlament zu befragen» (Votum von Bundesrätin Widmer-Schlumpf am 19. Juni 2013 im Ständerat).[10]
Die Bundesversammlung kann gegebenenfalls Notverordnungen des Bundesrates korrigieren oder ergänzen. Gemäss Art. 173 Abs. 1 Bst. c BV ist auch sie zuständig, Verordnungen oder einfache Bundesbeschlüsse (letztere entsprechen den Verfügungen des Bundesrates) «zur Wahrung der inneren Sicherheit» zu erlassen, «wenn ausserordentliche Umstände es erfordern.» Diese Zweckbestimmung für Notrecht ist also allgemeiner gehalten als diejenige für das Notrecht des Bundesrates. Da die Bundesversammlung dem Bundesrat übergeordnet ist, haben ihre Massnahmen Vorrang vor solchen des Bundesrates.
Der Zweck der von der Bundesverfassung vorgeschriebenen Befristung von Notverordnungen des Bundesrates liegt darin, dass Notrecht nur so lange gelten darf, als die dafür notwendigen Voraussetzungen gegeben sind. Soll es für eine längere Zeitdauer gelten, so ist es so rasch wie möglich in ordentliches Gesetzesrecht überzuführen, das durch die Bundesversammlung beschlossen wird und dem fakultativen (im Falle eines dringlichen Bundesgesetzes nachträglichen) Referendum untersteht. Der Erreichung dieses Ziels soll das aufgrund einer parlamentarischen Initiative ausgearbeitete Bundesgesetz vom 17. Dezember 2010 mit dem programmatischen Titel «Wahrung von Demokratie, Rechtsstaat und Handlungsfähigkeit des Staates in ausserordentlichen Lagen» dienen.[11] Danach tritt die Verordnung des Bundesrates ausser Kraft, wenn er nicht innert sechs Monaten nach ihrem Inkrafttreten der Bundesversammlung den Entwurf einer gesetzlichen Grundlage für den Inhalt der Verordnung oder den Entwurf einer Notverordnung der Bundesversammlung, welche die Notverordnung des Bundesrates ersetzt, unterbreitet (Art. 7d Abs. 2 RVOG). Die maximal zulässige Geltungsdauer einer Notverordnung der Bundesversammlung ist auf drei Jahre befristet (Art. 7d Abs. 3 RVOG). Mit der Gesetzesänderung wurde auch eine Informationspflicht des Bundesrates eingeführt, falls er eine Notverfügung erlässt. Er muss in diesem Fall die Geschäftsprüfungsdelegation der Eidgenössischen Räte innert 24 Stunden informieren (Art. 7e Abs. 2 RVOG).
Beispiele von Notrecht seit dem Inkrafttreten der geltenden BV (1. Januar 2000):
Dringliche Finanzbeschlüsse gelangen zwar auch ausserhalb von eigentlichen Notlagen zur Anwendung. Weil Notverordnungen des Bundesrates in bestimmten Situationen nur zusammen mit solchen Finanzbeschlüssen umgesetzt werden können, ist es gerechtfertigt, sie hier in diesem Zusammenhang darzustellen.
Die Bundesverfassung weist dem Bundesrat zwar die Zuständigkeit zum Erlass von rechtsetzenden Bestimmungen und Verfügungen in ausserordentlichen Lagen zu (siehe oben). Aber es gibt kein verfassungsmässiges Finanznotrecht. Gemäss Art. 167 muss die Bundesversammlung alle Ausgaben bewilligen, indem sie die Voranschlags- und Verpflichtungskredite genehmigt.[28] Anders als in anderen Staaten haben der Voranschlag (das Budget) und andere Ausgabenbeschlüsse in der Schweiz keinen rechtsetzenden Charakter; diese Beschlüsse werden daher nicht in die Form eines Gesetzes, sondern eines Bundesbeschlusses gekleidet, der nicht dem Referendum untersteht.
