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Fernbleiben eines Soldaten von militärischen Verpflichtungen in Kriegs- oder Friedenszeiten Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Fahnenflucht, Desertation oder Desertion bezeichnet das Fernbleiben eines Soldaten von militärischen Verpflichtungen in Kriegs- oder Friedenszeiten – benannt nach der Flucht von der Regimentsfahne, unter der sich alle Soldaten zum Gefecht zu versammeln hatten. Der fahnenflüchtige Soldat wird allgemein als Deserteur (französisch déserteur, abgeleitet von lateinisch deserere ‚verlassen‘) bezeichnet und ihm im Falle der Flucht vor einem bevorstehenden Kampfeinsatz oft das straferschwerende Attribut „Feigheit vor dem Feind“ angelastet.
Von den Deserteuren rechtlich unterschieden werden sogenannte Totalverweigerer. Dabei handelt es sich um Wehrpflichtige, die ihrer Gestellungspflicht nicht nachkommen und/oder den Fahneneid verweigern. Die Betreffenden entziehen sich widerrechtlich bereits der Musterung oder treten nach deren Absolvierung weder den Militär- noch den Ersatzdienst an. Mitunter entziehen sich diese Personen der nun anstehenden Zwangsrekrutierung oder strafrechtlichen Verfolgung durch Flucht. In der napoleonischen Ära wurden solche Personen im deutschen Sprachraum Refrakteure genannt, nach dem französischen Terminus Réfracteurs oder Réfractaires.[1] Der Begriff steht im politischen Sinn für „Widerständige“ oder „Eidverweigerer“ und wurde analog im revolutionären Frankreich auf Priester angewandt, die den Eid auf die republikanische Verfassung verweigerten (prêtres réfractaires).[2]
Viele Staaten verhängen für Deserteure Freiheitsstrafen. Einige sehen – besonders in Kriegszeiten – die Todesstrafe vor.
Im Deutschen Kaiserreich war die Fahnenflucht als Sonderfall der Unerlaubten Entfernung im Dritten Abschnitt des Militärstrafgesetzbuches des Deutschen Reiches[3] vom 20. Juni 1872 geregelt. Die Fahnenflucht war, wie im heutigen Militärrecht, eine unerlaubte Entfernung in der Absicht, sich dem Wehrdienst dauerhaft zu entziehen; auch der Versuch war strafbar. Zur Aburteilung von Fahnenflucht waren Militärgerichte berufen.
Die Strafandrohung war äußerst feingliedrig: Der Strafrahmen lag grundsätzlich bei sechs Monaten bis zwei Jahren Militärgefängnis. Im ersten Rückfall betrug die Strafe von einem Jahr bis fünf Jahren Militärgefängnis (durch Änderungsgesetz vom 14. Juli 1914 wurde die Mindeststrafe in minder schweren Fällen auf drei Monate, im Rückfall sechs Monate ermäßigt),[4] im wiederholten Rückfall Zuchthaus von fünf bis zehn Jahren.
Wurde die Fahnenflucht im Felde (d. h. im Kriegseinsatz) begangen, betrug die Strafe fünf bis zehn Jahre Militärgefängnis (durch Änderungsgesetz vom 25. April 1917 wurde die Mindeststrafe in minder schweren Fällen auf mindestens ein Jahr ermäßigt); im Rückfall, wenn die frühere Fahnenflucht nicht im Felde begangen worden war Zuchthaus von fünf bis fünfzehn Jahren, wenn die frühere Fahnenflucht im Felde begangen worden war, wurde der Rückfall mit dem Tode bestraft (aufgrund Änderungsgesetz vom 25. April 1917 konnte stattdessen lebenslängliches Zuchthaus oder Zuchthaus von zehn bis fünfzehn Jahren verhängt werden).
Die Fahnenflucht vom Posten vor dem Feind oder aus einer belagerten Festung wurde mit dem Tode bestraft. Dieselbe Strafe traf den Fahnenflüchtigen, welcher zum Feinde überging (Überläufer).
