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russischer Schriftsteller Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi (russisch , wissenschaftliche Transliteration Lev Nikolaevič Tolstoj, deutsch häufig auch Leo Tolstoi; * 28. Augustjul. / 9. September 1828greg. in Jasnaja Poljana bei Tula; † 7. Novemberjul. / 20. November 1910greg. in Astapowo, Gouvernement Rjasan, heute Lew Tolstoi, Oblast Lipezk) war ein russischer Schriftsteller. Seine Hauptwerke Krieg und Frieden und Anna Karenina sind Klassiker des realistischen Romans.
Lew Tolstoi entstammte dem russischen Adelsgeschlecht der Tolstois. Er war das vierte von fünf Kindern. Sein Vater war der russische Graf Nikolai Iljitsch Tolstoi (1794–1837), seine Mutter Marija Nikolajewna, geb. Fürstin Wolkonskaja (1790–1830).[1] Als er mit neun Jahren Vollwaise wurde, übernahm die Schwester seines Vaters die Vormundschaft. An der Universität Kasan begann er 1844 ein Studium der orientalischen Sprachen. Nach einem Wechsel an die juristische Fakultät brach er das Studium 1847 ab, um die Lage der 350 geerbten Leibeigenen im Stammgut der Familie in Jasnaja Poljana mit Landreformen zu verbessern (Der Morgen eines Gutsbesitzers). Nach anderen Quellen bestand er 1848 noch das juristische Kandidatenexamen an der Petersburger Universität „mit knapper Not“ und kehrte dann in sein Dorf zurück.[2]
Von 1851 an diente er in der zaristischen Armee als Fähnrich einer Artilleriebrigade im Kaukasuskrieg. Seine Erfahrungen im Militäreinsatz beeinflussten seine frühen Kaukasus-Erzählungen (Der Holzschlag, Der Überfall, Die Kosaken). Nach Ausbruch des Krimkriegs erlebte er 1854 den Stellungskrieg in der belagerten Festung Sewastopol. Die realistischen Berichte aus diesem Krieg (1855: Sewastopoler Erzählungen) machten ihn früh als Schriftsteller bekannt.
Ab 1855 lebte er abwechselnd auf dem Gut Jasnaja Poljana, in Moskau und in Sankt Petersburg. Unter pädagogischem Blickwinkel bereiste er 1857 und 1860/61 westeuropäische Länder und besuchte Künstler (Charles Dickens, Iwan Sergejewitsch Turgenew) und Pädagogen (Adolph Diesterweg). Nach der Rückkehr verstärkte er seine reformpädagogischen Bestrebungen und richtete Dorfschulen nach dem Vorbild Rousseaus ein. Einer am Sankt Petersburger Zarenhof lebenden Verwandten (A. A. Tolstaja) schrieb er:
„Wenn ich eine Schule betrete und diese Menge zerlumpter, schmutziger, ausgemergelter Kinder mit ihren leuchtenden Augen […] sehe, befällt mich Unruhe und Entsetzen, ähnlich wie ich es mehrmals beim Anblick Ertrinkender empfand. Großer Gott – wie kann ich sie nur herausziehen? Wen zuerst, wen später? […] Ich will Bildung für das Volk einzig und allein, um die dort ertrinkenden Puschkins, […] Lomonossows zu retten. Und es wimmelt von ihnen an jeder Schule.“
Er strebte dabei nicht vorrangig Auslese an, vielmehr eine den verschiedenen kindlichen Persönlichkeiten angepasste Bildung. Auch als die Schule durch die zaristische Verwaltung geschlossen worden war, verfolgte Tolstoi die pädagogischen Ziele weiter. Er schrieb Lesebücher, die Erzählungen zu Geschichte, Physik, Biologie und Religion enthielten, um Kindern moralische und soziale Werte zu vermitteln. Generationen russischer Kinder erhielten bis in die 1920er Jahre ihre Grundschulbildung auch mit seinem erstmals im Jahr 1872 erschienenen Schulbuch Alphabet. Die überarbeitete Neuauflage aus dem Jahr 1875, mit einer Auflage von 1,5 Millionen Exemplaren, wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Er hatte damit großen Einfluss auf die Reformbewegungen von Freien Schulen wie Summerhill.
