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1817 gegründete Tempelgemeinde Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Der Israelitische Tempel war die Synagoge des 1817 gegründeten liberalen Neuen Israelitischen Tempel-Vereins in Hamburg. Sie gilt als eine der ersten reformierten, modernen Synagogen der Welt, und der Gebetritus gilt als die erste Liturgie des Reformjudentums.
Die historisch bedeutsame Synagoge bestand seit 1818 zunächst an der Ersten Brunnenstraße, von 1844 bis 1931 in der Poolstraße und von 1931 bis 1938 in der Oberstraße.
Gleichzeitig mit der Judenemanzipation in der Hamburger Franzosenzeit bildete sich in Deutschland eine an der jüdischen Aufklärung (Haskala) orientierte Reformbewegung des Judentums, die eine religiöse Erneuerung zum Ziel hatte und diese auch ins Ausland trug, insbesondere in die USA. Israel Jacobson, Hoffaktor von Jérôme Bonaparte, gründete seit 1801 als erster in Seesen und später in Kassel die reformorientierte jüdische Jacobsonschule und Schulsynagoge.
Nach dem Niedergang des nach französischem Vorbild, dem Consistoire central israélite, eingerichteten Konsistoriums im Königreich Westphalen, dessen Präsident er war, gründete Jacobson 1815 private Tempel-Veranstaltungen in Berlin, bei denen unter anderen die Prediger Isaak Levin Auerbach, Eduard Kley, Karl Siegfried Günsburg und Leopold Zunz gottesdienstliche Vorträge mit Gebeten, Gesang und Orgelmusik hielten.[1] Altgläubige Kreise bewirkten allerdings ein Regierungsdekret, was die Schließung dieser Tempelveranstaltungen befahl. Einer der Prediger, Eduard Kley, wurde nach Hamburg berufen, um als Oberlehrer und Schulleiter die jüdische Freischule zu leiten.
Kley hielt an Sonntagen Religionsvorträge für die Kinder öffentlich, so dass auch Erwachsene teilnehmen konnten. Diese Andachten waren nach dem Berliner Vorbild von Chorälen begleitet und fanden derart Anklang, dass aus dieser Bewegung des Reformjudentums heraus 65 jüdische Hausväter im Dezember 1817 in Hamburg den Neuen Israelitischen Tempelverein gründeten. Kley arbeitete an einem stark modifizierten liturgischen Gebetbuch mit, das auch neue Hymnen in deutscher Sprache enthielt. Auf das Ziel vom Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels wurde verzichtet und durch Umdeutung durch den hiesigen Tempel und die Gerechtigkeit für alle Völker ersetzt. Das neue Gebetbuch des Tempelvereins war die erste umfassende jüdische Reformliturgie und erregte Widerstand im herkömmlichen Judentum in Hamburg.[2]
Am 18. Oktober 1818, dem Gedenktag der Völkerschlacht, wurde in diesem Sinne ein erstes Gotteshaus in der südlichen Neustadt (Erste Brunnenstraße) eingeweiht. Dabei waren auch Honoratioren wie Meyer Israel Bresselau, Lazarus Gumpel und Ruben Daniel Warburg. Beim Hamburger Tempel handelte es sich um den ersten offiziellen deutschen reformsynagogischen Ort mit Orgel, deutscher Predigt und gemischtem Chorgesang.[3]
Während der Leipziger Messe 1820 wurden Gottesdienste im Stil des Hamburger Tempels gehalten, die die Reformbewegung auch im Ausland allgemein bekannt machten. In den USA wurde 1842 nach Hamburger Vorbild der Tempel Har Sinai in Baltimore gegründet. Diese Gemeinde hatte das umstrittene Hamburger Tempelgebetbuch übernommen. 1845 folgten in New York City der Temple Emanu El. Heute gibt es in den USA sehr viele Reformgemeinden nach Hamburger Vorbild.[4]