Hatten mehrere Soldaten eine Fahnenflucht in Mittäterschaft begangen, so wurde die Freiheitsstrafe um ein Jahr bis zu fünf Jahren erhöht (durch Änderungsgesetz vom 14. Juli 1914 wurde die Erhöhung in minder schweren Fällen auf mindestens sechs Monate ermäßigt). War die Tat im Felde begangen, wurde statt des Militärgefängnisses auf Zuchthaus von gleicher Dauer verhängt, gegen den Rädelsführer und Anstifter die Todesstrafe (aufgrund Änderungsgesetz vom 25. April 1917 konnte stattdessen lebenslängliches Zuchthaus oder Zuchthaus von fünf, im Rückfall von zehn bis fünfzehn Jahren verhängt werden).
Als Nebenstrafe war auf die Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes zu erkennen, die Verhängung der Zuchthausstrafe führte zur Entfernung aus dem Militär.
Stellte sich ein Fahnenflüchtiger innerhalb sechs Wochen nach erfolgter Fahnenflucht, so konnte die an sich verwirkte Zuchthausstrafe oder Gefängnisstrafe bis auf die Hälfte ermäßigt werden, wenn er die Fahnenflucht nicht im Feld (d. h. im Kriegseinsatz) begangen hatte. Lag kein Rückfall vor, so konnte von der Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes abgesehen werden. Gegen Unteroffiziere musste jedoch auf Degradierung erkannt werden. Durch Änderungsgesetz vom 25. April 1917 wurde die Milderung auch für Taten im Felde eingeführt, wenn sich der Fahnenflüchtige innerhalb einer Woche stellte, an Stelle der Todesstrafe konnte in diesen Fällen auf lebenslängliches Zuchthaus oder Zuchthaus nicht unter fünf Jahren erkannt werden.[5]
Die Unterlassung einer Meldung einer geplanten Fahnenflucht, von der jemand glaubhaft Kenntnis erhalten hatte, wurde mit Freiheitsstrafen von bis zu sechs Monate, im Feld von ein bis drei Jahren bestraft.
In der Weimarer Republik war die Fahnenflucht in den §§ 64 bis 80 Militärstrafgesetzbuch (MStGB) in der Fassung vom 16. Juni 1926[6] geregelt.[7] §§ 64 und 65 definieren eine „unerlaubte Entfernung“, § 69 die Fahnenflucht/Desertion. Mit der Weimarer Republik ging die Gerichtsbarkeit in Militärstrafsachen auf die ordentliche Gerichtsbarkeit über.
In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Verfolgung verstärkt. Am 1. Januar 1934 wurden die militärischen Strafgerichte wieder eingeführt. 1935 und 1940 wurden die Bestimmungen zu diesen beiden Tatbeständen erheblich verschärft.[8]
Die NS-Militärjustiz fällte laut Hochrechnungen etwa 30.000 Todesurteile; davon wurden etwa 23.000 auch vollstreckt.[13] Eine neuere Studie des Historikers Stefan Treiber kommt allerdings zu niedrigeren Zahlen. Eine detailliertere Auswertung der Wehrmacht-Kriminalstatistik ergab, dass während des Zweiten Weltkrieges ca. 26.000 Soldaten wegen Fahnenflucht verurteilt wurden. In seiner Studie hatte Treiber die Rechtsprechung des Feldheeres während des Feldzugs gegen die Sowjetunion ausgewertet. Er kam dabei auf eine Todesurteilsquote von ca. 60 % bis Ende 1944. Die Vollstreckungsquote, gemessen an den Todesurteilen, lag auch bei ca. 60 %. Dies würde bedeuten, dass bis Ende 1944 ungefähr 10.000 Wehrmachtsdeserteure hingerichtet wurden.[14] Insgesamt sind etwa 350.000 bis 400.000 Soldaten desertiert (Wehrmachtgerichte, siehe dort bei Lit.). Das macht bei rund 18,2 Mio. Soldaten aller Bereiche eine Desertionsquote von rund 2 %.[15]
Zwar wurde für Desertion häufig die Todesstrafe verhängt, es kam aber auch zur Verhängung von insbesondere Zuchthaus-, seltener auch von Gefängnisstrafen. Ab 1942, als Freiheitsstrafen vermehrt in Front-Strafeinheiten verbüßt wurden, konnte nach Ablauf einer Überprüfungszeit auch eine Überführung von dort in ein KZ erfolgen.[16] In der Spätphase des Krieges konnte die Möglichkeit zur Begnadigung bestehen, welche als Bedingung an den Einsatz in einer militärischen Bewährungseinheit geknüpft war, wobei dort oft Aufträge mit geringer Überlebenschance ausgeführt werden mussten.
