Loading AI tools
Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
„‚Studierfähigkeit‘ ergibt sich aus dem Zusammenspiel derjenigen Kompetenzen, die ein gelingendes Studium ermöglichen, d. h. individuelle Studienziele im Rahmen studienspezifischer Anforderungen zu verfolgen. Die Entwicklung dieser Kompetenzen vollzieht sich in der Interaktion individueller Voraussetzungen und zur Verfügung stehender Ressourcen mit den für die jeweilige Studienphase und Studienrichtung spezifischen Anforderungen.“[1]
Eine Hochschulzugangsberechtigung erlangen Schulabgänger durch die Bescheinigung der Hochschulreife. Bevor ihnen diese zuerkannt werden kann, müssen sie in der Regel die Sekundarstufe II besucht haben, zumeist auf einem Gymnasium, und dort die Reifeprüfung abgelegt haben, die in Deutschland Abitur genannt wird.
Durch die Erteilung der Hochschulzugangsberechtigung wird unterstellt, dass der Schulabgänger studierfähig sei. Diese Unterstellung stößt bei Hochschulen auf Kritik. Tatsächlich besäßen demnach viele Studienanfänger am Beginn ihres Studiums nicht das Wissen, die Fähigkeiten, Fertigkeiten und Dispositionen, die sie für den erfolgreichen Abschluss ihres Studiums besitzen müssten.
Im Jahr 2017 befasste sich das Zentrum für Wissenschaftsmanagement mit der Frage, warum mehr als die Hälfte der Studierenden in Deutschland ihr Studium nicht in der Regelstudienzeit bewältigt.[2] Es erkannte drei Gruppen von Gründen:
Zu berücksichtigen ist bei dieser Analyse, dass trotz der Erwartung eines zügigen Studiums im Kontext des Bologna-Prozesses[5] nicht jede Überschreitung der Regelstudienszeit als problematisch bewertet werden darf, dass vor allem ein relativ langes Studium kein (hinreichender) Beweis für Kompetenzdefizite des betreffenden Studierenden ist.[6]
Im Gegenzug dazu, dass Hochschulen (angeblich) nicht studierfähige Bewerber vom Studierbetrieb ausschließen dürfen, ist es ihnen erlaubt, Studienplätze an qualifizierte Bewerber ohne Abitur zu vergeben. Diese Qualifikation haben die meisten von ihnen durch mehrjährige Berufstätigkeit in dem Fachbereich erworben, in dem sie ein Studium beginnen wollen. Auf dieses Verfahren einigte sich die Hochschulrektorenkonferenz im November 2008 in der Neuordnung des Hochschulzugangs für beruflich Qualifizierte.[7]
Wissenschaftspropädeutik, verstanden als Anbahnung wissenschaftlichen Vorgehens, ist ein verbindlicher Unterrichtsbestandteil vor allem im Sekundarbereich II an allen Schulen, die zur Hochschulreife führen.
Wissenschaftspropädeutisches Arbeiten an der Sekundarstufe II ist laut der Lehrerfortbildung Baden-Württemberg (2004) dann erfolgreich, wenn es die folgenden Kompetenzen bei Schülern erzeugt:
Idealerweise besitzen Abiturienten als Hochschulzugangsberechtigte die genannten Kompetenzen, d. h. dieses Wissen, diese Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen tatsächlich, wenn ihnen die Hochschulreife bescheinigt wurde. Dann sind sie tatsächlich in einem umfassenden Sinn studierfähig. Allerdings stellte die deutsche Hochschulrektorenkonferenz bereits 1995 fest, dass „die Aussagefähigkeit des Abiturs als Indikator für die allgemeine, auf alle Studienfächer bezogene Studierfähigkeit nicht mehr hinreichend gegeben ist.“[9] Der Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin behauptete 2018 sogar: „Das Gymnasium erfüllt gar nicht mehr die Aufgabe, die man ihm aufgetragen hat: Studierfähigkeit.“[10] Im Jahr 2001 befragte das Institut der deutschen Wirtschaft 1435 Hochschullehrer nach den Fähigkeiten ihrer Studienanfänger. Demnach bringe nur jeder vierte Abiturient das notwendige Wissen für eine akademische Ausbildung mit. Jeder dritte Erstsemestler sei sogar schlicht „studierunfähig“. Die Hälfte der Professoren hielt die sprachliche Ausdrucksfähigkeit der Studenten für schlecht, und jeder dritte Hochschullehrer sprach den Schulabgängern jegliche Fähigkeit ab, analytisch, abstrakt und kreativ zu denken.[11]
Fächerübergreifend wird vor allem bemängelt, dass es vielen Abiturienten schwer falle, sich intensiv und ohne Ablenkung auf eine Sache zu konzentrieren und Faktenwissen auch in großen Mengen auswendig zu lernen.[12] Dadurch, dass an vielen Hochschulen Kofferklausuren zugelassen sind, hat sich allerdings die Bedeutung der Fähigkeit verringert, auswendig gelernte Sachverhalte wortgetreu wiedergeben zu können.