Besondere Merkmale der Reformen waren die Neuordnung des Gottesdienstes, die eine Orientierung an den christlich-protestantischen Gottesdienst nicht leugnen konnte, die Ähnlichkeit zwischen der Amtstracht der Pastoren und Rabbiner und die Neugestaltung der Synagoge als Tempel:
Die Predigt wurde als besonderer Bestandteil des Gottesdienstes in deutscher Sprache gehalten und der Rabbiner im Ornat übernahm eine besondere Rolle im Gottesdienst, der bisher in der Regel allein vom Chasan (Kantor) gehalten wurde. Von Eduard Kley wurde die Bar Mitzwa (religiöse Mündigkeit, erstes öffentliches Vorlesen aus der Tora für Jungen) durch eine Art jüdischer Konfirmation für Jungen und Mädchen ersetzt. Die Gebete wurden teilweise in deutscher Sprache oder nach sefardischem Vorbild gemäß dem Aufsehen erregenden Hamburger Gebetbuch gesprochen oder gesungen. Die Frauenräume wurden als Empore gestaltet und nicht mehr vergittert. Die Synagoge wurde Tempel genannt. Damit wurde die ausschließliche Orientierung auf das Ziel aufgegeben, den Tempel in Jerusalem wieder aufzubauen.[5] Diese Reformen führten zum ersten Hamburger Tempelstreit. Die Gründung des Neuen Tempelvereins erregte inhaltlich großes Aufsehen. Für die Orthodoxie inakzeptabel war, dass wesentliche Teile der alten hebräischen Ordnung (Seder) fehlten. Der bedeutende Gegenspieler der Hamburger Reformbewegung Chacham Isaak Bernays, nannte 1841 in einer öffentlichen Bekanntmachung die Gebetstexte „Verstümmelung“, „Abweichung“ und „Zerstörung“ des Gebetgeistes. Ein später für den Rabbiner Jacob Sonderling wichtig werdendes Beispiel ist das Fehlen des Gebets Kol Nidre am Vorabend zum Versöhnungstag. Viele Texte wurden gekürzt.
Ein besonderer Aspekt war auch, dass das Ziel, ins Heilige Land zurückzukehren umgedeutet wurde. Der Tempel brauchte nicht im palästinensischen Jerusalem wieder aufgebaut zu werden, weil es ihn hier gab. Einschlägig wurde der Satz in einer Predigt Salomons von 1825 „Dies ist die Mitte unseres Neuen Jerusalems“ – „…eine deutlichere Abkehr und stärkere Identifikation mit der neuen Heimat ist unvorstellbar“[6] Programmatisch und provokant wirkte die für das Bethaus gewählte Bezeichnung „Neuer Tempel“, die als deutliche Abkehr einer Sehnsucht nach Jerusalem verstanden wurde und eine Identifikation mit dem deutschen Vaterland zum Ausdruck brachte. Statt der Bitte um Rückkehr nach Israel hieß es im neuen Gebetbuch (Hamburger Tempelgebetbuch von 1841) nunmehr „Befreiung von Unterdrückung und Ungerechtigkeit“ in ihren jeweiligen Ländern.[7]
Streit unter den jüdischen Gemeinden gab es auch formalrechtlich. Es war unklar, welche Organisation zur Vertretung der Juden in Hamburg berechtigt war. Der Hamburger Senat schlichtete 1819 die Auseinandersetzung einfach dadurch, dass er eine Trennung der jüdischen Gemeinde verbot. Es gab danach eine Deutsch-Israelitische Gemeinde Hamburgs (DIGH) mit mehreren Kultusverbänden, eine Neuerung, die als Hamburger System bekannt wurde: (Der Deutsch-Israelitische Synagogen-Verband, der Israelitische Tempel-Verband[8] und die Dammtor-Synagoge).