In Norddeutschland und Nordeuropa standen nach der Kapitulation der deutschen Truppen Wehrmachtsoldaten zur Aufrechterhaltung der Ordnung teilweise unter britischem Kommando. Am 10. Mai 1945 verurteilte das Kriegsgericht der 6. Gebirgs-Division in Norwegen fünf Soldaten zum Tode durch Erschießen, weil sie beim Versuch, nach Schweden zu desertieren, ihren Batteriechef und einen Leutnant erschossen hatten. Die Urteile wurden vom nächsten britischen Brigade-Kommando in Tromsø bestätigt, die Delinquenten durch Angehörige der Divisions-Nachrichtenabteilung hingerichtet.[17]
Mit dem Wehrpflichtgesetz vom 24. Januar 1962[18] wurde in der DDR die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Das Strafgesetzbuch wurde durch das Militärstrafgesetz (MStG) vom 24. Januar 1962[19] um den Tatbestand der Fahnenflucht ergänzt (§ 4 MStG). Für die Militärstrafsachen waren ab 1963 die Militärgerichte[20] zuständig. Höchststrafe waren acht Jahre Zuchthaus. Mit Gesetz vom 12. Januar 1968[21] wurde § 4 MStG durch § 254 Strafgesetzbuch (DDR)[22] ersetzt. Die Höchststrafe betrug nun sechs Jahre, in schweren Fällen zehn Jahre Freiheitsstrafe. Daneben bestand mit § 256 StGB (DDR) der Straftatbestand „Wehrdienstentziehung und Wehrdienstverweigerung“. Hierauf standen bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe.
Nach der friedlichen Revolution wurde bezüglich der Rehabilitierung zwischen Verurteilungen wegen § 254 und § 256 unterschieden. Während Wehrdienstentziehung und Wehrdienstverweigerung in den Regelkatalog des § 1 Abs. 1 StrRehaG aufgenommen wurden, galt dies nicht für Fahnenflucht. Der Bundestag ging davon aus, Fahnenflucht sei „überwiegend kein politisches Delikt“ gewesen, während „Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen […] zu politischen Zwecken unterdrückt und unter Strafe gestellt“ worden sei.[23] Sanktionen wegen Fahnenflucht sind deshalb nach Ansicht der Rehabilitierungsgerichte nicht in allen Fällen, sondern nur bei Hinzutreten weiterer Faktoren rehabilitierungsfähig. Das ist etwa der Fall, wenn der Tat politische Motive zugrunde lagen.
Die DDR hatte von Anbeginn ihres Bestehens eine hohe Zahl vollendeter Fahnenfluchten zu verzeichnen, namentlich durch die an der innerdeutschen Grenze und an der Berliner Mauer eingesetzten Polizisten und Soldaten. In Einzelfällen kam es mit Blick auf eine Begünstigung bzw. Verhinderung der Flucht zum Einsatz mitgeführter Schusswaffen, und es waren Tote und Verletzte zu beklagen.
Fahnenflucht ist in Deutschland nach § 16 Wehrstrafgesetz (WStG) strafbar. Schutzgut des Straftatbestandes ist die Schlagkraft der Truppe. Danach wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft, wer eigenmächtig seine Truppe oder Dienststelle verlässt oder ihr fernbleibt, um sich der Verpflichtung zum Wehrdienst dauernd oder für die Zeit eines bewaffneten Einsatzes zu entziehen, oder die Beendigung des Wehrdienstverhältnisses zu erreichen. Bereits der Versuch der Fahnenflucht ist strafbar. Übt der fahnenflüchtige Soldat tätige Reue, indem er sich binnen eines Monats stellt, und ist er bereit, Wehrdienst zu leisten, so wird die Höchststrafe auf drei Jahre Freiheitsentzug herabgesetzt.
Die Fahnenflucht ist ein Sonderdelikt; sie kann nur von Soldaten begangen werden. Für die Beteiligungsformen der Anstiftung und Beihilfe muss das strafbegründende Merkmal, Soldat zu sein, aber nicht vorliegen. Stiftet eine Zivilperson eine Militärperson zu einer Fahnenflucht an oder leistet sie ihr Beihilfe, ist die Strafe, die für die Anstiftung auferlegt wird, gemäß § 28 Abs. 1 StGB obligatorisch nach § 49 Abs. 1 StGB zu mildern.[24]
Für Zivildienstpflichtige galten für die Dienstflucht (§ 53 ZDG) entsprechende Regelungen.
