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Das Konzept "Lebensweltorientierte Soziale Arbeit" wurde maßgeblich von Hans Thiersch entwickelt. Es ist sein Versuch, die Soziale Arbeit theoretisch zu begründen. Daneben gibt es auch andere, z.B. das Konzept einer systemischen Sozialen Arbeit von Peter Lüssi oder Mario Bunge. Jedoch ist die Theoriediskussion in Deutschland in den letzten Jahren völlig auf Thierschs Konzept eingeschwenkt, hat es weitergeführt, ausgearbeitet, vertieft und ergänzt. Spätestens seit dem Achten Jugendbericht der Bundesregierung (BmfJFG 1990) gilt die „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“ im Thiersch'schen Sinne als ein zentrales Paradigma der Kinder- und Jugendhilfe, für welche sie ursprünglich entwickelt wurde. Anfang der Jahrhundertwende ist das Konzept der Lebensweltorientierung in vielen Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit (Behindertenhilfe, Drogenhilfe, Obdachlosenhilfe, Psychiatrie,…), in Theorie und Praxis aufgenommen worden und ist in stetigem Gebrauch. Dies verdeutlicht die Vielseitigkeit und Tragfähigkeit des Konzepts. Das Konzept Lebensweltorientierte Soziale Arbeit wurde immer wieder heftig kritisiert. Dafür lassen sich vor allem zwei Gründe ausmachen:
Erstmals wurde der Begriff der Lebensweltorientierung Ende der 1970er in Thierschs Konzept einer „lebensweltorientierten Sozialen Arbeit“ eingeführt. Thiersch versucht, das Wesen eines professionellen sozialpädagogischen Selbstverständnisses und einer Struktur institutionalisierter Hilfen zu bestimmen. Lebensweltorientierung bedeutet bei Thiersch, in Abkehr von klassischen – medizinisch geprägten (Anamnese, Diagnose, Therapie) – Hilfeformen, die individuellen sozialen Probleme der Betroffenen in deren Alltag in den Blick zu nehmen sowie den Selbstdeutungen und Problembewältigungsversuchen der Betroffenen mit Respekt und Takt, aber auch mit wohlwollend-kritischer Provokation im Zielhorizont eines „gelingenderen Alltags“ zu begegnen. Hier wird deutlich, wie Thiersch seine Lebensweltorientierung im Sinne des Alltagsverständnis nach Schütz versteht. Solchermaßen verstandene und strukturierte „lebensweltorientierte“ Hilfe ist zunächst in die sozialen Strukturen auf personaler/lokaler Ebene eingebettet, mischt sich aber auch – in gleichsam anwaltlicher Funktion für die betroffenen Menschen – in die sozialpolitische Gestaltung der soziale Probleme mitbedingenden gesellschaftlichen Rahmenverhältnisse ein.
Der genannte Respekt vor fremden Lebensentwürfen und deren Akzeptanz erschweren eine Standardisierung der Arbeitsabläufe in der sozialen Arbeit. Von den Fachkräften wird ein hohes Maß an kritisch-reflexiver Bewertung ihrer Arbeit und ihrer Rolle in der Lebenswelt der Betroffenen erwartet.
Ansatzpunkt ist auch hier wieder der Alltag. Dieser ist die ausgezeichnete Wirklichkeit für die Menschen und ist strukturiert durch die subjektiv erlebte Zeit, die erfahrenen Räume und die erlebten sozialen und kulturellen Bezüge. In der Bewältigung des Alltags formen sich Deutungsmuster und Handlungsstrategien, wird Bedeutsames von Unbedeutsamem unterschieden. Insofern prägt der Alltag die Menschen, aber prägen die Menschen auch den Alltag.
Pädagogik knüpft am Alltag und an der je individuell interpretierten Welt der Menschen an mit dem Ziel, diesen Alltag und die Menschen in ihrem Bewältigungshandeln besser zu verstehen, um dann wiederum über dieses tiefere Verstehen den Adressaten angemessener helfen zu können. Seit der mit Heinrich Roth in Verbindung gebrachten „realistischen Wende“ soll Pädagogik nicht mehr nur als theoretisch-philosophische Wissenschaft verstanden und praktiziert, sondern durch empirische Forschungen untermauert werden. Roths Assistent Klaus Mollenhauer läutete schließlich die „kritische Wende“ der Pädagogik ein und formulierte Emanzipation als vorrangiges Ziel von Pädagogik: den Adressaten zu helfen, sich von überkommenen Verhältnissen zu emanzipieren.
