Die Kirchenprovinz Ostpreußen war eine Verwaltungseinheit der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union (APU). Sie entstand 1817 und existierte bis 1945. Zuletzt gehörten ihr etwa zwei Millionen evangelische Christen in der Provinz Ostpreußen an. Die Kirchenprovinz Ostpreußen ist eine der Kirchenprovinzen der APU (neben der 1923 gebildeten Kirchenprovinz Grenzmark Posen-Westpreußen und dem Landessynodalverband der Freien Stadt Danzig mit Provinzialstatus), die 1945 untergingen und sich nicht zu eigenständigen Landeskirchen wandeln konnten.[A 1]
Geschichte
Die Einführung der Reformation stellte die wichtigste Legitimationsgrundlage für die Gründung des Herzogtums Preußen 1525 dar. Obwohl jetzt Staatskirche, wurde die vorreformatorische Organisationsstruktur im Kern vorerst beibehalten. Deshalb gliederte sich das Herzogtum Preußen in die beiden lutherischen Bistümer Pomesanien und Samland. Da das Fürstbistum Ermland als Staat katholisch geblieben war, die ermländische Diözese aber darüber hinaus auch Teile des Herzogtums Preußen umfasste, wurden diese Teile (im Kern also die Landschaften Natangen und Barten) dem nunmehr lutherischen Bistum Samland angeschlossen. 1577 wurde der Bischof von Pomesanien Johannes Wigand zusätzlich Bischof von Samland. Nach seinem Tod 1587 ging die Bischofswürde in Preußen ein. Die bisherige Diözesanverwaltung des Bistums Samland wurde in das Samländische Konsistorium Königsberg umgewandelt, die bisherige Diözesanverwaltung von Pomesanien wurde das Pomesanische Konsistorium in Saalfeld in Preußen.
Seit 1701 war der nunmehrige König in Preußen summus episcopus. Friedrich I. forderte mit absolutistischer Macht eine strenge Kirchenzucht. Beeinflusst vom Pietismus richtete sich das Kirchenregiment auch gegen weltliche Ausschweifungen der Pfarrerschaft. Bis dahin war es nicht unüblich, dass Pfarrer durch berufliche Nebentätigkeiten beansprucht waren. Auch im armen Masuren setzten die Kirchenbehörden nun ihre moralischen Vorstellungen durch. 1702 verbot ein Edikt etwa dem Lycker Erzpriester Joachim Columbus in dessen eigenem Krug gewerblich Alkohol auszuschenken.[1]
Georg Friedrich Rogall gründete 1728 an der Albertina das Polnische Seminar, um den Polnischunterricht der künftigen Seelsorger Masurens zu verbessern. Ebenfalls auf Initiative Rogalls entstand 1732 ein neues polnisches Gesangbuch für Masuren auf der Grundlage des Königsberger Drucks von 1684. Bereits 1731 war die Kirchenagende ins Polnische übersetzt worden. Dass die Kirchensprache Masurens fast ausschließlich Polnisch war, belegen auch die Visitationsberichte.[2]
1750 richtete der Monarch das Evangelische Konsistorium (Berlin) ein, dem nunmehr alle lutherischen Kirchen in der Monarchie unterstanden.[A 2] Im Zuge dieser Vereinheitlichung wurden beide Konsistorien 1751 zu einem für das ganze ehemalige Herzogtum Preußen (also das spätere Ostpreußen) mit Sitz in Königsberg umgewandelt. Deutschsprachige reformierte Gemeinden unterstanden von 1713 bis 1808 dem Kirchendirektorium zu Berlin.