In Deutschland ist die Unterlassung der Meldung einer geplanten Fahnenflucht eines anderen zu einem Zeitpunkt, zu welchem die Ausführung noch abgewendet werden kann, nicht strafbar. Disziplinarrechtliche Maßnahmen bleiben unberührt.
Die Fahnenflucht ist von der unerlaubten Entfernung (eigenmächtige Abwesenheit) zu unterscheiden. Die unerlaubte Entfernung ist nach § 15 WStG mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe belegt. Die unerlaubte Entfernung erfasst die vorsätzliche oder fahrlässige Abwesenheit von mehr als drei Kalendertagen oder das Verlassen seiner Truppe bzw. seiner Dienststelle ohne die Absicht, sich dauerhaft oder für die Dauer eines bewaffneten Einsatzes dem Wehrdienst zu entziehen oder das Wehrdienstverhältnis zu beenden.
In der Bundesrepublik Deutschland ist zur Aburteilung fahnenflüchtiger Militärpersonen die ordentliche Gerichtsbarkeit berufen. Der Bund kann Wehrstrafgerichte errichten. Sie können die Strafgerichtsbarkeit nur im Verteidigungsfall sowie über Militärpersonen ausüben, welche in das Ausland entsandt oder an Bord von Kriegsschiffen eingeschifft sind. Von dieser Möglichkeit hat der Gesetzgeber bisher keinen Gebrauch gemacht. Offizielle Zahlen zur Häufigkeit der Fahnenflucht in Deutschland liegen bis auf die Jahre 2009–2012 (34, 25, 25, 12)[25] nicht vor.[26] Schätzungen gehen von ca. 50 Fahnenfluchten im Jahr aus.
Das österreichische Militärstrafgesetz (MilStG) belegt Desertion – der Begriff „Fahnenflucht“ wird hier nicht verwendet – in § 9 MilStG (Desertion) mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Milder sind die Strafen für Täter, die außerhalb eines militärischen Einsatzes (Landesverteidigung, Verfassungsschutz, Katastrophenhilfe, Auslandseinsatz) erstmals desertieren und sich binnen sechs Wochen aus freien Stücken stellen. Für sie gilt § 8 MilStG (Unerlaubte Abwesenheit) mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten (oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen) bei Abwesenheitsdauer unter acht Tagen beziehungsweise Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bei Abwesenheitsdauer über acht Tagen.
In der Schweiz wird Militärdienstverweigerung und Desertion nach Art. 81 des Militärstrafgesetzes mit Freiheitsstrafe bis zu 18 Monaten bestraft. Neben der Totalverweigerung ist auch die sogenannte „partielle Militärdienstverweigerung“ strafbar; darunter fällt namentlich die Verweigerung der ausserdienstlichen Schiesspflicht.
4.983 irische Soldaten desertierten im Zweiten Weltkrieg aus ihrer – neutralen – Armee, um an der Seite britischer Truppen gegen Hitlerdeutschland in den Kampf zu ziehen. Viele waren bei der Landung in der Normandie (6. Juni 1944) dabei, andere bei der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen. In Irland gelten diese – inzwischen größtenteils verstorbenen – Männer bis heute (2012) nicht als Helden. Die überlebenden Heimkehrer wurden nach ihrer Rückkehr ohne Anhörung unehrenhaft aus der Armee entlassen, aller Militärpensionsansprüche enthoben und für sieben Jahre von jeder Beschäftigung beim Staat ausgeschlossen. Manche mussten sich sogar vor einem Kriegsgericht verantworten. 2011 begann ein pensionierter Taxifahrer aus Dublin eine Kampagne mit dem Ziel, diese Männer zu rehabilitieren. Irlands oberste Justitiarin Máire Whelan sollte 2012 in einem Gutachten entscheiden, ob nicht der Einsatz „gegen Tyrannei und Totalitarismus“ schwerer wiegt als diese spezielle Form der Desertion.[27]
Britische Militärs (Großbritannien hat zurzeit eine reine Berufsarmee) müssen im Falle einer Verhaftung wegen Desertion weiterhin mit lebenslanger Haft rechnen. Das für die Gesetzgebung maßgebliche nationale Unterhaus lehnte mehrheitlich den Antrag einer großen Gruppe von Labour-Abgeordneten ab, die gesetzlich vorgesehene Bestrafung auf zwei Jahre zu begrenzen. Diese Parlamentarier werfen der Regierung vor, mit dieser drakonischen Haftandrohung Soldaten gegen ihren Willen zum Irak-Einsatz zu zwingen.