Seit den 1840er Jahren vollzog sich mit der Emanzipation der Juden ihre rechtliche Verbesserung bis hin zur Gleichstellung. Nach dem Hamburger Brand von 1842 gehörte sie zu den Konsequenzen, die man aus den Mängeln der alten Strukturen zog.[9] Durch Hamburger Ratsbeschluss wurden am 5. Dezember 1842 Erwerbseinschränkungen für Israeliten aufgehoben und 1860 durch eine Reform der Staatsverfassung die Rechtsstellung der Juden erheblich verbessert. Aus dieser veränderten Lage heraus wurde ein Neubau des Tempels beschlossen. Der Neue Tempel (Name für die Reformsynagoge und für die Tempelgemeinde) in der Poolstraße 12–13 wurde vom Tempelverein ab 1829 geplant, weil der erste provisorische Tempel im Alten Steinweg Ecke Brunnenstraße zu klein geworden war. Der Tempelverein hatte sich inzwischen von 65 (1817) auf etwa 800 (1841) zum Teil wohlhabende Mitglieder vergrößert und der Bau des Gotteshauses wurde Anfang der 1840er Jahre beantragt und genehmigt. Der Tempel wurde ein paar Tage vor dem jüdischen Neujahrsfest Rosch ha-Schana am 5. September 1844 um 19 Uhr feierlich eingeweiht. Die Grundsteinlegung des Tempels fand 1842 nicht öffentlich statt, weil der Tempelverein die Bürger, die durch den Brand obdachlos geworden waren, nicht brüskieren wollte.
Der von seinem reformorientierten Onkel Salomon Heine aus Hamburg unterstützte Dichter Heinrich Heine sah die Gefahren, die von einer religiösen Spaltung des Judentums ausgehen können, und charakterisierte die Hamburger Situation Ende 1843 – also kurz vor der Fertigstellung des Poolstraßentempels – folgendermaßen:
Der Tempel in der Poolstraße wurde von 1842 bis 1844 nach Plänen des Architekten Johann Hinrich Klees-Wülbern erbaut.[11] Gabriel Riesser erreichte 1843, dass der Poolstraßentempel auf den Namen des Tempelvereins gekauft und eingetragen werden durfte. Zuvor mussten Juden – im Gegensatz zu den christlichen Konfessionen – Synagogen auf den Namen einer Privatperson erwerben.
Die Fassade des Eingangsteilgebäudes im Westen wurde von zwei seitlich stehenden achteckigen Türmen nach der Art von Minaretten flankiert und nahm sowohl Elemente des maurischen[12] als auch des klassizistisch-neogotischen Baustils auf. Das Portal des Gebäudes trug als Inschrift ein hebräisches Chronostichon. Die Übersetzung lautet: „Gesegnet, der da kommt im Namen des Ewigen.“ ((Ps 118,26 EU))
Etliche Teile des Baus entsprachen nicht den herkömmlichen Baumustern für Synagogen und wiesen auf das Reformprogramm hin. Außergewöhnlich war ein die Vorhalle eröffnendes großes Tor als gemeinsamer Eingang für Frauen und Männer. Links vom Tordurchgang führte eine Treppe zur Chorempore sowie zur von Paul Rother gebauten Orgel. Beides befand sich also über der Vorhalle und dies war für einen orthodoxen Ritus gänzlich ungebräuchlich, auch weil der teilweise bezahlte gemischte Chor von oben und außerhalb des Hauptschiffes vortrug, obwohl üblicherweise ein Knabenchor unten in engem Kontakt zur Gemeinde sang. Herkömmlich, nämlich getrennt untergebracht, war dagegen die Frauengarderobe über die genannte linke Vorhallentreppe erreichbar, rechts gegenüber befand sich die Männergarderobe.[13] Das 40 m × 23 m große Hauptschiff mit Bogendach bot Platz für 380 Männer.