Die kritischen Alltagstheoretiker betonen, dass man den Alltag nicht romantisch verklären darf, nur weil auf den ersten Blick alles irgendwie klappt. Vielmehr ist der Alltag doppelbödig: Einerseits entlasten pragmatische Routinen, bieten Sicherheit, ermöglichen Produktivität, andererseits erzeugen sie aber auch Enge und Engstirnigkeit, Unbeweglichkeit, und behindern menschliches Leben in seinen Grundbedürfnissen und Möglichkeiten. Einerseits finden Kämpfe um bessere Lebensverhältnisse statt, motiviert durch Bedürfnisse, Träume, Hoffnungen oder Wut, andererseits verzagen Menschen auch aus Trauer und Resignation. Lebensweltorientierte Sozialpädagogik muss also den Alltag und die Ressourcen respektieren, aber auch Engstirnigkeiten und Verfahrenes konstruktiv kritisieren und verborgene Chancen aufzeigen. Dafür muss sie die Balance in Widersprüchen finden – mit dem Ziel eines gelingenderen Alltags.
Alltag findet in der Lebenswelt statt: Diese Lebenswelt ist immer schon vorgeprägt durch die Gesellschaft, die Lebenswelt ist wie die Bühne in einem Theater, auf der sich das Leben abspielt, wobei das Leben auf der Bühne durch die Vorgaben hinter den Kulissen bestimmt wird (z. B. Rollenmuster von Frau und Mann). In der Lebenswelt treffen also objektive gesellschaftliche Ansprüche und Vorgaben auf subjektiv persönlich-individuelle Muster und Bedürfnisse. Die Lebenswelt stellt also gleichsam die Schnittmenge dar, in der sich das befindet, was in einem jeweiligen Leben möglich ist. Deshalb benötigt die Soziale Arbeit für ihr Handeln umfangreiches Wissen über materielle, soziale, ideologische Ressourcen z. B. Arbeitswelt, Geschlechterrollen, Migrationskultur, Armut / Reichtum etc. und über den je individuellen Umgang der Betroffenen damit. Dieses Wissen erhält die Soziale Arbeit über empirische Forschungen.
Der Mensch findet sich in einer schon vorhandenen, schon vor ihm von anderen Menschen geprägten Welt vor:
Das Arbeits- und Selbstverständnis des Konzepts zeichnet sich vor allem durch folgende Überlegungen aus:
Hans Thiersch schlägt insgesamt neun Richtziele vor, an denen sich die Soziale Arbeit insgesamt orientieren und weiterentwickeln soll. Sie wurden auch im 8. Jugendbericht veröffentlicht. Diese Richtziele nennt er Struktur- und Handlungsmaximen. Sie sollen im Folgenden am Beispiel der Kinder- und Jugendhilfe vorgestellt werden:
Angebote einer lebensweltorientierten Kinder- und Jugendhilfe sollen so gestaltet werden, dass es zu schlimmen Konflikten und Krisen im Leben von Kindern und Jugendlichen erst gar nicht kommt. Um das zu erreichen, soll Kinder- und Jugendhilfe
Bei aller Betonung von Prävention gilt jedoch, dass natürlich auch für solche Kinder und Jugendliche und ihre Familien Hilfen organisiert und bereitgehalten werden müssen, die trotz präventiver Arbeit in schwierige und belastende Lebenslagen geraten sind.
Lebensweltorientierte Kinder- und Jugendhilfe soll
Es gilt also, überregionale zentrale Großeinrichtungen mit einem weiträumigen Einzugsgebiet in Zukunft zu verhindern bzw. zu reduzieren zugunsten von kleineren Einrichtungen vor Ort („Kleinstheim um die Ecke“). Damit sich eine regional verortete Kinder- und Jugendhilfe nicht selbst schwächt, muss sie sich jedoch auch überregional koordinieren und vernetzen.
Diese Maxime bedeutet fünferlei:
Integration als Leitidee bedeutet, dass alle speziellen Angebote und Hilfen für Kinder und Jugendliche zurückgedrängt werden müssen, bei denen die Gefahr groß ist, dass Kinder und Jugendliche verdrängt und ausgesondert werden (Heime und Schulen für „Schwererziehbare“, „geistig Behinderte“, „Lernbehinderte“, Sonderpädagogiken). Demgegenüber müssen die normalen Hilfen und Angebote so gestaltet und ausgestattet werden, dass in ihnen auch Kinder und Jugendliche mit besonderen Problemen bzw. mit sogenanntem „besonderem Hilfe- und Förderbedarf“ integriert werden können. Normalisierung bedeutet, die Bandbreite für eigensinnige, unterschiedliche und manchmal auch ungewöhnliche Lebenskonstellationen und –entwürfe zu erweitern, also dafür zu sorgen, dass das Maß dessen erweitert wird, was gesellschaftlich für „normal“ erachtet und infolgedessen toleriert wird (vgl. dazu den Artikel „Inklusive Pädagogik“).
