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Unter dem Begriff Empirische Literaturwissenschaft wird nach ihrem Begründer Siegfried J. Schmidt eine Literaturwissenschaft verstanden, die folgende Ziele verfolgt:
Die traditionelle, hermeneutisch orientierte Literaturwissenschaft sieht als ihre Hauptaufgabe die Beschäftigung mit „literarischen Texten“ an, besonders die Interpretation solcher Texte. Die Vertreter der Empirischen Literaturwissenschaft kritisieren diese Beschränkung als willkürlich und halten der traditionellen Literaturwissenschaft vor, dass der überwiegende Teil ihrer Forschungsresultate kein Wissen enthalte, das über den unmittelbaren Zweck der Forschung (Prüfung, Qualifikation, Berufung usw.) hinaus in anderen wissenschaftlichen Disziplinen oder gar außerhalb der Literaturwissenschaft verwendbar wäre oder zur Lösung gesellschaftlicher Probleme taugen könnte.
Damit die Literaturwissenschaft sich zu einer Normalwissenschaft im Sinne von Thomas S. Kuhn entwickeln könne, müssen nach Auffassung der Vertreter der Empirischen Literaturwissenschaft nicht nur ihre Voraussetzungen, sondern auch ihr Gegenstand neu bestimmt werden. Das Erkenntnisinteresse der Empirischen Literaturwissenschaft gilt daher weniger den „literarischen Kunstwerken“ als vielmehr den menschlichen Handlungen, die mit literarischen Phänomenen im weitesten Sinne zu tun haben, wie z. B. der Produktion, der Vermittlung, der Rezeption und der Verarbeitung von Literatur.
Die Empirische Literaturwissenschaft bestimmt den Begriff "Literatur" nicht vom literarischen Text, Dokument oder Kunstwerk her, sondern als System gesellschaftlichen Handelns. "Literatur" wird beschrieben als ein Netz von Handlungen der Teilnehmer ("Aktanten") des "Handlungssystems Literatur": Autoren, Leser, Kritiker, Verleger usw. Diese Handlungen können mit empirischen Methoden untersucht werden. Wenn man hingegen das Literaturkunstwerk zum Hauptgegenstand von Literaturwissenschaft und seine Interpretation zur Hauptaufgabe macht, steht man nach Auffassung der Vertreter der Empirischen Literaturwissenschaft vor dem Problem eines ungeklärten Wissenschaftsbegriffs und infolgedessen eines unüberschaubaren Methodenpluralismus, der das Gegenteil einer normalwissenschaftlichen Forschungstradition darstellt, die auf kritische Rationalität, Argumentation, empirische Überprüfung und intersubjektive Verifizierbarkeit/Falsifizierbarkeit setzt.
Die empirische Literaturwissenschaft steht der psychologischen Leseforschung nahe und bezieht aus dieser praktische Methoden, um die Handlungen im "Handlungssystem Literatur" empirisch zu beschreiben, so etwa Lese-, Fragebogen- oder Auswertungstechniken. Praktische Anwendungsfelder finden sich vor allem im interdisziplinären Kontext, so etwa im Zusammenspiel mit Sozial-, Politik- oder Rechtswissenschaften. Hier hilft sie, die Wirkung eines literarischen Werkes auf das Handlungssystem, in dem das Werk steht, zu erfassen und darzustellen. Im Zuge der juristischen Beurteilung von literarischen Texten wie im Fall Böhmermann oder im Fall Esra ist die empirische Literaturwissenschaft somit in der Lage, wesentliche Begriffe zu definieren und die direkte Wirkung des Werkes auf Betroffene und auch die indirekte Wirkung auf Betroffene über deren Umfeld empirisch zu prüfen.[1]
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