Am Beispiel des Studiums des Fachs Geschichte zeigte die Lehrerfortbildung Baden-Württemberg 2004 auf, welche Kompetenzdefizite Studienanfänger oft konkret aufwiesen: Sie hätten Schwierigkeiten im schriftlichen Ausdruck, in der Belastbarkeit und Frustrationstoleranz, im kritischen und reflektierten Umgang mit Informationen (v. a. aus dem Internet), in der Bewältigung anspruchsvoller und umfangreicher, nichtliterarischer Fachtexte sowie in der Selbstständigkeit und Selbstverantwortung (im Denken, Entwickeln von Fragestellungen, im Urteilen und in der Kritik, in der Arbeitsorganisation).[13]
Andrä Wolter kritisiert, dass bei den oben zitierten Klagen zu wenig berücksichtigt werde, dass im 21. Jahrhundert bis zu 50 Prozent eines Geburtenjahrgangs eine Hochschulzugangsberechtigung erhielten. Anders als noch vor wenigen Jahrzehnten beschränke sich die Menge der Studierwilligen nicht mehr auf die Besten ihres Jahrgangs.[14] Abgesehen davon war in Zeiten kleinerer Abiturjahrgänge das Abitur nur bedingt ein Mittel zur Rekrutierung der Leistungsstärksten in einem Jahrgang, da einerseits begabte Schüler aus Nicht-Akademiker-Familien in der Regel nicht das Gymnasium besuchten und Schüler aus dem Bildungsbürgertum und wohlhabenden Familien sich Schuljahrwiederholungen und Nachhilfeunterricht als Mittel zur Erlangung der Hochschulzugangsberechtigung finanziell leisten konnten.
Zur Überprüfung der (fachspezifischen) Studierfähigkeit wurden Studierfähigkeitstests als Eingangstests vor der Aufnahme an einer Hochschule entwickelt. Der Zweck solcher Tests besteht nicht nur darin, bei studierwilligen, aber für das Fach ungeeigneten Bewerbern „die Reorientierung zu einem besser passenden Studiengang an[zu]stoßen“, sondern (bei Tests für die Aufnahme in einen Studiengang in einem MINT-Fach) auch darum, mit „gut“ abschneidende „Interessierte zusätzlich [zu] motivieren, sich für ein bestimmtes MINT-Fach zu entscheiden“, und „mittelmäßige“ Studierwillige dazu zu bewegen bzw. zu verpflichten, „studienbegleitende Unterstützungsmaßnahmen (wie zum Beispiel Vorkurse in Mathematik) in Anspruch zu nehmen“.[15]
Gabi Reinmann, Wissenschaftliche Leiterin des Universitätskollegs der Universität Hamburg, wies 2016 darauf hin, dass die Studierfähigkeit eines Menschen, wie alle seine Fähigkeiten, nichts Statisches, sondern entwicklungsfähig sei. Hochschulen seien verpflichtet, die Entwicklung der Studierfähigkeit ihrer Studierenden zu fördern.[16] Hintergrund dieser Forderung ist die Beobachtung, dass die deutsche Wirtschaft dringend mehr hochqualifizierte Fachkräfte benötige, vor allem mit einer Qualifikation in den MINT-Fächern. Die Fraktion der Grünen im Niedersächsischen Landtag stellte 2012 in einem Antrag fest, dass „[t]rotz hoher Nachfrage nach Studienplätzen […] in Niedersachsen immer wieder MINT-Studiengänge unausgelastet“ blieben. Vor allem Abiturientinnen müssten ermutigt werden, ein MINT-Fach zu studieren (und nicht primär mit Defizit-Vorwürfen konfrontiert werden). Sämtliche Maßnahmen und Initiativen zur Bekämpfung des Fachkräftemangels blieben zudem fruchtlos, wenn die Abbrecherquote nicht gesenkt werde.[17]
Einen Sonderfall stellen Bildungsausländer dar. Dabei handelt es sich um Menschen, die ihre Hochschulzugangsberechtigung nicht in dem Land erworben haben, in dem sie ein Studium beginnen oder fortsetzen wollen. Viele Bildungsausländer in Staaten des deutschsprachigen Raums verfügen bei Studienbeginn nicht über das Niveau sprachlicher Kompetenzen, vor allem bei der Kommunikation auf Deutsch, die für einen erfolgreichen Studienabschluss erforderlich wäre.[18] Das Niveau der sprachlichen Kompetenzen dieser Studierwilligen muss deutlich erhöht werden, idealerweise mit Unterstützung durch gezielte Maßnahmen der aufnehmenden Hochschulen.
