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Komposition von Arnold Schönberg Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Ein Überlebender aus Warschau (Originaltitel A Survivor from Warsaw for Narrator, Men’s Chorus and Orchestra), op. 46, ist ein Melodram von Arnold Schönberg für einen Sprecher, Männerchor und Orchester aus dem Jahre 1947. Wie viele Stücke Schönbergs seit den 1920er Jahren ist das Werk in Zwölftontechnik mit teilweise fast punktueller,[1] selbst innerhalb eines Taktes wechselnder Instrumentation geschrieben. Thema des etwa siebenminütigen Werks ist die Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto. Ein Überlebender aus Warschau gilt als eines der ausdrucksstärksten[2] Werke Schönbergs von erschütternder Realistik in Text und Musik[3] und stellt eine der wichtigsten und meistrezipierten musikalischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust dar.[4][5]
Das Werk ist in der Zeit der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto, der am 19. April 1943 begann, angesiedelt. Dem Aufstand war die „große Aussiedlung“ ab dem 23. Juni 1942 mit dem Abtransport in die Vernichtungslager, meist nach Treblinka, vorausgegangen.
Der Erzähler, der sich halbtot geschlagen in den Untergrund retten konnte, ist Augenzeuge der Ereignisse. Die entrechteten Juden werden niedergeknüppelt und ermordet oder nach dem Appell mit dem Befehl zum Abzählen in die Vernichtungslager deportiert. Inmitten all dieser Brutalität besinnen sich die Juden auf ihre religiösen Wurzeln und beginnen, das Schma Jisrael, das jüdische Glaubensbekenntnis, zu singen, womit das Stück endet.
Schönberg war 1925 zum Leiter eines Meisterkurses für Komposition an der Preußischen Akademie Berlin ernannt worden. Nachdem ihm diese Stelle aus rassistischen Gründen im September 1933 entzogen worden war, kehrte er zum jüdischen Glauben zurück,[6] den er in seiner Jugend aufgegeben hatte. Er emigrierte in die USA, wo er eine Professur in Kompositionslehre erhielt und 1940 die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm.
Die Anregung zum Überlebenden aus Warschau ging auf die in Amerika lebende russische Choreografin Corinne Chochem zurück. Diese übersandte Schönberg Anfang 1947 Melodie und englische Übersetzung eines Partisanenliedes, welches in einer Auftragskomposition Schönbergs entweder in jiddischer Originalfassung oder in einer hebräischen Übertragung Verwendung finden sollte. Schönberg sandte an Chochem Honorarforderungen „für eine 6-9 minütige Komposition für kleines Orchester und Chor“ und präzisierte:
Schönberg und Chochem kamen aufgrund unterschiedlicher Honorarvorstellungen (Schönbergs finanzielle Lage war zu dieser Zeit kritisch) zu keiner Einigung. Der ursprüngliche Plan, das Partisanenlied als Grundlage des Werks zu nutzen, musste daher aufgegeben werden. Doch ein Kompositionsauftrag der Koussevitzky Music Foundation in Boston bot Schönberg schließlich die Möglichkeit, seinen Plan in veränderter Form zu realisieren.[8] Nach Willi Reich basiert der schließlich von Schönberg gewählte Text auf einem authentischen Zeugenbericht, den Schönberg von einem Überlebenden von Warschau gehört habe.[9] Beat Föllmi konnte zeigen, dass Schönberg an der Vorlage zahlreiche Umarbeitungen vorgenommen hatte, insbesondere Entkonkretisierungen.[10]
Schönberg begann die Komposition des Überlebenden aus Warschau am 11. August 1947 und vollendete sie am 23. August 1947.[11] Wegen seines schlechten Gesundheitszustandes erstellte er nur das Particell. René Leibowitz, ein Freund Schönbergs, komplettierte die Partitur unter seiner Aufsicht. Das Werk ist der Koussevitzky Music Foundation und der Erinnerung an Natalie Koussevitzky gewidmet.