In Großbritannien lag die Gesamtzahl der „illegal abwesenden“ Soldaten im Jahr 2001 bei 100, 2002 bei 150, 2003 bei 205 und im Jahr 2005 bei 530. Dabei dürfte die deutliche Zunahme mit der Teilnahme Großbritanniens am Irakkrieg zusammenhängen.
Das Militärstrafrecht der Vereinigten Staaten, der Uniform Code of Military Justice im Rahmen des United States Code, stellt in seinem Artikel 85 (Desertion, auch Absence Without Official Leave (AWOL)) Fahnenflucht unter Strafe. Das Strafmaß liegt zwischen einer Strafe im Ermessen des Kriegsgerichtes (… as a court-martial may direct) bis zur Todesstrafe, die jedoch ausschließlich in Fällen von Fahnenflucht bei Kriegseinsätzen verhängt werden darf.
Während des Zweiten Weltkrieges wurden über 21.000 Angehörige der US-Streitkräfte wegen Fahnenflucht verurteilt. Dabei wurde in 49 Fällen wegen Fahnenflucht im Kriegsfall die Todesstrafe verhängt, hingerichtet wurde allein Eddie Slovik.
Nach dem Koreakrieg desertierten zwischen 1962 und 1982 insgesamt sechs an der Demilitarisierten Zone stationierte US-Soldaten nach Nordkorea, unter ihnen 1965 Charles Robert Jenkins, der 2004 nach Japan übersiedelte, und 1962 James Joseph Dresnok, der bis zu seinem Tod 2016 in Nordkorea lebte. Auch die übrigen vier Soldaten sind in Nordkorea verstorben.
Allein 1971 desertierten auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges und bei allgemeiner Wehrpflicht 33.000 Soldaten – 3,4 Prozent der US-Streitkräfte. Über 8.000 US-Soldaten desertierten im Jahr 2005 zur Zeit des Einsatzes im Irak. Das waren statistisch 0,24 Prozent der freiwillig dienenden Soldaten.
Im italienischen Militärstrafrecht sind die Straftatbestände „unerlaubte Abwesenheit“ und „Desertion“ definiert. Ersterer Tatbestand gilt bei eintägiger Abwesenheit als erfüllt, letzterer bei fünftägiger Abwesenheit. Als Strafmaß sind bis zu zwei Jahre Haft vorgesehen.[28] Im Kriegsfalle gelten sowohl hinsichtlich des Straftatbestandes als auch beim Strafmaß strengere Regelungen. Die Verfassung von 1948 schaffte die Todesstrafe zwar grundsätzlich ab, ermöglichte sie jedoch im Bereich des Kriegsstrafrechts bis zu einer Verfassungsänderung im Jahr 2007.[29] Im Kriegsstrafrecht selbst wurde die Todesstrafe 1994 abgeschafft, ihre Anwendung de facto seit 1948 grundsätzlich ausgesetzt. Bis 1994 war für Desertion im Krieg rechtlich die Todesstrafe vorgesehen, seither gilt in diesem Fall die in Italien allgemein mögliche Höchststrafe, also lebenslange Haft (unter Umständen mit vorzeitiger Freilassung).[30]
Auch in der Sowjetarmee wurde gegen Deserteure mit Haftstrafen vorgegangen; besonders in Kriegszeiten wurde die Todesstrafe vorgesehen. So wurden fahnenflüchtige Angehörige der sowjetischen Truppen in der DDR häufig extrem hart bestraft, wenn sie die Fahnenflucht überhaupt überlebten. Gründe für die Fahnenflucht waren oft die Behandlung der Armeeangehörigen: Zur Tradition der sowjetischen bzw. russischen Truppen gehört bis heute teilweise die menschenunwürdige Behandlung der neu eingezogenen Rekruten (Dedowschtschina).