Das österreichische Bundesministerium Bildung, Wissenschaft und Forschung bewertet es als den wichtigsten Aspekt der Studierbarkeit, dass „die Rahmenbedingungen eines Studiums […] es möglich machen, das Studium innerhalb der Regelstudienzeit abzuschließen“.[19]
Imke Buß, von 2014 bis 2021 Leiterin des Forschungs- und Hochschulentwicklungsprojekts „Offenes Studienmodell Ludwigshafen“, unterscheidet zwischen Faktoren, die von einer Hochschule steuerbar sind, und individuellen Faktoren der Studierbarkeit. Erstere fasst sie unter dem Sammelbegriff „strukturelle Studierbarkeit“ zusammen. Buß nennt fünf „Aspekte struktureller Studierbarkeit“:
1. Ort und Zeitpunkt der Lehrveranstaltungen (E-Learning, Wahlmöglichkeiten, zeitliche Lage der Veranstaltung);
2. Umfang der Präsenzlehre (SWS) und Verteilung des Arbeitsaufwands über die Semester (Workload und Prüfungen);
3. Möglichkeit von Studienunterbrechungen und Studiendauer (z. B. Fristen, Beurlaubungen);
4. Flexibilität im Studienformat (z. B. Teilzeitstudium, berufsbegleitendes Studium, Fernstudium, Zertifikatsstudium) sowie
5. Beratung und Betreuung, welche die Situation der Studierenden berücksichtigt und gleichzeitig ihre Orientierung unterstützt.[20]
Studierende geben als wichtigste Formen der ihnen begegnenden mangelnden strukturellen Studierbarkeit, die zur Verlängerung der Studiendauer bei ihnen führten, „Mängel in der Lehr-, Prüfungs- und Hochschulorganisation“, „Probleme bzgl. des Aufbaus und der Strukturierung des Studiums“ sowie „mangelnde Qualität der Lehre“ an.[21]
Im Zuge der COVID-19-Pandemie in Deutschland fanden Lehrveranstaltungen an Hochschulen in Deutschland weitgehend nicht als Präsenzveranstaltungen statt. Auch Klausuren und Prüfungen wurden teilweise online durchgeführt. Solche Abweichungen vom üblichen Studierbetrieb wurden von den Beteiligten überwiegend als Störung des Lernprozesses bewertet.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Baden-Württemberg berichtete im Oktober 2020 über die Ergebnisse einer Umfrage zu Faktoren, die seinerzeit Studierende als belastend, teilweise sogar das Studium gefährdend bewerteten.[22]
Nachdem es vom Sommersemester 2020 bis zum Sommersemester 2021 kaum Präsenzveranstaltungen an den Hochschulen gegeben hatte, sollte das Wintersemester 2021/22 weitgehend in Präsenz durchgeführt werden. Der starke Anstieg der 7-Tage-Inzidenz von COVID-19 im Herbst 2021 machte jedoch erneut Schutzmaßnahmen erforderlich. An vielen Hochschulen wurde beschlossen, durch eine 2G-Regel nicht geimpfte Studierende von der Teilnahme an Präsenzveranstaltungen auszuschließen. Ab dem 29. November 2021 galt diese Regel in Baden-Württemberg flächendeckend. Allerdings machte ein nicht gegen COVID-19 geimpfter Student der Pharmazie vor dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg geltend, dass er auf einen Zugang zu den Räumlichkeiten und der Infrastruktur seiner Universität angewiesen sei. Andernfalls drohe ihm eine Überschreitung der Studienzeit und sogar eine Exmatrikulation. Der VGH gab ihm Recht, da Hochschulen die Studierbarkeit ihrer Studiengänge sicherzustellen hätten. Das Land erklärte, an der 2G-Regel festhalten zu wollen, es beabsichtige aber, die von dem Studenten befürchteten Folgen durch geeignete Maßnahmen auszuschließen.[23]
Während das Zentrum für Wissenschaftsmanagement die im Folgenden genannten Aspekte nicht zur Studierbarkeit eines Studiums zählt und bei dem Begriff auf das Attribut „strukturell“ verzichtet, gehören diese Aspekte Imke Buß zufolge zu den „individuellen Faktoren der Studierbarkeit“ im Gegensatz zur „strukturellen Studierbarkeit“.