Der Almemor, ein erhöhter Platz mit Lesepult, auf dem aus der Tora gelesen wird, war unverziert und stand nicht mehr beherrschend im Zentrum der Synagoge, sondern an der Apsis. Der sakrale Bereich mit dem Toraschrein, die Predigtkanzel und das Lesepult waren also in unmittelbarer Nähe zueinander angeordnet.[14] Für die Frauen waren 260 Plätze auf den unvergitterten Seitenemporen bestimmt, die einen Blickkontakt mit den Männern ermöglichten. Diese Abweichungen vom herkömmlichen Baumuster ließen den Neuen Tempel in den Augen der Orthodoxie für einen jüdischen Gottesdienst ungeeignet erscheinen.[15]
Die Lage des Tempels war ein Kompromiss zwischen einer freistehenden Synagoge und einer Hinterhofsynagoge. Der Tempelverein war verpflichtet worden, vier direkt an der Poolstraße stehende Häuser zusammen mit dem Grundstück für den Tempel zu kaufen. Diese Vorderhäuser an der Poolstraße wurden – auch aus finanziellen Gründen – nicht abgerissen. Es blieb jedoch ein großer Vorplatz vor dem Gotteshaus, so dass der Tempel auf Bildern den Eindruck einer freistehenden Synagoge machte. Die rechtliche Gleichberechtigung mit den christlichen Konfessionen war noch nicht erreicht und dies nötigte zu Kompromissen.[16]
In der Poolstraße fand 1931 der letzte Gottesdienst statt und das Tempelgebäude diente danach dem Tempelverband als Magazin. 1937 wurde es verkauft. Ihm blieben die Zerstörungen der Reichspogromnacht 1938 erspart: Es war keine aktive Synagoge mehr und die Nationalsozialisten sahen bei Hinterhofsynagogen zudem die Gefahr, dass das Feuer auf die Nachbargebäude übergriff. Im Zweiten Weltkrieg wurden im ehemaligen Tempel Schulbänke gelagert. Von dem ehemaligen dreischiffigen Gotteshaus sind heute noch die Reste der westlichen Vorhalle und das östliche Apsisgebäude als unverbundene Kriegsruinen erhalten, das Hauptschiff wurde Juli 1944 durch einen Bombentreffer der Alliierten zerstört.
Die musikalische Gestaltung des Tempelgottesdienstes war eine aufsehenerregende Reform. Dass in einer Synagoge ein Chor auf der Empore zu Orgelbegleitung sang, war etwas vollkommen Neues und löste heftige Diskussionen aus.[17]
Der Organist war nicht der Kantor, denn am Sabbat war es Juden untersagt ein Instrument zu spielen.[18] Der erste Kantor der Tempelgemeinde David Meldola führte sefardische Melodien ein und verrichtete die Gebete mit der sefardischen Aussprache, die zwar im Ruf sprachwissenschaftlicher Korrektheit stand,[19] aber gegenüber der üblichen aschkenasischen Sprechweise als empfindlicher Bruch der Tradition galt. Teilweise wurde sogar die melodische Rezitation der Gebete und der Bibeltexte als unzeitgemäß angesehen und durch einfaches Vorlesen ersetzt. Für die Gesänge und Chorstücke im Tempel wurden außerdem neue Kompositionen geschrieben.