Ein Jahr vor der Komposition[12] hatte Schönberg einen Herzinfarkt erlitten. Ob die dabei erfahrene Todesnähe Einfluss auf die in op. 46 behandelten Todesqualen hatte, muss offenbleiben.[13]
Die Uraufführung fand am 4. November 1948 in Albuquerque (New Mexico) unter der Leitung von Kurt Frederick mit dem Albuquerque Civic Symphony Orchestra (einem 1932 gegründeten Laien- und Studentenorchester) statt, wobei Sherman Smith den gesprochenen Part übernahm, und war ein überwältigender Erfolg. Nach einer Schweigeminute musste das gesamte Stück wiederholt werden, erst danach gab es frenetischen Beifall. Es meldeten sich jedoch auch skeptischere Stimmen. So schrieb die Time nach der Uraufführung:
Größere Bedeutung für die Verbreitung des Werks hatte aber die europäische Erstaufführung am 15. November 1949 in Paris durch den Dirigenten und Schönberg-Kenner René Leibowitz.[15]
Das Werk wirkt – wie die meisten atonalen bzw. Zwölftonwerke – auf den mit dieser Musik nicht vertrauten Hörer eher dissonant, arhythmisch[16] und schwer zugänglich.[17] Längere Melodielinien sind kaum auszumachen. Wie die meisten Werke Schönbergs – was auch für seine tonalen Kompositionen, wie das spätromantische Verklärte Nacht, gilt – hinterlässt es einen gequälten und zerrissenen, manchmal hektischen Eindruck. Dennoch offenbart der Überlebende aus Warschau bei genauerem Zuhören bzw. Studium der Partitur viele musikalisch strukturierende Elemente wie Reihen, Intervalle, Motive, rhythmische Modelle, tonale Andeutungen, herkömmliche Formprinzipien aufgreifende und satzübergreifende Merkmale. Es stellt mit seiner harten, durchdachten Reduktion auf ein strenges Geflecht musikalischer Linien ein Konzentrat des schönbergschen Spätstils dar. Dabei ist es trotz aller Konstruktion dramatisch und expressiv.[18]
Die Besetzung umfasst das gängige Streichorchester (10 erste und zweite Violinen, jeweils 6 Bratschen, Violoncelli und Kontrabässe), eine paarweise besetzte Holzbläsergruppe (mit Piccoloflöte, Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott), eine relativ stark besetzte Blechbläsergruppe (mit 4 Hörnern, 3 Trompeten, 3 Posaunen und Tuba), ein umfangreiches Arsenal an Schlagwerk (Pauke, verschiedene Trommeln, Becken, Triangel, Tamburin, Tamtam, Xylophon, Kastagnetten, Glocken, Schellen), außerdem Harfe, den Männerchor sowie einen Sprecher.[19]
Die Komposition basiert auf einer einzigen Zwölftonreihe: fis – g – c – as – e – dis – b – cis – a – d – f – h.[20] Die Reihenstruktur des Werkes beruht wie die meisten Zwölftonkompositionen Schönbergs auf einer spezifischen Organisation der beiden sechstönigen Reihenhälften (Hexachorde).[21] Für op. 46 bedeutet dies konkret die Beziehung zwischen den Tonqualitäten der Reihe in Grundgestalt und ihrer in die Unterquinte transponierten Umkehrung. Die erste Reihenhälfte der Originalgestalt ergänzt sich somit (jedoch in divergierender Tonreihenfolge) mit der transponierten, umgekehrten zweiten Reihenhälfte zur Gesamtheit aller 12 Oktavtöne, dem chromatischen Total.[8] Dabei sind in der Reihe mit einem übermäßigen Dreiklang (Ton 3, 4 und 5), einem Moll-Dreiklang (Ton 9, 10 und 11) und einem verminderten Dreiklang (Ton 10, 11 und 12) durchaus tonale Anknüpfungspunkte vorhanden.[22] Der gegen Umkehrungen invariante übermäßige Dreiklang c – e – as kann als musikalisches Symbol des Grauens (z. B. ab Takt 38-41 im Xylophon) interpretiert werden, die kleinen Sekunden können als Ausdruck der Seufzer der Opfer gedeutet werden.[23]
Formal gesehen besteht das Werk aus drei Teilen: 1. einer instrumentalen Einleitung, 2. der von einem Sprecher vorgetragenen und vom Orchester begleiteten Erzählung und 3. dem von einer Posaune begleiteten Schlusschor mit dem Schma Jisrael. Inhaltlich gliedert das Stück jedoch in sechs Abschnitte: 1. Einleitung, 2. Tagesablauf, 3. Brutalisierung, 4. Tod, 5. Abzählvorgang, 6. Gebet und Auferstehung.