Der erfolgreiche Abschluss eines Studiums ist auch dann gefährdet, wenn als Folge eines nicht hinreichend großen Einkommens Studierende nicht vor der Notwendigkeit geschützt sind, in einem mit dem Studium nicht vereinbaren Umfang einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, bzw. wenn es nicht genügend Möglichkeiten zu Hinzuverdiensten durch eine Erwerbstätigkeit für sie gibt.
In dem oben zitierten Bericht befasste sich der DGB Baden-Württemberg auch mit der Finanzlage Studierender während der COVID-19-Pandemie. Als sehr bedrohlich empfanden demnach Studierende ihre mangelhafte Ausstattung mit Geld. Rund 30 Prozent gaben an, dass sie nicht mehr genug Geld für Lebensmittel und Produkte für den alltäglichen Bedarf hätten. Rund 32 Prozent verfügten eigenen Angaben zufolge nicht über genug Geld für Materialien für ihr Studium, ein Viertel der Befragten könne Rechnungen nicht mehr begleichen, fast 18 Prozent ihre Miete nicht mehr bezahlen. 13,4 Prozent der Teilnehmenden gaben an, ihren Job coronabedingt verloren zu haben, rund acht Prozent seien ohne weitere Bezahlung freigestellt worden. 16,1 Prozent erhielten eigenen Angaben zufolge weniger Gehalt als vor der Krise; bei elf Prozent sei die Unterstützung durch die Familie geringer oder gar ganz weggebrochen.
Auch in „Normalzeiten“ erschwert ein Mangel an finanziellen Ressourcen Studierenden die Erreichung des Ziels, ihr Studium erfolgreich abzuschließen. Nach Angaben des Deutschen Studentenwerks benötigte ein Studierender im Jahr 2016 für die Bezahlung regelmäßig anfallender Kosten 900–1000 € im Monat.[24] Nicht bei ihren Eltern wohnende Studierende unter 25 Jahren konnten 2016 maximal 735 € an BAFöG-Leistungen erhalten.[25] Das Deutsche Studentenwerk legte am 1. September 2021 Vorschläge für ein auskömmliches Einkommen aus dem Bundesausbildungsförderungsgesetz vor.[26]
Das Zentrum für Wissenschaftsmanagement listet unter dieser Kategorie neben der erwähnten Notwendigkeit, Zeit für eine Erwerbstätigkeit aufzuwenden, familiäre Verpflichtungen, gesundheitliche Gründe, das Engagement in der Gesellschaft bzw. in universitären Gremien sowie die Investition von Zeit in nicht unmittelbar eine Berufskarriere beschleunigende Kompetenzen auf.[27] Da seit Inkrafttreten des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Verneinten Nationen (UN) auch Hochschulen verpflichtet sind, die Inklusion von Menschen mit Behinderung zu ermöglichen, müssen sie die Interessen von Menschen mit Behinderung bei der Konzeption studierbarer Studiengänge berücksichtigen.[28]
Deutsche und österreichische Studien im Hochschulbereich belegen, dass „[d]ie Familienfreundlichkeit von Hochschulen […] Studierende bei der Wahl einer Hochschule beeinflussen, studierende Eltern unterstützen, Studienzeiten verkürzen und Abbrüche verhindern“ kann.[29]
Das Zentrum für Wissenschaftsmanagement führt auch eine ungünstige Arbeitsmarktlage für Absolventen des betreffenden Studiengangs als Grund für die Verlängerung des Studiums an.[30] In europäischen Ländern mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit wird das Heranrücken des Zeitpunkts des Studienabschlusses nicht nur mit Freude erwartet, da es dort Phänomene der Überakademisierung gibt.
Seamless Wikipedia browsing. On steroids.
Every time you click a link to Wikipedia, Wiktionary or Wikiquote in your browser's search results, it will show the modern Wikiwand interface.
Wikiwand extension is a five stars, simple, with minimum permission required to keep your browsing private, safe and transparent.