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) legte im März 1995 die Auffassung dar, dass Wehrdienstverweigerern und Deserteuren zwar nicht generell Flüchtlingsschutz zukommt, dass sie aber sehr wohl unter bestimmten Umständen Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention sein können. Dies treffe zu, wenn ihnen aus dem Grunde Strafe droht, dass sie sich weigern, an militärischen Aktionen teilzunehmen, die von der internationalen Gemeinschaft verurteilt werden oder durch schwere oder systematische Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht gekennzeichnet sind.[31] Ähnliches legt auch das Handbuch des UNHCR für eine Weigerung der Teilnahme an einer militärischen Aktion fest, die von der internationalen Gemeinschaft als gegen die Grundregeln menschlichen Verhaltens verstoßend verurteilt wird.[32]
In der Europäischen Union sagt Artikel 9e der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) denjenigen Schutz zu, die sich völkerrechtswidrigen Handlungen oder Kriegen entziehen und deshalb Bestrafung fürchten müssen.
In einzelnen Mitgliedstaaten, so auch in Deutschland, wird dies streng ausgelegt. Wer den Kriegsdienst verweigert und in Deutschland Asyl beantragt, muss sehr restriktiven Auflagen genügen (Nachweise der Einberufung sowie der Einsatzbefehle mit Aufforderungen zu völkerrechtswidrigen Handlungen; außerdem müssen Asylsuchende bereits im eigenen Land einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt haben). Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine 2022 verwies Deutschland zunächst auf Einzelfallprüfungen für russische Deserteure und Kriegsdienstverweigerer.[33] Nach der russischen Teilmobilisierung im September 2022 drängten einige EU-Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame Linie für den Umgang mit russischen Kriegsdienstverweigerern;[34][35] die politischen Positionen hierzu liegen jedoch weit auseinander. Die EU-Kommission wurde aufgefordert, die Leitlinien zur Visavergabe „unter Berücksichtigung der Sicherheitsbedenken der Mitgliedstaaten zu überprüfen, zu bewerten und gegebenenfalls zu aktualisieren“.[35]
Von Kriegsbeginn bis Herbst 2023 haben etwa 3.500 russische Männer im wehrfähigen Alter in Deutschland Asyl beantragt, und über mehr als die Hälfte dieser Anträge wurde entschieden. Nur in 92 Fällen wurde Schutz bewilligt.[36]
Die Rehabilitation von ungehorsamen Soldaten des Zweiten Weltkriegs war in Deutschland schwierig. Mittlerweile wurden die Urteile von NS-Richtern gegenüber Deserteuren aufgehoben.[13] Ursache des seinerzeit vehement geführten parlamentarischen Streits war ein Urteil des Bundessozialgerichts vom 11. September 1991, welches der Witwe eines 1945 erschossenen Wehrpflichtigen Entschädigung nach dem Bundesversorgungsgesetz zugesprochen hatte. In einem weiteren Urteil, dieses Mal des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1991 wurde festgestellt, dass es sich bei der Wehrmachtsjustiz um eine „Terrorjustiz“ handele und die Wehrmachtsrichter wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden müssten.[37] Der Bundestag wurde in dem Urteil aufgefordert, die Urteile der Wehrmachtsjustiz aufzuheben.[37]
Erst 1998 beschloss der Deutsche Bundestag ein Gesetz zur Rehabilitierung der Deserteure und eine symbolische Entschädigung der Überlebenden und ihrer Angehörigen.[13] Das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege sah jedoch zunächst – im Unterschied zu anderen Opfergruppen – eine Einzelfallprüfung vor. Erst 2002 wurde das Gesetz in der Weise geändert, dass nun auch die Urteile der Militärgerichte gegen Deserteure der Wehrmacht pauschal aufgehoben wurden.[38] Der Bundestagsabgeordnete Norbert Geis (CSU) bezeichnete die „pauschale Aufhebung der Urteile gegen Deserteure im Zweiten Weltkrieg“ nach der ersten Lesung des Gesetzes am 28. Februar 2002 als eine „Schande“.[39] Am 8. September 2008 beschloss der Deutsche Bundestag einstimmig sämtliche Urteile der NS-Militärjustiz aufzuheben und die Verurteilten zu rehabilitieren. Bis dahin waren noch die Rehabilitierungen wegen Kriegsverrats offen.[40][41]