Sowohl Schönbergs Text, der drei Sprachen verwendet, als auch der musikalische Ausdruck charakterisieren unterschiedliche Ebenen. So wird die Brutalität der nationalsozialistischen Besatzer durch aggressive Blechbläser, Schlagzeug, manchmal starr-motorische Rhythmen und Kommandos in deutscher Sprache unterstrichen; die Empathie für die Leidenden wird mit dem Klang der Streicher vom Ensemble bis zur Solovioline, oft in Sekunden oder Halbtönen, verstärkt. Auffallend sind ferner – wie schon in früheren Werken Schönbergs – die rhythmischen Wechsel, die bisweilen sogar innerhalb eines Taktes stattfinden, und das in derselben Stimme oder verschiedenen Stimmen realisierte Nacheinander bzw. Gegeneinander zwischen Achteln (Sechzehnteln, Zweiunddreißigsteln) und Triolen (z. B. in Takt 13, 34 und 80-88). Die sprunghafte Instrumentation trägt ebenfalls zum Eindruck des Zerrissenen bei.[24]
Der von Schönberg verfasste Text ist dreisprachig. Der Erzähler spricht englisch, zitiert aber die Kommandorufe des Feldwebels (sergeant) auf Deutsch. Der Text des Schlusschores, das Schma Jisrael, ist in hebräischer Sprache verfasst. Die Textaussage des Werkes wird durch hektische Rhythmen[25] und manchmal grelle Orchesterfarben[26] unterstützt.
I cannot remember ev´rything. I must have been unconscious most of the time. I remember only the grandiose moment when they all started to sing, as if prearranged, the old prayer they had neglected for so many years – the forgotten creed! But I have no recollection how I got underground to live in the sewers of Warsaw for so long a time... The day began as usual: Reveille when it still was dark. „Get out!“ Whether you slept or whether worries kept you awake the whole night. You had been separated from your children, from your wife, from your parents. You don´t know what happened to them... How could you sleep? The trumpets again – „Get out! The sergeant will be furious!“ They came out; some very slowly, the old ones, the sick ones; some with nervous agility. They fear the sergeant. The hurry as much as they can. In vain! Much too much noise, much too much commotion! And not fast enough! The Feldwebel shouts: „Achtung! Stilljestanden! Na wird’s mal. Oder soll ich mit dem Jewehrkolben nachhelfen? Na jut; wenn ihrs durchaus haben wollt!“ The sergeant and his subordinates hit (everyone): young or old, (strong or sick), quiet guilty or innocent... It was painful to hear them groaning and moaning. I heard it though I had been hit very hard, so hard that I could not help falling down. We all on the (ground) who could not stand up were (then) beaten over the head... I must have been unconscious. The next thing I heard was a soldier saying: „They are all dead!“ Whereupon the sergeant ordered to do away with us. There I lay aside half conscious. I had become very still – fear and pain. Then I heard the sergeant shouting: „Abzählen!“ They started slowly and irregularly: one, two, three, four – „Achtung!“ The sergeant shouted again, „Rascher! Nochmal von vorn anfangen! In einer Minute will ich wissen, wieviele ich zur Gaskammer abliefere! Abzählen!“ They began again, first slowly: one, two, three, four, became faster and faster, so fast that it finally sounded like a stampede of wild horses, and (all) of a sudden, in the middle of it, they began singing the Shema Yisroel.