Lebensweltorientierte Kinder- und Jugendhilfe zielt darauf, dass sich Menschen als „Subjekte ihres eigenen Lebens“ erfahren können, d. h. dass Menschen sich erleben und einschätzen können als jemand, der selber auf die Gestaltung seines Lebens Einfluss ausüben kann und darf, der sozusagen „Regisseur seines eigenen Lebens“ ist. Um das zu ermöglichen ist Partizipation (also teilhaben, teilnehmen und mitbestimmen können und dürfen) unverzichtbar. Deshalb müssen vor allem die rechtlichen Bedingungen zur Mitbestimmung bis hin zu harten Formen demokratischer Kontrollen (Beschwerdestellen, Vertrauensleute, Berufskammern) in den Arbeitsfeldern ausgebaut und etabliert werden. Deshalb muss Partizipation aber auch auf allen informellen Ebenen ermöglicht werden. Ferner muss sich Kinder- und Jugendhilfe davor hüten, mittels verdeckter, unterschwelliger Möglichkeiten die Kinder und Jugendlichen zur Freiwilligkeit zu „verführen“, ohne dass diese merken, was mit ihnen geschieht.
Lebensweltorientierte Kinder- und Jugendhilfe muss die vielfältig entstandenen und noch zu entwickelnden Angebote und Arbeitsfelder vernetzen und koordinieren, um ein Neben- und Gegeneinander zu verringern, in dem Kräfte unnötigerweise verschlissen werden.
Der Kinder- und Jugendhilfe wurden und werden im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung und vom Gesetzgeber Aufgabenfelder und Zuständigkeiten zugeteilt. Sie muss diese aktiv und beständig erweitern und sich in andere Zuständigkeitsbereiche einmischen, will sie ihrem Selbstverständnis und ihrer Aufgabe entsprechen, Anwalt für Kinder und Jugendliche zu sein.
Lebensweltorientierte Kinder- und Jugendhilfe erledigt all ihre Aufgaben im Umgang mit Kindern und Jugendlichen vorrangig in Form des Aushandelns: Problemdeutungen, Regeln, Lösungsstrategien, Organisationsformen usw. werden im gemeinsamen, partnerschaftlichen Gespräch mit den Kindern und Jugendlichen entwickelt. Aushandeln bedeutet bisweilen auch ein im persönlichen Umgang faires, in der Sache aber hartes Diskutieren und Streiten. Es gibt darin aber Sachverhalte, die unterschiedlich stark verhandelbar sind.
Alles berufliche Tun und (Unter-)Lassen muss begleitet und überwacht werden von einem methodisch abgesicherten (selbst-)kritischen Nachdenken über die Motive, Ziele und Deutungsmuster sowie über die Wirkungen und Nebenwirkungen des beruflichen Handelns.
Wenn man sich fragt, was denn nun bei all diesen Überlegungen, bei all diesen Ideen oder Maximen, der Kern oder das Wesen einer lebensweltorientierten Kinder- und Jugendhilfe ist, dann würde die Antwort wohl lauten: Erzieher, Sozialpädagogen, Pädagogen, also alle, die versuchen, entlang der Idee „Lebensweltorientierung“ zu handeln, verstehen sich als Anwälte der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien. Das heißt, sie versuchen, wie Anwälte das Beste für ihre Mandanten (für diejenigen, die sich ihnen anvertraut haben oder die ihnen anvertraut wurden) herauszuholen, selbst wenn sonst alle anderen gegen diese Mandanten sind. Das heißt noch mal anders ausgedrückt, sie stehen auf der Seite der Kinder, der Jugendlichen und ihrer Familien und helfen ihnen vor allem ihr Leben so zu meistern, wie es sich die Kinder und Jugendlichen selbst vorstellen und sie selbst es brauchen. Und nicht etwa so, wie es andere – Politiker, Arbeitgeber, Lehrer, Priester, Journalisten, Richter,… – von ihnen erwarten. Sie helfen den Kindern und Jugendlichen bei den Aufgaben und Problemen, die sie selber haben, und nicht etwa bei denen, die die Gesellschaft mit den Kindern und Jugendlichen hat.
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