Mittlerweile liegen auch, gefördert vom Bereich Kultur der Stadt Hannover, erste Unterrichtsmaterialien vor, die die Themen Desertion und Wehrkraftzersetzung für den Unterricht aufbereiten.[42]
Ähnlich schwierig gestaltete sich die Rehabilitierung in Österreich: Der erste entsprechende Antrag wurde 1999 im Österreichischen Nationalrat behandelt.[43] Im Jahr 2005 folgte unter der Koalitionsregierung aus ÖVP und FPÖ ein erstes Aufhebungsgesetz,[44] das mehrere inhaltliche und juristische Lücken aufwies. 2009 folgte das „Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz“[45] das pauschal sämtliche Urteile ohne Einzelfallprüfung aufhob. Explizit sprach „die Republik Österreich“ allen Deserteuren, Kriegsverrätern und sonstigen von der NS-Militärjustiz verfolgten Personen „ihre Achtung“ (§ 4) aus.[46]
Motive zur Desertion lassen sich nicht auf monokausale Entscheidungen zurückführen. Sie sind vielmehr auf einer Gemengelage von situativen Verhältnissen und längerfristigen Entscheidungen beruhend. In der Forschungsliteratur sind wiederholt Systematisierungen versucht worden, so von Martin Schnackenberg[47] und Marco Dräger-[48]
Historiker, die Gerichtsquellen einsehen konnten, kamen zu dem Schluss, dass eine politische Motivation zur Fahnenflucht eher selten war. Aus Akteneinsicht schätzte Gerhard Paul[49] 1994 etwa 20 Prozent pazifistische und anti-nationalsozialistische Motive. Von den analysierten Fällen der in die Schweiz geflohenen Deserteure gaben 14,4 Prozent oppositionelle Einstellungen an. Stefan Treiber untersuchte 4.000 Akten von Deserteuren und kam zu dem Befund, dass nur in einem Prozent aller Fälle politische Gründe, also Widerstand gegen den Krieg oder den Nationalsozialismus, als Motiv glaubhaft sind.[50] Winfried Dolderer weist in seiner Rezension[51] dieses Buches auf die Problematik solcher Befunde hin: „Ein gefasster Deserteur, der sich vor Gericht offen als Regime- und Kriegsgegner bekannt hätte, hätte auf mildernde Umstände kaum rechnen können. Erschließen lassen sich Hintergründe indes aus der in den Akten umfangreich dokumentierten Vorgeschichte der Angeklagten, den Umständen der Tat, Zeugenaussagen. Wo sich Hinweise fanden, dass ein Angeklagter bereits im Zivilleben als Regimegegner aufgefallen war, schien es plausibel, auch für die Desertion ein politisches Motiv anzunehmen.“ Wo aber – besonders im letzten Kriegsjahr – Urteile nahezu im Minutentakt gefällt wurden, fehlt jede Untersuchung der Vorgeschichte.
Die folgende Darstellung der unterschiedlichen Ursachen und Motive für eine Fahnenflucht folgt den Untersuchungen von Peter Richter und Norbert Haase.[52]:43–75 Religiöse Motive können radikalpazifistischen oder tief religiösen Männern zugeordnet werden. Eine solche Persönlichkeit war der Wehrdienstverweigerer Hermann Stöhr. Dass er 1940 als „Deserteur“ hingerichtet wurde, macht deutlich, wie wenig zwischen religiösen Wehrdienstverweigerern und fahnenflüchtigen Soldaten unterschieden wurde.
Nach den Erfahrungen des Krieges und des Sterbens dürfte der Wunsch zu überleben das dominierende Motiv für eine Fahnenflucht gewesen sein. Ludwig Baumann beschreibt in seinen Lebenserinnerungen das Motiv des jungen Soldaten für die Flucht aus Bordeaux in die damals noch unbesetzten Gebiete Frankreichs: „Die Wahrheit ist: Ich wollte nicht töten. Und ich wollte leben.“[53].