Das Werk beginnt mit einem grellen, in zwei Sechstongruppen unterteilten und wiederholten Fanfarensignal der Trompeten, welches die Zwölftonreihe einleitet. Dabei ist die zweite Sechsergruppe mit der Tonfolge H – B – F – A – Cis – D die Umkehrung der auf die Unterquinte transponierten Originalreihe der Töne 1 bis 6, womit gleichzeitig (mit leichten Positionsveränderungen) die Anforderung der Schönbergschen Zwölftontechnik, nämlich das Erklingen aller Reihentöne vor dem Wiederauftreten eines Tons, annähernd erfüllt ist. Diesen Akkorden folgt ein instrumentationstechnisch – im Sinne der auch von Webern verfolgten punktuellen Instrumentation bzw. Klangfarbenmelodie[27] – zerrissener Teil. Nacheinander treten Militärtrommel, Holzbläser und Streicher, Piccoloflöte, Streichertremoli, wieder Militärtrommel, Celli, Xylophon und in sehr hohem bzw. tiefem Pizzicato behandelte Streichinstrumente aus der manchmal taktweise wechselnden Besetzung kurzzeitig hervor. Die unmittelbare Aufeinanderfolge sehr hoher und sehr tiefer Töne widerspricht herkömmlichen Hörerwartungen. Die Anwendung von Trillern und Tonrepetitionen enttäuscht in ihrer mechanischen Anmutung die Erwartung des konventionellen Klassikhörers, ein greifbares Thema vorzufinden.[28] Dagegen übernimmt das Fanfarenmotiv im nachfolgenden Sprachabschnitt teilweise leitmotivische Funktion.
Die Sprechstimme rezitiert ab Takt 12 in einer für Schönberg typischen Art eine Sprechmelodie. Schönberg deutet auf, über und unter einer Notationslinie die relativen Höhenunterschiede der Sprache an, die aber nach seinen Anweisungen keineswegs in Gesang übergehen darf, wie er das in ähnlicher Weise bereits im Pierrot Lunaire von 1912, in Moses und Aron und in der Ode to Napoleon Buonaparte von 1942 praktiziert hatte.[29] Die Anweisungen für die Sprechstimme sind im Vergleich zum Pierrot Lunaire weniger ausdifferenziert, nur auf einer Notenlinie fixiert, und lassen dem Sprecher mehr Freiheit der Ausgestaltung.[30] Die Sprachrhythmen dagegen sind äußerst genau erfasst. Schönberg äußerte sich dazu folgendermaßen:
Ob diese von Schönberg verwandte Technik als Fokussierung auf die zentralen Textaussagen oder nur als Fortsetzung seiner schon seit Pierrot Lunaire angewandten Ausdrucksmittel zu verstehen ist, lässt sich mangels Selbstaussagen nicht entscheiden.
Das Fanfarenmotiv des ersten Taktes übt im Sprachabschnitt (siehe Takt 25-28 als Weckfanfare zum Morgenappell und Takt 31-35 beim Zählappell) die Funktion eines Leitmotivs aus.[32] In der Orchesterbegleitung treten jeweils für kurze Zeit einzelne Instrumente bzw. Instrumentengruppen (Streicher, Bläser, Xylophon, Solovioline) hervor. Ihr Einsatz ist meist eher koloristisch gehalten.[33] Eigenständige Motive oder Reihen werden nur ansatzweise vorgestellt bzw. durchgeführt. Dabei agieren die Instrumente – der an- und absteigenden Erregung des Textvortrags folgend – oft in für das jeweilige Instrument lagenmäßigen und dynamischen Extremen. Es ergeben sich extrem kontrastreiche Klangwirkungen, die noch verstärkt werden durch Abschnitte, in denen der Sprecher ganz allein zu hören ist.