Der Musikwissenschaftler Eric Werner behauptete, dass Felix Mendelssohn für die Einweihung des Tempels in der Poolstraße das Chorstück Der 100. Psalm (Jauchzet dem Herrn, alle Welt) komponiert habe.[20] Es sind Teile eines Schriftverkehrs zwischen dem Vorsitzenden des Hamburger Tempelvereins Maimon Fraenkel und Felix Mendelssohn erhalten, in dem eine solche Komposition erbeten wurde. In diesem Schriftwechsel ging es unter anderem darum, ob die lutherische Psalmübersetzung (die Felix Mendelssohn bevorzugte) oder die von Moses Mendelssohn, dem Großvater von Felix, genommen werden sollte. Der 100. Psalm wurde bei der Eröffnungsfeier während des Toraeinzugs vermutlich jedoch auf Hebräisch gesungen.[21] Vermutlich stammt stattdessen eine Fassung des 24. oder 25. Psalms für die Eröffnung des Tempels von Felix Mendelssohn.[22]
Erst nach der Märzrevolution 1848 nahmen auch die konservativeren Gemeinden musikalische Anregungen auf. Sie ließen seitdem teilweise auch in ihren Synagogen Orgeln einbauen. Gemäß einer Zählung von 1933 verfügten damals 74 jüdische Gemeinden in Deutschland über eine Orgel.[23]
Seit 1855 teilte sich Joseph de Mose Piza das Chazzanamt mit David Meldola. Beide gehörten der Portugiesisch-Jüdischen Gemeinde an, was ungewöhnlich war. Meldola ging 1859 in den Ruhestand, Piza starb 1879. Nachfolgende Kantoren am Tempel waren Ignaz Mandl (der von 1884 bis 1922 auch Beamter des Verbandes war[24]), Moritz Henle (1879 bis zu seinem Tod 1925) und Leon Kornitzer (1913 bis zur Emigration 1939).
Im Tempel gab es von 1818 bis 1922 jeweils zwei Rabbiner. Alle Rabbiner am Tempel waren promoviert. Erster Rabbiner war Eduard Kley der 1840 von Naphtali Frankfurter abgelöst wurde. Im Anfangsjahr 1818 wurde als zweiter Rabbiner Gotthold Salomon berufen, der 1857 in den Ruhestand ging. Kley und Salomon widmeten sich wie auch alle Nachfolger dem Unterricht an Schulen. Für den Nachfolger von Gotthold Salomon sah das geschaltete Stelleninserat – wohl aus Spargründen – einen unverheirateten Theologen vor, was für einen Rabbi sehr ungewöhnlich war.[25] Auf Hermann Jonas (ab 1858) folgte 1889 Caesar Seligmann, der 1902 nach Frankfurt ging.
In der Anfangszeit des Hamburger Tempels betrieben die Prediger und Kantoren die Reform so stark, dass sich teilweise auch innerhalb der Tempelgemeinde Widerstände von Mitgliedern bildeten, denen die Reformen zu weit gingen. Bis in die 1860er Jahre hinein wurden am Freitagabend zwei Gottesdienste abgehalten. Der erste war die übliche Sabbateröffnung vor dem häuslichen Vorabendsegen bei Einbruch der Dunkelheit, der zweite war dagegen als Konzession an die Geschäftsleute auf eine späte Abendstunde gelegt worden.[26]
Als Nachfolger für den verstorbenen Naftali Frankfurter wurde 1867 der als orthodox geltende Max Sänger angestellt. Jetzt kehrte sich die Situation in ihr Gegenteil um: Die Prediger wurden konservativer und versuchten hier und da Reformen rückgängig zu machen oder abzuschwächen. 30 Jahre nach der Einführung der sephardischen Aussprache führte der Kantor Moritz Henle die aschkenasische wieder ein[27][28][25] und die Rabbiner ließen sich wieder Geistliche nennen, im Gegensatz zum provokanten Reformausdruck Prediger.
Die Gründung der liberalen Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, an der Abraham Geiger 1872 bis zu seinem Tod 1874 lehrte, wurde mit Distanz beobachtet. Der Tempel bevorzugte Prediger, die Absolventen des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau waren.