Nach der Annexion Preußens königlichen Anteils durch das Königreich Preußen wurde daraus die Provinz Westpreußen gebildet. Die dortige lutherischen Kirchengemeinden unterstanden zunächst dem Konsistorium in Königsberg, für die Reformierten war das Kirchendirektorium zuständig. Ab 1809 unterstanden die Reformierten ebenfalls dem Oberkonsistorium, das seit 1750 schon ein reformiertes Mitglied hatte. 1814 wurde für Westpreußen das Konsistorium Danzig gebildet, in das auch Vertreter des bisherigen für Danzigs lutherische Kirchengemeinden zuständigen Geistlichen Ministeriums berufen wurden.[3]
19. Jahrhundert
Nach den neuen Grenzziehungen beim Wiener Kongress wurden 1815 zehn preußische Provinzen gegründet und in jeder auch das Kirchenwesen nach festem Schema geordnet. In jeder Provinzhauptstadt wurde ein Konsistorium errichtet, das für Kirchen- und Schulfragen zuständig war (1825 wurden eigenständige Provinzialschulkollegien ausgegliedert). Das westpreußische Konsistorium war in Danzig, das ostpreußische in Königsberg ansässig. Nachdem die politischen Provinzen Ost- und Westpreußen 1829 vereinigt worden waren, wurden auch die Kirchenprovinzen zur Kirchenprovinz Preußen vereinigt. Das Konsistorium Danzig wurde 1831 wieder aufgelöst und seine Aufgaben an dasjenige in Königsberg übertragen,.[3] Ludwig Ernst von Borowski, der schon seit 1812 den Titel eines Generalsuperintendenten führte, nahm bis zu seinem Tod 1831 die 1829 neu geschaffene Funktion des Generalsuperintendenten der Kirchenprovinz wahr. Der erneuten Trennung der politischen Provinzen mit Wirkung ab 1. April 1878 folgte auch die Ausgliederung der Kirchenprovinz Westpreußen. 1883 wurde Emil Taube als Generalsuperintendent für Westpreußen ernannt, der seinen Sitz 1886 von Königsberg nach Danzig verlegte, als dort das Konsistorium wieder begründet wurde.[4] Die Kirchenprovinz Ostpreußen trug seitdem wieder ihren früheren Namen.
Veränderungen ab 1920
Mit der Veränderung der ostpreußischen Provinzialgrenzen 1920 (Abtretung des Völkerbundmandats des Memelgebiets und des südwestlichen Teils des Kreises Neidenburg um die Stadt Soldau) und 1923 (Angliederung des Regierungsbezirks Westpreußen) änderte sich auch das Gebiet der Kirchenprovinz. Die evangelischen Kirchengemeinden im Regierungsbezirk Westpreußen wurden Teil der Kirchenprovinz, diejenigen im Soldauer Gebiet traten der Unierten Evangelischen Kirche in Polen bei.
Die evangelischen Gemeinden im Memelgebiet kamen durch Annexion 1924 an Litauen. Das im Rahmen der Autonomie gewählte memelländische Landesdirektorium (Landesregierung), angeführt von Landesdirektor Viktoras Gailius, und die Evangelische Kirche der altpreußischen Union (APU), geleitet von Präses Johann Friedrich Winckler, schlossen am 31. Juli 1925 das Abkommen betr. die evangelische Kirche des Memelgebietes,[5] demnach die evangelischen Kirchengemeinden des Memellandes aus der Kirchenprovinz Ostpreußen ausschieden und einen eigenen Landessynodalverband mit eigenem Konsistorium innerhalb der APU bildeten.[A 3] Nach Kirchenwahlen 1926 nahm das evangelische Konsistorium in Memel 1927 seine Arbeit auf und das geistliche Oberhaupt im Memelland war zunächst Franz Gregor und ab 1933 Otto Obereigner.[6]
Der preußische Staatskommissar August Jäger setzte Ostpreußens Generalsuperintendenten Paul Gennrich 1933 ab. Nach deutschchristlicher Beseitigung der presbyterialen Selbstverwaltung und Aushebelung der altpreußischen Kirchenordnung von 1922 wurde der Reichspropagandaleiter und Mitbegründer der Glaubensbewegung Deutsche Christen, Pfarrer Fritz Kessel von St. Nikolai in Berlin-Spandau, am 5. Oktober 1933 als Bischof von Königsberg für die Kirchenprovinz Ostpreußen eingesetzt.[7][8] Im Herbst 1935 wurde er entmachtet,[7] bevor er 1936 emeritiert wurde.[9] Der ostpreußische Provinzialkirchenausschuss versuchte von 1935 bis 1937 – letztlich vergebens – die verfeindeten Kirchenparteien zusammenzubringen.
Heutige Nutzung der Kirchengebäude
Die großen Kirchen aus der Zeit des Deutschen Ordens (wie in Angerburg, Preußisch Holland und Rastenburg), die in deutscher Zeit evangelisch waren, sind heute alle katholisch.[A 4] Die evangelische Ordenskirche in Landsberg ist heute ukrainisch-katholisch. Von den kleinen einst evangelischen Kirchen aus der Ordenszeit bildet die Marienfelder Kirche eine Ausnahme; denn sie ist anders als die anderen Kirchen aus der Ordenszeit unverändert evangelisch. Die kleinen evangelischen Kirchen im einstigen Ostpreußen, in denen heute noch evangelisch gepredigt wird – wie in Lötzen, Sorquitten, Sensburg, Nikolaiken, Allenstein oder Langgut (Łęguty) oder die Baptistenkapelle in Lyck – sind durchweg nicht aus der Ordenszeit.[10]
Generalsuperintendenten
Mit der Kabinettsorder vom 14. Mai 1829 wurden in allen Provinzen Generalsuperintendenten eingeführt. In Ostpreußen gab es schon vorher den Titel eines Generalsuperintendenten, der aber nicht die Funktion ab 1829 bezeichnete.