Am 23. September 1862 heiratete Tolstoi die achtzehnjährige Sofja (Sonya), die Tochter des kaiserlichen Hofarztes Andrei Jewstafjewitsch Behrs (Andreas Gustav Behrs; 1808–1868).
In den folgenden Jahren schrieb er die monumentalen Romane Krieg und Frieden (1862–1869) sowie Anna Karenina (1873–1878), die seinen literarischen Ruhm begründeten. In seinem Tagebuch hatte er Mitte der 1850er Jahre notiert: „Es gibt etwas, was ich mehr als das Gute liebe: Ruhm.“
Mit seiner großen Anerkennung begann für Tolstoi eine Phase der Orientierungslosigkeit. Er fühlte sich „am Abgrund angelangt“. Als Beteiligter an der Volkszählung im Jahr 1882 in Moskau nahm er unter den Arbeitern ein Elend wahr, das jenes der Bauern noch übertraf. Tief erschüttert versuchte er der Landflucht entgegenzuwirken, indem er Hilfe für von Missernten betroffene Bauern organisierte.
Seine Sinnsuche erstreckte sich auf immer weitere Bereiche. So verzichtete er auf Rauchen, Alkohol und die Jagd („grausame Vergnügungen“). Er ernährte sich vegetarisch und erklärte, der Mensch müsse die Fleischnahrung aufgeben, wenn er sich moralisch weiterentwickeln wolle, „denn außer der Aufregung der Leidenschaften infolge dieser Nahrung ist dieselbe auch ganz einfach unmoralisch, weil sie eine dem Gefühl der Moralität widersprechende Tat – den Mord – erfordert, und weil sie nur von der Feinschmeckerei und Gefräßigkeit verlangt wird“.[3] Sein Vegetarismus hat auch eine sozialkritische Komponente: Er fand es unerträglich, „dass im Herrenhaus viel Mühe auf exquisite, raffinierte Speisen verwandt wurde, während ringsum bittere Armut und periodisch immer wieder Hunger herrschten“.[4] „Die Armut der Leute und die Leiden der Tiere sind furchtbar“, hatte er schon 1857 in sein Tagebuch geschrieben.[5]
Tolstoi setzte sich wiederholt und oft erfolgreich für politisch und religiös Verfolgte ein, besuchte wegen Kriegsdienstverweigerung Inhaftierte im Gefängnis und blieb als Autor weiterhin produktiv, unterstützt von seiner Frau, die allein die 1650 Seiten von Krieg und Frieden sieben Mal abgeschrieben haben soll. In der Erzählung Der Leinwandmesser verspottete er aus der Sicht eines Pferdes menschliches Besitzstreben:
„Es gibt Menschen, die ein Stück Land ‚Mein‘ nennen, und dieses Land nie gesehen und betreten haben. Die Menschen trachten im Leben nicht danach zu tun, was sie für gut halten, sondern danach, möglichst viele Dinge ‚Mein‘ zu nennen.“
Seit 1879 hatte er sich intensiv religiösen Fragen zugewandt. In einer Reihe von Gesprächen mit führenden Geistlichen wie dem Metropoliten von Moskau sowie auf Reisen zu verschiedenen Kirchen und Klöstern entwickelte er eine Abneigung gegenüber der ihm begegnenden rituellen Form der Religiosität. Dieser und auch der in westlichen Kirchen praktizierten, den Kriegsdienst bejahenden Glaubensausübung stellte er die schlichten Lehren Jesu gegenüber. Hierzu übersetzte er die Evangelien erneut ins Russische. Als deren Kern betonte er dabei die Nächstenliebe sowie den Appell, dem Bösen ohne Gewalt zu widerstehen.