Auf Max Sänger folgte 1883 David Leimdörfer. Von 1902 bis 1908 war Paul Rieger als zweiter Prediger aktiv und 1908 kam Jacob Sonderling dazu. Sonderling war im Ersten Weltkrieg als Feldrabbiner an der Ostfront tätig. 1914 hielt er zu Jom Kippur auf Armeebefehl Kaiser Wilhelms einen Feldgottesdienst ab. Sonderling hielt die Trennung, die das Gebetbuch hervorgerufen hatte, für falsch und suchte mit dem Begriff Klal Yisrael (jüdisches Solidaritätsempfinden) die Einheit aller Juden mit dem Liberalismus zu verbinden. Hatte man in der Reform bisher das Liberale in Gegnerschaft zum Orthodoxen betont, so warb Sonderling nun dafür, Klal Yisrael quasi nationalistisch über den Liberalismus zu stellen.
Der reiche amerikanische Banker Henry Budge, der nach dem Tod seines Vaters aus den USA wieder zurück nach Hamburg gezogen war, bot dem Tempelverband eine Million Mark für ein neues Tempelgebäude an. Die Bedingung war allerdings, dass Frauen und Männer zusammen sitzen. Jacob Sonderling war schockiert und lehnte das Angebot strikt ab.
Leimdörfer starb 1922. Sonderling emigrierte 1922 in die USA und wurde Rabbiner in Los Angeles. Er war dort mit Thomas Mann und Arnold Schönberg befreundet. 1923 folgte als alleiniger Rabbiner Schlomo Rülf, der allerdings 1926 nach Bamberg ging.
Die Amtseinführung des letzten Oberrabbiners[29] Bruno Italiener Januar 1928 wurde als eine große Feier gestaltet. Unter seiner Leitung sei die Tempelgemeinde zu einer lebendigen jüdischen Gemeinschaft geworden, heißt es in Berichten.[30]
Nach Auflösung des Tempelverbandes und Schließung des Tempels Oberstraße wurden reformorientierte Gottesdienste unter der Leitung von Rabbiner Joseph Norden bis 1942 zu dessen Deportierung und späteren Ermordung noch im B’nai-B’rith-Logensaal durchgeführt.
In den Jahren 1857 und 1858 wurde in direkter Nachbarschaft zum Poolstraßentempel die Kohlhöfensynagoge errichtet. Sie war die erste freistehende Synagoge in Hamburg.
Im Jahre 1861 führte Hamburg als erster Staat in Deutschland die Zivilehe ein, was einen Einschnitt besonders in die jüdische Gemeindeautonomie bedeutete. Die Konsequenzen aus der Verfassungsreform von 1860 wurden durch das Gesetz betreffend die Verhältnisse der hiesigen israelitischen Gemeinden vom 4. November 1864 gezogen: Der Gemeindezwang wurde aufgehoben und die Möglichkeit des Austritts aus der Gemeinde eröffnet.
Die jüdischen Hausvorstände zahlten ihre Steuern an die gemeinsame Deutsch-Israelitische Gemeinde. Zehn Prozent davon konnte man für einen der Kultusverbände bestimmen. Eine Finanzierung des Tempelverbandes geschah außerdem durch Vermietung der Sitzplätze im Tempel.
War der Tempelverband in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch ihre Reformen sehr bekannt geworden, so hatte die Gemeinde doch in der zweiten Hälfte nicht mehr den erwarteten Zulauf. Auch wenn der Tempelverein sich vorwiegend aus wohlhabenden Mitgliedern zusammensetzte, gab es immer wieder Geldprobleme. Die orthodoxen Synagogen waren populärer, wesentlich mitgliederstärker und dadurch auch finanziell besser abgesichert als der Tempel.
War der Tempelverein ursprünglich auch aus einer Schulreformbewegung entstanden, so scheiterten letztlich die Schulleiter des Tempels. Kinder wohlhabender Eltern blieben nach anfänglichem Eifer später dem Unterricht fern.[35]
Ähnlich wie die „Montagsvorlesungen“, die Dr. Seligmann seit 1889 in der „Erholung“ (einem großen Saal im Valentinskamp) einführte, begann seit 1910 eine Sonntagsveranstaltung, die allgemein Anklang fand.[36] Die Prediger Dr. Leimdörfer und Dr. Sonderling hielten monatlich abwechselnd religiös-wissenschaftliche Vorträge im Tempel ohne Ornat. Zwar wurde dies vereinzelt vom orthodoxen Judentum als Sonntagsgottesdienst angeprangert, aber die Kritik war längst nicht mehr so emotional wie im frühen 19. Jahrhundert, denn die orthodoxen Rabbiner sahen in der Tempelgemeinde keinen starken Gegner mehr und die Prediger wurden moderater.