Kirchenprovinz Preußen
- 1812–1831: Ludwig Ernst von Borowski
- 1831–1835: Ludwig August Kähler
- 1835–1859: Ernst Sartorius
- 1860–1878: Karl Bernhard Moll
- 1879–1883: Gustav Carus
Kirchenprovinz Ostpreußen
- 1883–1889: Gustav Carus
- 1890–1894: Franz Karl Hermann Poetz
- 1894–1912: Karl Johann Christian Braun
- 1912–1917: Hans Schöttler
- 1917–1933: Paul Gennrich (von August Jäger abgesetzt)
- 1933–1936: Fritz Kessel (als Provinzialbischof)
- 1936–1945: Vakanz
Landessynodalverband Memelgebiet
- 1927–1933: Franz Gregor (Wogau, Kr. Pr.-Eylau, 24. Juli 1867 – 27. Mai 1947, Walsrode), zuvor Superintendent des Kirchenkreises Memel
- 1933–1944: Otto Obereigner (Königsberg in Pr., 20. September 1884 – 18. Oktober 1971, Bad Schwartau), zuvor Superintendent des Kirchenkreises Pogegen,[A 5] nach 1945 Pastor der Landeskirche Eutin.
Konsistorialpräsidenten
- 1824–1842: Theodor von Schön (als Oberpräsident)
- 1843Heinrich zu Dohna-Wundlacken :
- 1843–1846: Carl Wilhelm von Bötticher (als Oberpräsident)
- 1846–1848: Theodor Ludwig Bessel
- 1848–1849: Rudolf von Auerswald (als Oberpräsident)
- 1849–1850: Eduard von Flottwell (als Oberpräsident)
- 1850–1868: Franz August Eichmann (als Oberpräsident)
- 1868–1874: Karl Bernhard Moll (neben seinem Amt als Generalsuperintendent)
- 1874–1882: Julius Eduard Ballhorn
- 1883–1885: Ludwig Ferdinand Hermann Siehr
- 1886–1904: Albert von Dörnberg
- 1905–1923: Bernhard Kähler
- 1925–1934: Willi Kramer
- 1934–1938: Walther Tröger
- 1938–1941: Arthur von Boehmann
- 1941–1942: Walter Heyer
- 1942–1945: Heinz Gefaeller
Provinzialsynoden
Ab 1875 hatten auch die östlichen Kirchenprovinzen der preußischen Landeskirche Provinzialsynoden, die bei der Gestaltung des kirchlichen Lebens mitbestimmten. Nachdem 1918 das landesherrliche Kirchenregiment geendet hatte, wurden die Synoden die obersten beschlussfassenden Gremien. Deren Mitglieder, die Synodalen, wurden auf sechs Jahre von den Kirchenkreisen gewählt. Die Aufgabe der Synode ähnelte der von politischen Parlamenten. Den Vorsitz der Synode führte der Präses.
Die Protokolle ihrer Verhandlungen wurden als Druckschrift veröffentlicht.
- Verhandlungen der vierzehnten Provinzialsynode für Ostpreußen 1914 Digitalisat
- Verhandlungen der fünfzehnten Provinzialsynode für Ostpreußen 1917 Digitalisat
Präsides der Synode
- 1869 : Erdmann, Superintendent (außerordentliche Provinzialsynode)
- 1875 : Kessler, Landgerichtspräsident
- 1876–1882: Wilhelm Schrader (Pädagoge), Provinzialschulrat
- 1893–1900: Philipp Zorn, Staatsrechtler
- 1902–1916: Richard zu Dohna-Schlobitten, Gutsbesitzer und Politiker
- 1917–1919: Emanuel Graf zu Dohna-Schlobitten, Gutsbesitzer
- 1921–1933: Friedrich von Berg, Oberpräsident a. D.