Die Verbreitung seiner Anschauungen (Kirche und Staat, Was darf ein Christ und was nicht?) zog den Widerstand politischer und kirchlicher Einrichtungen nach sich.
Auf seine Achtung im Ausland folgte seine Ächtung im Inland. Seit 1882 unterstand er polizeilicher Überwachung. Meine Beichte sowie Worin mein Glaube besteht wurden mit ihrer Veröffentlichung sofort verboten. Über ihn wurde sogar das Gerücht verbreitet, er sei geistesgestört. Wenn Tolstoi angesichts der Verfolgung seiner Anhänger seine Verantwortung als Urheber betonte, antwortete man ihm: „Herr Graf! Ihr Ruhm ist zu groß, als dass unsere Gefängnisse ihn unterbringen könnten!“ Die Veröffentlichung des Romans Auferstehung führte dazu, dass ihn der Heilige Synod im Februar 1901 exkommunizierte, da er – angeblich –
Tolstoi zeigte sich wenig reuig. „Die Lehre der Kirche ist eine theoretisch widersprüchliche und schädliche Lüge“, heißt es in einem Antwortbrief an den Synod, „fast alles ist eine Sammlung von grobem Aberglauben und Magie.“[6] Dies war aber „kein uneingeschränktes Verneinen, dahinter stand immer ein tiefer Glaube an das Wirken Gottes in der Welt und das Bemühen, das wahre göttliche Gesetz zu ergründen“ (Brockhaus Enzyklopädie).[7]
Tolstoi lehnte sozialistische Bestrebungen im Sinne einer Diktatur des Proletariats ab: „Bislang haben die Kapitalisten geherrscht, dann würden Arbeiterfunktionäre herrschen.“ Mit seinem moralischen Rigorismus sah er sich in einem Zwiespalt: Sich selbst und der reichen Oberschicht, der er entstammte, warf er eine egozentrische und sinnentleerte Lebensweise vor. Seine Haltung führte ihn zu der Frage nach beständigen moralischen Werten, die er für sich mit dem Anspruch auf bedingungslose Nächstenliebe und radikale Gewaltlosigkeit beantwortete. Vor diesem Hintergrund galt Tolstoi in seinen späten Jahren als Vertreter eines religiös inspirierten Anarchismus; er lehnte allerdings die von Bewunderern entwickelte Ideologie des Tolstojanismus ab. Dabei hatte sein Werk als mit wegbereitend für die Revolution von 1905 gegolten. Sein Freund Wladimir Stassow schrieb ihm am 18. September 1906: „Ist die ganze gegenwärtige russische Revolution nicht etwa aus Ihrem feuerspeienden Vesuv hervorgeschossen?“
Kurz vor seinem Tod hatte ihm Mahatma Gandhi, der sich bereits in seiner Jugend auf Tolstoi bezogen hatte, sein kleines Buch Hind Swaraj („Indische Selbstverwaltung“) geschickt, eine Broschüre gegen den britischen Kolonialismus, in dem er nach Tolstois Grundsätzen das tugendhafte Leben ohne Besitz im Gegensatz zu den kapitalistischen Prinzipien von Wachstum und wirtschaftlichem Fortschritt propagiert und seine Satyagraha-Lehre eines gewaltlosen, aber aktiven Widerstands darlegt. Tolstoi hatte die Schrift gelesen und Gandhi in einem Brief ermutigt. Gemeinsam mit Anhängern gründete Gandhi 1910 in Transvaal (Südafrika) eine Siedlung und nannte sie Tolstoi.