Heute werden die Ruinen gewerblich genutzt oder verfallen. In der Westportal-Ruine sind eine Autowerkstatt, eine Goldschmiede und dahinter eine Schlosserei untergebracht. Es gibt insgesamt vier Gedenktafeln, die auf die ehemalige Synagoge hinweisen.[37] Zwar ist vor Ort keine Gedenkstätte eingerichtet, aber das Denkmalschutzamt der Hamburger Kulturbehörde hat das Ensemble Poolstraße 11, 12, 13, 14 (also sowohl die Reste der ehemaligen Hinterhofsynagoge als auch die dazugehörigen Wohnhäuser an der Straßenfront Poolstraße) 2003 in die Denkmalschutzliste eingetragen.[38] Außerdem ist der ehemalige Tempel in Listen jüdischer Geschichte als Gedenkstätte eingetragen. Zwei Hamburger Künstler haben sich intensiv mit dem Tempel in der Poolstraße auseinandergesetzt und Kunstwerke mit Bezug zum Tempel geschaffen:
Am 23. und 24. August 2003 entwarf der Künstler Arne Kübitz auf der Veranstaltung „Art meets Großneumarkt“ in Hamburg vor den Augen des Publikums ein Modell des Tempels in der Poolstraße aus Teilen alter Schreibmaschinen unter dem Motto „Spurensuche“.[39] Der Künstler Heiner Studt erstellte vier Großgrafiken zum Tempel, außerdem eine mehrteilige Bilderfolge zu den dort verbliebenen Innenräumen der Westportal-Ruine.
Der besorgniserregende Zustand des ehemaligen Reformtempels erregte internationales Aufsehen; im Frühjahr 2019 begannen erste Notmaßnahmen[40] um weiteren Verfall zu verhindern. Vor Jahren bekam die Rückwand der Apsis bereits eine Stützmauer. Eine Spezialfirma entfernte einen Baum, der bereits durch das Dach gewachsen war und brachte ein Notdach an. Im Dezember 2020 kaufte die Stadt Hamburg das Teilgrundstück[41] und sprach sich für den Erhalt der Ruine aus. Ein Nutzungskonzept soll erarbeitet werden, das wohnen und erinnern verbindet. Ziel ist es, jüdisches Leben wieder sichtbar und den Ort öffentlich zugänglich zu machen, und ihn als Denkmal zu erhalten.
Bei einer Pressekonferenz am 5. Februar 2024 forderte die Liberale Jüdische Gemeinde Hamburg, die sich heute auch als Israelitische Tempelverband bezeichnet, die Restitution der Poolstraße. Die Pläne der Restaurierung mit einer Machbarkeitsstudie der Öffentlichkeit präsentiert. Die Pläne wurden durch den Berliner Architekten Jost Haberland vorgestellt, der auch 2024 die neue Synagoge in Potsdam entworfen hat. Bereits im Vorfeld hat die Gemeinde das Denkmalamt der Freien- und Hansestadt unter der Leitung von Anna Joss den Status eines Nationaldenkmal eingefordert. Neben dem Wiederaufbau der orthodoxen Synagoge am Bornplatz forderte die Gemeinde den Senat und die Bürgerschaft der Stadt Hamburg für Gleichbehandlung und Förderung zu sorgen. Der Israelitische Tempelverband werde seit Jahren vom Senat und der Bürgerschaft benachteiligt[42]. Nun verlangt die Gemeinde die komplette Übernahme der veranschlagten 20. Mio. Euro Baukosten und Betriebskosten.