- 1933–1934: Erich Koch, Oberpräsident und Gauleiter
Kirchenkreise
Die Kirchenprovinz war in lutherische Kirchenkreise untergliedert. Ein Kirchenkreis war in der Regel mit einem Landkreis räumlich deckungsgleich. Eine Ausnahme war der Kirchenkreis Ermland, der das Gebiet von fünf Landkreisen umfasste. Der Reformierte Kirchenkreis umfasste reformierte Gemeinden in ganz Ostpreußen. Jeder Kirchenkreis war in der Regel mit dem Amtsbezirk eines Superintendenten identisch, der amtlich Diözese genannt wurde. Die Kirchenkreise Königsberg-Land, Mohrungen, Ortelsburg, Osterode, Preußisch Eylau und Tilsit-Ragnit waren dagegen in jeweils zwei Diözesen unterteilt.[11]
Gesangbücher
In der Kirchenprovinz Ostpreußen war u. a. das folgende Gesangbuch in Gebrauch:
- Evangelisches Gesangbuch: Ausgabe für die Kirchenprovinz Ostpreußen. (Dieses Gesangbuch wurde auch in der Kirchenprovinz Grenzmark Posen-Westpreußen, im Landessynodalverbande Danzig und in der Unierten evangelischen Kirche in Polen eingeführt.) Herausgegeben vom Provinzialkirchenrat der Kirchenprovinz Ostpreußen namens des Provinzialsynodalverbandes, Wichern-Buchhandlung, Königsberg i.Pr. o. J. [um 1930].
Literatur
- Agaton Harnoch: Chronik und Statistik der evangelischen Kirchen in den Provinzen Ost- und Westpreussen. Nipkow, Neidenburg 1890 (Digitalisat).
- Walther Hubatsch: Geschichte der evangelischen Kirche Ostpreußens, Band I–III. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1968.
- Eberhard Gresch: Im Blickpunkt der Geschichte der Reformation: Evangelisch-Reformierte in (Ost-)Preußen. Rundbrief der Gemeinschaft evangelischer Ostpreußen e. V., Nr. 1/2011, S. 1–32.
Anmerkungen
- Vergleiche dazu die Evangelische Kirche von Schlesien, die auf einem Bruchteil ihres bisherigen Kirchengebietes in Subjektidentität mit der Kirchenprovinz Schlesien weiterexistieren konnte.
- Vgl. Instruction, vor das über alle Königliche Lande errichtete Lutherische Ober=Consistorium, de dato Berlin, den 4. Octobr. 1750, abgedruckt in: Corpus Constitutionum Marchicarum, Oder Königl. Preußis. und Churfürstl. Brandenburgische in der Chur- und Marck Brandenburg, auch incorporirten Landen publicirte und ergangene Ordnungen, Edicta, Mandata, Rescripta etc.: Von Zeiten Friedrichs I. Churfürstens zu Brandenburg, etc. biß ietzo unter der Regierung Friderich Wilhelms, Königs in Preussen etc. ad annum 1736. inclusive, IV. Continuatio, Spalte 291ff.
- Die memelländische evangelische Kirche genoss damit wie der Landessynodalverband der Freien Stadt Danzig den Status einer Kirchenprovinz innerhalb der APU, ohne selbst den Begriff Kirchenprovinz im amtlichen Namen zu führen.
- Die so genannte braune altpreußische Generalsynode hatte 1933 die Generalsuperintendenten durch Bischöfe ersetzt, die aber als Parteigänger der Deutschen Christen später im Kirchenkampf oft zurücktraten oder ignoriert wurden und an Bedeutung verloren. Der Landessynodalverband wurde nach Rückgliederung des Memelgebiets 1939 aufgelöst, schon 1933 hatte die braune Generalsynode im Zuge der Durchsetzung des Führerprinzips die Synoden der APU-Gliederungen in Deutschland abgeschafft. Doch die Generalsuperintendentur für das Memelgebiet blieb nach Verhandlungen mit dem EOK im April 1939 erhalten, bis sowjetische Streitkräfte im Oktober 1944 ins Memelgebiet vordrangen. Vgl. Arthur Hermann: Die Evangelische Kirche im Memelland des 20. Jahrhunderts. In: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte. Neue Folge (NOA), Bd. X (2001), Nr. 1: Im Wandel der Zeiten: Die Stadt Memel im 20. Jahrhundert. ISSN 0029-1595, Fußnote 7.
- Stand 1. Januar 1945 nach Walther Hubatsch: Geschichte der evangelischen Kirche Ostpreußens, Band III: Dokumente. Göttingen 1968, S. 440–441.
- Stand 1. Januar 1945 nach Walther Hubatsch: Geschichte der evangelischen Kirche Ostpreußens, Band III: Dokumente. Göttingen 1968, S. 441.
Einzelnachweise
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