Damit Notverordnungen umgesetzt werden können, müssen aber häufig auch die für die Umsetzung nötigen Ausgaben unverzüglich beschlossen werden können. Ein Zusammentreten der Bundesversammlung kann nicht immer abgewartet werden. Für solche Fälle delegieren Art. 28 und Art. 34 des Finanzhaushaltgesetzes die Zuständigkeit zur vorgängigen Zustimmung an die Finanzdelegation der Eidgenössischen Räte. Der Bundesrat muss die dringlichen Verpflichtungskredite und dringlichen Nachtragskredite (Nachträge zum bewilligten Voranschlag eines Jahres) der Bundesversammlung zur nachträglichen Genehmigung unterbreiten. Überschreitet die dringliche Verpflichtung bzw. der dringliche Aufwand 500 Millionen Franken und verlangt ein Viertel der Mitglieder eines Rates oder der Bundesrat innert einer Woche nach der Zustimmung der Finanzdelegation die Einberufung der Bundesversammlung zu einer ausserordentlichen Session, so muss diese in der dritten Kalenderwoche nach der Einreichung des Begehrens stattfinden. Der Zweck dieses Verfahrens liegt darin, dass politisch umstrittene Kredite baldmöglichst die notwendige demokratische Legitimation erhalten. Die unbefriedigende Situation, dass das Parlament bloss noch vollendete Tatsachen nachträglich absegnen kann, wird – ja nach Umständen des einzelnen Falles – wenigstens teilweise gemildert. Verweigert die Bundesversammlung ihre Zustimmung – was in der Praxis (siehe unten) am 12. April 2023 erstmals geschehen ist –, so werden noch nicht ausgeführte Zahlungen gestoppt oder ein durch den dringlichen Kredit ermöglichter, aber noch nicht abgeschlossener Vertrag darf nicht mehr eingegangen werden. Bereits erfolgte Zahlungen könnten aber nicht rückgängig gemacht werden; die Sanktion der Bundesversammlung wäre immerhin politischer Natur. Anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu prüfen wäre, wieweit eingegangene Verpflichtungen, die noch keine Zahlungen zur Folge hatten, trotz Ablehnung durch die Bundesversammlung erfüllt werden müssen.[29]
Dringliche Kredite, welche die Bundesversammlung erst nachträglich genehmigt, gehören zur normalen Praxis und haben in den meisten Fällen nichts zu tun mit einer ausserordentlichen Lage und der notwendigen Umsetzung einer Notverordnung. Das zeigt der Jahresbericht der Finanzdelegation über ihre Tätigkeit im Jahre 2019, der einen Überblick über die Praxis der Jahre 2009–2019 gibt. Der Bundesrat hat in diesen elf Jahren der Finanzdelegation insgesamt 36 dringliche Nachtragskredite im Gesamtumfang von 314,2 Millionen Franken zur Genehmigung unterbreitet. Die Finanzdelegation hat 34 Nachtragskredite (total 302 Millionen) genehmigt und zwei (total 12,2 Millionen) abgelehnt. Ferner hat sie im Jahre 2019 einen dringlichen Verpflichtungskredit genehmigt, erstmals wieder seit 2008[30].
Dringliche Kredite in ausserordentlicher Höhe zur Behebung von Notsituationen wurden in den Jahren 2001, 2008, 2020, 2022 und 2023 gesprochen:
In der Geschichte des schweizerischen Bundesstaates seit 1848 sind auch äusserst schwere ausserordentliche Lagen eingetreten, in welchen der Bestand der Schweiz als Staat bedroht war. Die Bundesversammlung hat am 3. August 1914 zu Beginn des Ersten Weltkrieges einen Bundesbeschluss angenommen, der dem Bundesrat «unbeschränkte Vollmacht» erteilte «zur Vornahme aller Massnahmen, die für die Belange der Sicherheit, Integrität und Neutralität der Schweiz und zur Wahrung des Kredites und der wirtschaftlichen Interessen des Landes, insbesondere auch zur Sicherung des Lebensunterhaltes, erforderlich werden.»[47] Fast identisch ist der Wortlaut des «Vollmachtenbeschlusses» vom 30. August 1939 kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges. Die Bundesversammlung hat diese Beschlüsse gefasst, obwohl die Bundesverfassung sie dafür nicht ausdrücklich als zuständig erklärt. Das sog. «Vollmachtenregime» ist daher extrakonstitutionelles Notrecht; man spricht auch von Staatsnotstand. Andere Staaten haben dafür eine eigene rechtliche Grundlage geschaffen (z. B. die Notstandsgesetze der Bundesrepublik Deutschland). In der Schweiz wurde auf die Schaffung eines geschriebenen Notrechtsartikels bewusst verzichtet, «weil ein solcher bei weiter Fassung einer übermässigen Ausdehnung des Notrechts geradezu Vorschub leisten, bei enger Fassung hingegen im wirklichen Notfall oft nicht genügen würde».[48] Die neuere Staatsrechtslehre ist sich einig, dass auch heute solche Vollmachtenbeschlüsse zulässig wären. Voraussetzung dafür müsste eine existenzielle Bedrohung der Schweiz und ihrer Bevölkerung sein; denkbar wären ausser bewaffneten Konflikten auch allerschwerste Katastrophen.[49][50] Auch im extrakonstitutionellen Notrecht müssen das zwingende Völkerrecht, die notstandsfesten Garantien der Grundrechte (Art. 15 Abs. 2 EMRK und Art. 4 Abs. 2 UNO-Pakt II) und das Kriegsvölkerrecht beachtet werden.[51]
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