Ende des 19. Jahrhunderts erschien vielen Juden das Wohnumfeld im alten Judenviertel der Neustadt als beengt und zu ärmlich. 1861 wurde die Torsperre Hamburgs aufgehoben und 1865 die Gewerbefreiheit eingeführt. Besonders aber nach dem Abschluss der Judenemanzipation mit der Reichsgründung 1871 und dem gleichzeitigen Beginn der Gründerjahre wurden die Stadtteile jenseits des neuen Dammtors um das Grindelviertel bevorzugtes Ansiedlungsziel der jüdischen Bevölkerung. Waren es 1895 noch 9211 jüdische Einwohner in der „Stadt“ und 3858 in den Grindelvororten, so waren es 1925 nur noch 1453 (Stadt) und schon 10774 im Gebiet um den Grindel.[43] Diese neue Situation führte zum Bau der Neuen Dammtorsynagoge und der Hauptsynagoge am Bornplatz.
Auch der Tempelverband baute in Harvestehude einen größeren Tempel mit bis zu 1200 Plätzen in der Oberstraße 120, der 1931 eingeweiht wurde. Architekten waren Felix Ascher und Robert Friedmann. Die Fassade besteht aus Muschelkalk. Der Kubenbau im Bauhausstil fokussiert auf ein großes Fenster in Form eines stilisierten siebenarmigen Leuchters. Der Rabbiner Italiener sah in dieser fokussierenden Architektur eine Alija, ein Streben zur Höhe.[44]
Unter dem Rabbiner Italiener und dem Oberkantor Kornitzer, der seit 1913 am Tempel wirkte, blühte das Gemeindeleben in der Nähe der Alster Anfang der 1930er Jahre noch einmal besonders auf. Der Tempel hatte allerdings fast alle großen Reformen, für die er in Amerika und Deutschland bekannt war, wieder rückgängig gemacht. Das Zentrum des liberalen Judentums war inzwischen Berlin geworden. Die Spaltungen des Judentums waren vollzogen und konnten durch die konservativ werdenden Hamburger nicht rückgängig gemacht werden. 1937 wurde unter der spürbaren Bedrohung ein besonderes Jahr des Feierns. Der Sederabend 1937 wurde nicht wie üblich im familiären Rahmen, sondern im Tempel Oberstraße unter großem Anklang[45] gemeinsam begangen und das 120-jährige Jubiläum des Tempelvereins wurde mit Vorträgen im Rahmen eines großen Festes gefeiert.
So enthusiastisch wie dieser neue Anfang begann, so traurig endete diese Zeit: Die neue Reformsynagoge in der Oberstraße wurde 1938 bei dem Novemberpogrom verwüstet, geschändet, geschlossen und musste dann zwangsverkauft werden. Das Gebäude überstand den Krieg allerdings äußerlich heil. – Reformorientierte Gottesdienste wurden nach Schließung des Tempels Oberstraße bis 1942 unter der Leitung von Rabbiner Joseph Norden im ehemaligen Logensaal des B’nai-B’rith-Ordens in der Hartungstraße 92 durchgeführt.
1953 kaufte der NDR (damals noch NWDR) das Gebäude und widmete es zu einem Konzertstudio um, dem heutigen Rolf-Liebermann-Studio. Das vor dem Gebäude stehende Mahnmal stammt von Doris Waschk-Balz.
Die Gemeinde des „Neuen Israelitischen Tempel-Vereins in Hamburg“ führt ihre Aktivitäten seit 2004 fort und hat heute 325 Mitglieder. Der Begriff Israelitischer Tempel wird jeweils für die Gemeinde selbst, aber auch für das Synagogengebäude verwendet.[46]
Gebetbücher/Ordnungen
Schriften der Tempelprediger (Auszug)
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