Fehlende Frauen
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Der Begriff fehlende Frauen (englisch missing women) bezeichnet das Frauendefizit in Bezug auf die erwartete Zahl der Frauen in einer Region oder einem Land. Dieses Defizit wird meistens mittels der Geschlechterverteilung (Zahl der Männer im Verhältnis zur Zahl der Frauen) gemessen.
Das Frauendefizit setzt sich aus den Mädchen zusammen, die bei der Geburt fehlen (gemessen im Verhältnis zur erwarteten Geschlechterverteilung bei der Geburt) und der Übersterblichkeit von Frauen in höherem Lebensalter (gemessen im Verhältnis zur erwarteten Geschlechterverteilung in diesem Alter).
Hauptgrund für die Ablehnung und Vernachlässigung von Mädchen und Frauen ist die Präferenz für Söhne, die wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche sowie religiöse Ursachen hat. Geschlechtsselektive Abtreibungen sind Wissenschaftlern zufolge der wichtigste Faktor für die Erklärung der fehlenden Mädchen bei der Geburt. Die seit den 1970er-Jahren kommerziell erhältlichen Technologien zur vorgeburtlichen Geschlechtsbestimmung sind nach ihrer Argumentation ein starker Impuls für geschlechtsselektive Abtreibungen und damit für ein Defizit an Mädchen.[1] Als Ursachen für die Übersterblichkeit von Frauen und das daraus resultierende Frauendefizit gelten die Tötung von weiblichen Säuglingen nach der Geburt sowie die bewusste Vernachlässigung von Mädchen in Bezug auf die Gesundheitsversorgung und Ernährung.[1] Während die Übersterblichkeit von Frauen weltweit in den letzten Jahrzehnten relativ konstant blieb und in einigen Ländern sogar zurückging, ist die Zahl der fehlenden Mädchen bei der Geburt seit 1980 stetig gestiegen, sodass sich ihr Anteil an der Gesamtzahl fehlender Frauen stetig erhöht hat und inzwischen auf über 50 % geschätzt wird.[2]
Das Phänomen der fehlenden Frauen ist am weitesten in Ländern in Asien, im Mittleren Osten und in Nordafrika verbreitet.[3] Die am stärksten betroffenen Länder sind Indien und China, die gemeinsam für ca. 80 % der fehlenden Frauen weltweit verantwortlich sind.[2] Ein Frauendefizit wurde auch in chinesischen und indischen Einwanderergemeinschaften in Industrieländern wie den USA und Großbritannien gefunden.[4][5] In einigen Unionsrepubliken der früheren Sowjetunion gab es nach dem Zerfall des Landes ebenfalls einen Rückgang der Mädchengeburten, besonders in der Kaukasusregion.[6] Auch in relativ weit entwickelten Ländern mit hohem Bildungsstandard und einer ausgeprägten Mittelklasse (Taiwan, Südkorea, Singapur, Armenien, Aserbaidschan, Georgien) ist das Problem der fehlenden Frauen zu beobachten. Erst in jüngerer Zeit gelang es einigen Ländern (insbesondere Südkorea), durch Entwicklungs- und Bildungskampagnen eine Trendwende herbeizuführen, die zu ausgeglicheneren Geschlechterverteilungen geführt hat.[7]
Das Phänomen der fehlenden Frauen wurde erstmals 1990 vom indischen Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen in einem Essay in The New York Review of Books beschrieben. Sen argumentierte, dass das beobachtete Missverhältnis in den Geschlechterverteilungen asiatischer Ländern wie Indien, China und Südkorea im Vergleich zu Nordamerika und Europa nur durch bewusste Benachteiligung von Mädchen und Frauen bei der gesundheitlichen Versorgung und bei der Ernährung zu erklären sei. Ursprünglich schätzte er, dass über 100 Mio. Frauen „fehlten“.[3] Später kamen Wissenschaftler auf unterschiedliche Zahlen, die jüngsten Schätzungen liegen bei etwa 90 bis 101 Mio. Frauen.[8][9]
Sens Erklärung wurde von anderen Wissenschaftlern infrage gestellt, insbesondere von Emily Oster, die argumentierte, dass das Defizit auf die im Vergleich zu Europa und den USA in Asien stärkere Verbreitung des Hepatitis-B-Virus zurückzuführen sei. Osters spätere Forschungen ergaben aber, dass Hepatitis B nicht für einen signifikanten Anteil der fehlenden Frauen verantwortlich sein kann.[10] Wissenschaftler haben auch argumentiert, dass andere Krankheiten, HIV und AIDS, natürliche Ursachen sowie die Entführung von Frauen ebenfalls für das Frauendefizit verantwortlich sind.[11][12][13] Als Hauptursachen gelten jedoch weiterhin die Präferenz für Söhne und die daraus resultierende Abtreibung von weiblichen Föten sowie die bessere Versorgung von Jungen/Männer im Vergleich zu Mädchen/Frauen.[14] Spätere Studien haben bestätigt, dass das Frauendefizit in China und Indien zu einem großen Teil auf geringere Löhne für Frauen und auf geschlechtsselektive Abtreibungen sowie auf die stärkere Vernachlässigung von Mädchen zurückzuführen ist.[15][16][17]
Neben den Folgen für die Gesundheit und das Wohlergehen von Mädchen und Frauen hat das Phänomen der fehlenden Frauen in vielen Ländern auch zu einem Männerüberschuss und zu einem unausgeglichenen Heiratsmarkt geführt. Weil das Frauendefizit mit einer Vernachlässigung von Frauen verbunden ist, ist in Ländern mit einem höheren prozentualen Frauendefizit oft auch der Anteil an Frauen in schlechtem Gesundheitszustand erhöht, was einen höheren Anteil an Kleinkindern in schlechtem Gesundheitszustand zur Folge hat.[18]
Forscher argumentieren, dass die Verbesserung der Bildung und der Beschäftigungsmöglichkeiten von Frauen dazu beitragen können, die Zahl der fehlenden Frauen zu verringern. Die Erfolge solcher politischen Maßnahmen variieren wegen des unterschiedlichen Niveaus von tief verwurzeltem Sexismus in verschiedenen Kulturen jedoch stark.[19][20]
Im Kampf gegen das Problem der fehlenden Frauen wurden verschiedene internationale Maßeinheiten geschaffen.[21] So misst die OECD die Zahl der fehlenden Frauen im SIGI (Social Institutions and Gender Index) anhand der Präferenz für Söhne, um das Bewusstsein für das Problem zu erhöhen.[22][23]