Traumatische Schlüsselerlebnisse als Auslöser von Fahnenflucht sind fast nur in amerikanischen und englischen biografischen Darstellungen zu finden. Die Verfestigung traumatischer Erlebnisse ist seit 1980, nach dem Vietnamkrieg, unter dem Begriff Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) als psychiatrische Erkrankung anerkannt. Symptome, wie das „Kriegszittern“ oder das englische shell shock im Ersten Weltkrieg sind deutliche Zeichen einer schweren PTSD. Nach Kriegsende schätzten britische Stellen, dass von dieser Symptomatik ca. 80.000 Soldaten betroffen waren[54]. Die eigentlich kranken Soldaten wurden als willensschwache „Psychopathen“ und als charakterlich minderwertig behandelt. Deutsche Psychiater gingen so weit, diese „Kriegsneurosen“ als ein Delikt der „Wehrkraftzersetzung“ einzustufen, das nach der Kriegssonderstrafordnung[55] von 1938 mit dem Tod zu ahnden war. Berücksichtigt man die umfangreiche US-amerikanische und israelische militärpsychologische Forschung[56][57] zum Thema PTSD in Kampfhandlungen, so ist es hochwahrscheinlich, dass Traumata auch eine Ursache für Fahnenflucht an der Front waren. In den erhaltenen Prozessakten finden sich gemäß dem damals fehlenden Wissen über die Krankheit PTSD kaum Hinweise auf diese Motivgruppe. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass von den zum Tode verurteilten Deserteuren in vielen Armeen ein nicht geringer Teil nach heutiger Kenntnis an einer schweren PTSD litt.
Erste Deserteursdenkmäler wurden in der Lausitz bald nach dem Krieg errichtet. Auf dem Gebiet der DDR entstanden zwischen 1950 und 1980 weitere Denkmäler. In den Recherchen über Deserteursdenkmäler in Deutschland sind sie weitgehend unbekannt geblieben und spielten im Diskurs der 1980er Jahre über die Errichtung von Deserteursdenkmälern in der Bundesrepublik keine Rolle. Erst die Arbeit von Peter Richter und Norbert Haase hat sie 2019 wieder ins öffentliche Bewusstsein gebracht.[52]:86–93
Erste Initiativen zur Errichtung von Deserteurdenkmälern in der Bundesrepublik entstanden 1981 in Kassel und 1983 in Bremen.[60]
Ein Beispiel für die Behandlung des Fahnenflucht-Themas im NS-Kino ist Der Fall Rainer (1942).
Ein bekannter Zeitzeuge, der selbst seine Desertion literarisch aufgearbeitet und immer offen diskutiert hat, war der Schriftsteller Gerhard Zwerenz.
Die weltweit bekannteste Bearbeitung ist wahrscheinlich das Chanson Le déserteur von Boris Vian. Darin schreibt ein junger Mann an Monsieur le président, den Staatschef, dass er aus Gewissensgründen nicht (weiter) am Krieg teilnehmen werde. Übersetzt ins Englische, ins Deutsche und zahlreiche weitere Sprachen ging es ebenso um die Welt wie Donovans Dos Kelbl, nämlich in unzähligen Singrunden und -büchern. Serge Reggiani hatte damit einen großen französischen Charts-Erfolg.
Um die in ihrem Existenzrecht bedrohte Lage von Deserteuren drehen sich zahllose literarische Bearbeitungen. Die erste und am heftigsten diskutierte in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ist die autobiografische Erzählung aus dem Jahr 1952 Die Kirschen der Freiheit von Alfred Andersch.
Das Thema der Fahnenflucht regte Stefan Dähnert zu seinem Theaterstück Herbstball an.
Eine bekannte Bearbeitung des Themas ist das Lied von P.T. dem Apachen von Franz Josef Degenhardt, das die Desertion eines in Deutschland stationierten G.I. zur Zeit des Krieges in Vietnam thematisiert.
Von einem konföderierten Deserteur im Amerikanischen Bürgerkrieg handeln der Roman Unterwegs nach Cold Mountain sowie die gleichnamige Verfilmung.
Für den Film ist Catch-22 – Der böse Trick von Mike Nichols zu nennen, nach einer Literaturvorlage von Joseph Heller (Catch-22), ebenso der deutsche Film Kriegsgericht von 1959, der die Militärjustiz im Dritten Reich thematisiert.
2013 entstand der Dokumentarfilm Out of Society, Ein Filmporträt über Emil Richter, einen Deserteur des Zweiten Weltkriegs und über André Shepherd, der 2007 aus der US-Armee desertierte.[84][85]
Desertion und Wehrmachtjustiz
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