Der Sprachteil lässt sich aufgrund der zweimal in Takt 12 und Takt 54 auftretenden Textstelle “I must have been unconscious” („Ich muss bewusstlos gewesen sein“) sowohl textlich als auch musikalisch in zwei größere Teile gliedern.[34] Beide Teile bestehen jeweils wiederum aus einem ruhigeren und einem erregteren Abschnitt, es ergeben sich also insgesamt vier Abschnitte. Die Diskontinuität von objektiv chronologischer und subjektiv gefühlter Zeit im Erzählverlauf spiegelt sich in der musikalisch-motivischen Gestaltung wider.[35]
Im ersten Abschnitt berichtet der Erzähler, dass er sich aufgrund langer Bewusstlosigkeit nicht mehr an alles erinnern könne. Das Anstimmen des Schma Jisrael ist ihm aber noch klar im Gedächtnis. Danach gelangt er auf einem ihm unklaren Weg in die Kanalisation von Warschau, wo er lange gelebt hat. Die Musik dieses Abschnitts ist sparsam und von vielen Pausen durchsetzt. Beim Bericht über das Anstimmen des Schma Jisrael erklingen tiefe, sich steigernde Streicherklänge.
Im nächsten, erregteren Abschnitt schildert der Erzähler den Morgenappell, die Sorgen um die Angehörigen, die Angst vor dem Feldwebel und vor der brutalen Behandlung durch die Soldaten. Die Kommandos des Feldwebels erklingen auf Deutsch, im Berliner Jargon: „Achtung! Stilljestanden! Na wirds mal? Oder soll ich mit dem Jewehrkolben nachhelfen?“ Gegen Ende des Abschnitts wird der Erzähler zusammengeschlagen und verliert das Bewusstsein. Die Musik dieses Abschnitts ist hektischer und umfasst eine größere dynamische Spannweite. Die Sorgen um die Angehörigen werden durch eine klagende Solovioline (nach “how could you sleep”) ausgedrückt. Bei der Beschreibung des Klagens und Stöhnens der Verletzten erreicht die Musik mit dichten Streicherklängen einen dramatischen Höhepunkt.
Die Musik des dritten Abschnitts ähnelt der des ersten. Der halb bewusstlose Erzähler kann sich nur noch an die Worte der Soldaten erinnern, dass alle Personen tot und fortzuschaffen seien.
Im vierten Abschnitt lässt der Feldwebel die Juden zum Zählappell antreten, um – nach eigenen Worten – zu erfahren, wie viele Personen er an die Gaskammern abliefern soll. Beim zweiten Abzählen beginnen die Juden, das Schma Jisrael anzustimmen. Die Musik ähnelt in ihrer expressiven Zerrissenheit der des zweiten Abschnitts. Gegen Ende steigern sich die Klänge in Dichte und Dynamik zum nachfolgenden Chorgesang.
Der Sprachabschnitt realisiert dabei eine mehrstufige Steigerung vom Ich über das Du zum Wir.
Im Kontrast dazu steht das – wie der Erzähler im Sprachabschnitt sagt – lange vergessene und vernachlässigte Glaubensbekenntnis Schma Jisrael, das von einem Männerchor unisono gesungen und bereits im ersten Teil (Takt 18-21) instrumental mit einem Tonausschnitt angedeutet wird. Dem Volk Israel wird in diesem Ausschnitt aus dem Glaubensbekenntnis (Deuteronomium 6, 4-9) nahegelegt, nicht zu vergessen, dass ihr Gott ein einig und unteilbares Wesen sei, den es zu lieben und zu ehren gelte. Der Chor wird von Streichern und Blechbläsern lautstark begleitet. Zum Schluss gibt er erstmals die Grundgestalt der Zwölftonreihe wieder. Sie wird aus der ursprünglichen Reihe durch Transposition von Fis auf B (also B-H-E-C-As usw.), die Richtungsänderung einiger Intervalle und in der Zwölftontechnik erlaubte Tonwiederholungen gewonnen. Diese Grundgestalt weist auffallende Ähnlichkeiten mit Merkmalen traditioneller europäisch-jüdischer Musik auf. Ein Beispiel hierfür ist die absteigende kleine Sekunde (Gis – G) zu Ende des ersten Hexachords, welche auch für den ersten Schritt der jüdischen freygischen Tonleiter typisch ist.[37] Der gegen Umkehrungen invariante übermäßige Dreiklang As-C-E auf den Worten Adonoy elohenoo Adonoy ehod (Takt 2-5 des Notenbeispiels) kann als musikalisches Symbol für die Einigkeit und Unwandelbarkeit Gottes betrachtet werden.[38] Hans Heinz Stuckenschmidt verweist hier auf die Parallele zu Francis Poulencs Oper Dialogues des Carmélites von 1957, in der die zum Tode verurteilten Karmelitinnen auch einen Hymnus anstimmen.[39]