Neben staatlichen Willkürmaßnahmen wie der Hausdurchsuchung 1908, bei der alle auffindbaren Texte konfisziert wurden, verschärften sich auch familiäre Konflikte. Da seine Frau es ablehnte, die in seinem Testament dem russischen Volk vermachten literarischen Werke als gemeinsame Besitztümer des Volkes anzusehen,[8] verließ Tolstoi mit seinem Arzt und seiner jüngsten Tochter die Familie zu einer letzten, spektakulären Reise in Richtung Süden. Auf dieser Reise in einem offenen Zug erkrankte er an einer Lungenentzündung und starb am frühen Morgen des 20. November 1910 im Haus des Bahnhofsvorstehers Iwan Osolin in Astapowo (seit 1918 Lew Tolstoi, heute in der Oblast Lipezk) – umlagert von der Weltpresse. Zwei Tage später wurde er in Jasnaja Poljana begraben.
Tolstoi und seine sechzehn Jahre jüngere Frau Sofja (Sonya) hatten 13 Kinder, von denen acht die Kindheit überlebten.[9]
Vor der Hochzeit zeigte Tolstoi seiner Braut seine Tagebücher, aus denen sie seine sexuelle Vergangenheit erfuhr, u. a. dass er mit einer verheirateten Bäuerin aus Jasnaja Poljana, Aksinja Bazykina, liiert war. Ihr unehelicher Sohn Timotheus (1860) arbeitete später als Kutscher der Tolstois.[10]
Nach seinem Tod gab seine Frau, die Tolstois Werke seit 1885 als Herausgeberin publizierte, eine letzte von ihr betreute Gesamtausgabe seiner Werke heraus. Tochter Alexandra, die von Tolstoi formal als Alleinerbin des literarischen Nachlasses eingesetzt worden war, kaufte der Mutter 1913 das Landgut Jasnaja Poljana ab. Sie hatte zusammen mit Wladimir Tschertkow mit der Herausgabe der unveröffentlichten Schriften Tolstois sowie mit dem Verkauf der Rechte an einer Werkausgabe an den Verleger Iwan Sytin eine stattliche Summe erzielt und erfüllte damit den Wunsch ihres Vaters, die Ländereien an die Bauern zu übergeben. Tschertkow wurde auch zum Begründer des Tolstojanismus, einer Bewegung des christlichen Anarchismus und Pazifismus.
Als das Testament rechtskräftig war, versuchte Alexandra ihre Eigentumsrechte an jenen Manuskripten durchzusetzen, die von der Ehefrau des Schriftstellers mit dessen Einverständnis seit Ende der 1880er Jahre ins Archiv übergeben worden waren. Bis zur Entscheidung in dieser Angelegenheit wurde beiden Parteien der Zugang zu den Handschriften verwehrt. Es folgte eine langwierige Auseinandersetzung vor Gericht. Bei diesem Streit zwischen Mutter und Tochter ging es nicht um die Urheberrechte; Tolstaja erkannte das Testament ihres Mannes vollständig an. Tolstajas Eigentumsrechte an der Manuskriptsammlung im Archiv des Historischen Museums, die Gegenstand des Zwistes waren, wurden 1914 vom Gericht und per Ukas des Zaren bestätigt.[11]
Lew Nikolajewitsch Tolstoi wurden in Russland zwei moderne russische Münzen gewidmet:
Das Flaggschiff der russischen Binnenschifffahrtsflotte, die Lev Tolstoi, trägt seinen Namen.
Im Jahr 1976 wurde der Merkurkrater Tolstoj und 1984 wurde der Asteroid (2810) Lev Tolstoj nach ihm benannt.[13] Ferner ist er Namensgeber für das Tal Dolina L’va Tolstogo in der Antarktis.
Stefan Zweig würdigte Tolstoi mit einer Episode in seinem Werk Sternstunden der Menschheit (1927).
Gerhart Hauptmann urteilte über ihn: „Tolstois Taten, das sind seine Schriften, und diese zu sehr Geschenke des Genius, als daß sie vorbildlich sein könnten. Vorbildlich ist aber Tolstois Menschlichkeit und seine kristallreine Gesinnung. Lebte er heute, er [...] würde zum Frieden rufen, zum wahren Frieden, mit gewaltiger Stimme.“[14]
1903: Siberia von Umberto Giordano, mit Libretto von Luigi Illica, nach dem Roman Auferstehung
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