Die musikalische Darstellung menschlicher Leidenserfahrung in Schönbergs Werk[40] ist nicht erst nach dem Holocaust und der Nazi-Diktatur entstanden, wurde aber wohl dadurch intensiviert. So schildert schon seine Oper Moses und Aron, deren Thematik ihn seit den 1920er Jahren beschäftigte,[41] das kollektive Leid des israelitischen Volkes. Folgendes Zitat von 1909 legt nahe, dass Schönberg auch – trotz eines teilweise abstrakten und weltabgewandten Musikverständnisses[42][43] – schon vor 1933 Kunst als wichtige Ausdrucksmöglichkeit menschlichen Leids und des Kampfes dagegen verstand:
Schönberg befasste sich schon 1942 in seiner Ode to Napoleon Buonaparte (Op. 41) mit dem Problem menschenverachtender Tyrannei und speziell der Person Hitlers.[45] Die musikalische und außermusikalische Auseinandersetzung mit jüdischen bzw. alttestamentlichen Themen reicht jedoch weiter zurück. 1917 entstand das Oratorium Die Jakobsleiter, 1927 das Schauspiel Der biblische Weg. 1930 begann er mit der Komposition der Oper Moses und Aron,[46] 1938 komponierte er das Kol Nidre,[47] und 1944 das Präludium zur biblischen Schöpfungsgeschichte. Schönbergs vokales Schaffen im amerikanischen Exil steht damit im Kontext seines Bekenntnisses zu menschlich-politischen und/oder religiösen Themen. Auch sein letztes fragmentarisches Werk Moderne Psalmen von 1951 ist religiös motiviert.[48]
Neu im Rahmen seines Schaffens ist beim Überlebenden aus Warschau der Bezug auf das zeitnahe Thema des Holocaust. Schönberg äußerte sich in einem Brief an Kurt List 1948 folgendermaßen zu seinen Intentionen:
René Leibowitz äußerte sich anlässlich der europäischen Erstaufführung in Paris 1949:
Nach C. Gottwald findet die Schilderung der Rationalität einer moralisch entfesselten Welt im Werk ihre Parallele in der ästhetischen Konstruktion mittels der Zwölftontechnik.[51] Luigi Nono bezeichnete es als Meisterwerk: es sei „[…] aufgrund seiner schöpferischen Notwendigkeit des Verhältnisses Text-Musik und Musik-Hörer das ästhetische musikalische Manifest unserer Epoche“.[8]
Im Deutschland der 1950er Jahre stieß der Überlebende aus Warschau bei konservativen Musikkritikern wie Hans Schnoor auf Ablehnung. Dieser verriss das Werk 1956 im Westfalen-Blatt als „jenes widerwärtige Stück, das auf jeden anständigen Deutschen wie eine Verhöhnung wirken muß“, sowie als „Haßgesang des Schönberg“[52] und rief damit einen Medienskandal hervor.[53]
Theodor W. Adorno warf die Frage auf, ob die nationalsozialistischen Verbrechen zum Thema eines (verklärenden) Kunstwerks gemacht werden dürften, und verneinte diese. In Bezug auf Schönbergs Werk schrieb er 1962:
Allerdings erkannte Adorno auch an:
Der Dirigent Ernest Ansermet, der die Zwölftonmusik Schönbergs und Weberns als unmusikalisch vehement ablehnte, sah in Bezug auf Schönbergs op. 46 ein tragisches Bedürfnis nach Selbstausdruck:
Die kritischen Stimmen, die in den ersten Jahren der Rezeption zu hören waren, traten bald in den Hintergrund. 1979 lobte die Süddeutsche Zeitung:
Dem Vorwurf, der Überlebende von Warschau sei rein politisch-funktionale Musik, wie er in frühen Kritiken teilweise anklingt, wurde in jüngster Zeit energisch widersprochen.[58] Heutzutage gilt der Überlebende aus Warschau als eines der eindringlichsten Werke Schönbergs, das sich dem Hörer auch ohne Kenntnis der musikalisch schwer nachvollziehbaren Zwölftonstrukturen erschließt.[59]
Mittlerweile hat die Behandlung des Werkes auch Aufnahme in schulische Lehrpläne gefunden.[60]
Der Dirigent Michael Gielen baute 1978 den Überlebenden aus Warschau in den Beginn des vierten Satz von Beethovens 9. Sinfonie ein.[61] So werde Beethovens optimistische Freudenhymne, die nach Krieg und Holocaust im 20. Jahrhundert nicht mehr glaubhaft sei, aus der Perspektive einer Dialektik der Aufklärung neu beleuchtet.[62] Gielen schrieb dazu:
Der Komponist und Dirigent Hans Zender führte das Werk am 31. März 1972 in Kiel zwischen den beiden Teilen von Bachs Matthäuspassion auf.[64] Diese Aufführung erregte bei einem Teil des Publikums einen Skandal.[65]
Stefan Kordes stellte das Werk 2007 und 2023 in der Göttinger Jacobikirche mit unmittelbarem Anschluss dem Requiem von Verdi voran.
In manchen Aufführungen wurde op. 46 an Stelle des fehlenden dritten Aktes der Oper Moses und Aron gespielt.[66]
Im Gegensatz zu den Musikwerken früherer Epochen, in denen der Tod oft als Metapher fungierte und eine mystische oder romantische Deutung erfuhr, geht es in der Musik nach 1945, wie etwa in op. 46, häufig um eine desillusionierte Auseinandersetzung mit dem persönlichen Tod (wie auch schon in Alban Bergs Violinkonzert von 1935) oder um die Massenvernichtung durch gewalttätige Fremdeinwirkung.[67]
In der Nachfolge von Schönberg entstanden verschiedene Kompositionen, die den Holocaust thematisieren. Dennoch ist die musikalische Auseinandersetzung mit dem Holocaust anders als in der Literatur quantitativ eher ein Randphänomen geblieben und wurde meist von Opfern und Nachfahren betrieben.[68] Die meisten dieser Werke sind wie Schönbergs Überlebender aus Warschau dokumentarisch und textgebunden.[69] Als Beispiel sei Karlheinz Stockhausens elektronische (allerdings den Holocaust nicht direkt ansprechende) Komposition Gesang der Jünglinge im Feuerofen von 1956 genannt.[70] Die 1961 entstandene, von Paul Dessau angeregte deutsch-deutsche Gemeinschaftskomposition Jüdische Chronik von Boris Blacher, Karl Amadeus Hartmann, Hans Werner Henze und Rudolf Wagner-Régeny nach einem Text von Jens Gerlach thematisiert wie der Überlebende aus Warschau den Aufstand im Warschauer Ghetto. Luigi Nono schrieb 1965 die Tonbandkomposition Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz (Gedenke dessen, was dir in Auschwitz angetan wurde). Auch Nonos Komposition Il canto sospeso von 1956 ist nachweisbar von Schönbergs Werk beeinflusst.[71] Krzysztof Penderecki schrieb 1967 Dies Irae – Oratorium zum Gedächtnis der Opfer von Auschwitz, welches dort uraufgeführt wurde. Die Deportation der jüdischen Opfer mittels der Eisenbahn regte auch Steve Reich zu seinem 1988 komponierten Werk Different Trains an. In jüngster Zeit entstanden Aribert Reimanns Kumi Ori und Peter Ruzickas (– im Innersten), welche gemeinsam im Jahr 2000 uraufgeführt wurden.
Die von René Leibowitz angefertigte Partiturreinschrift, die Reihentabelle und Skizzen zum Werk befinden sich im Arnold Schönberg Center in Wien.[72] Dagegen wird die Particellreinschrift Schönbergs in der Library of Congress in Washington aufbewahrt.
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