Von 1872 bis 1876 studierte er an der Universität Pragklassische Philologie und promovierte über „Die Inschrift von Sestos und Polybios“. 1878 erhielt er von der Jüdischen Gemeinde in Prag die Lehrerlaubnis als Rabbiner.[1]
1891 wurde er als Privatdozent an der Universität Wien zugelassen. Vom Studienjahr 1892 / 1893 an hielt er regelmäßig Vorlesungen über die Einleitung in die Philosophie (als Buch in zehn Auflagen erschienen; Übersetzung in acht Sprachen). Sein Lehrbuch der Psychologie wurde in sieben Auflagen herausgegeben und in fünf Sprachen übersetzt.[2]
1894 bis 1902 lehrte er auch an der Israelitisch-Theologischen Lehranstalt in Wien.[3] Wilhelm Jerusalem war auch jahrelang Präsident von B’nai B’rith Wien.[4]
1906 beteiligte er sich, gemeinsam mit dem Gynäkologen Hugo Klein (1863–1937), dem Politiker Julius Ofner (1845–1924) und dem Kinderarzt Josef Karl Friedjung (1871–1946) an der Gründung des „Österreichischen Bundes für Mutterschutz“.[5]
Wilhelm Jerusalem gab 1907 sein Lehramt an Mittelschulen auf. 1912 brachte er dazu das Werk Die Aufgaben des Lehrers an höheren Schulen heraus, von Moritz Schlick als das schönste seiner Bücher bezeichnet.[2]
Jerusalem forderte höflich, aber bestimmt eine Bildungsreform in Altösterreich. Besonders interessierte er sich für die Bildungschancen von Minderheiten. Er verfasste die erste Monografie über die Erziehung von Taubblinden. 1890 veröffentlichte Jerusalem eine psychologische Studie über die taubblinde Laura Bridgman. Er hatte das literarische Talent der taubblinden Autorin Helen Keller entdeckt und war mit ihr in Briefkorrespondenz.[6]
Besonders interessiert war Jerusalem an der philosophischen Richtung und Methode des Pragmatismus, dessen Hauptwerk „Der Pragmatismus“ von William James er 1907 in die deutsche Sprache übersetzte. Jerusalems eigene philosophische Anschauung war dem Pragmatismus verwandt.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Jerusalem außerordentlicher Professor für Philosophie und Pädagogik an der Wiener Universität. Im Frühsommer 1919 wurde Jerusalem Pädagoge des Schönbrunner Kreises, der Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Erzieher. Dem Wiener Vizebürgermeister Max Winter gelang es, den Österreichischen Kinderfreunden im Hauptgebäude des Schlosses Schönbrunn Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. In dieser Schönbrunner Erzieherschule, in der junge Menschen zu Pädagogen ausgebildet wurden, konnte Jerusalem seine reformpädagogischen Programme gemeinsam mit seinen Kollegen Alfred Adler, Max Adler, Marianne Pollak, Josef Luitpold Stern und Otto Felix Kanitz verwirklichen.
1923 wurde Wilhelm Jerusalem auf Betreiben Otto Glöckels zum ordentlichen Professor für Philosophie und Pädagogik an der Universität Wien ernannt.
Jerusalem starb am 15. Juli 1923 in Wien an Herzversagen und wurde auf dem Döblinger Friedhof beerdigt. Das Grab ist noch erhalten. Im Jahr 1954 wurde in Wien-Floridsdorf (21. Bezirk) die Jerusalemgasse nach ihm benannt.
Er hatte mit seiner Frau Katharina, geb. Pollak (* 1856 in Tannwald, Nordböhmen, gest. 1932 in Wien), fünf Kinder;
Edmund, * 17. September 1879 in Nikolsburg, gest. 23. März 1962 in Jerusalem.
Erwin Jerusalem, * 27. April 1881 in Nikolsburg, Oberlandesgerichtsrat bzw. Senatsvorsitzender in Wien, wurde am 30. Jänner 1943 in Auschwitz ermordet.[7]
Nach der im Nationalsozialismus umgekommenen Tochter Irene Jerusalem, * 10. September 1882 in Nikolsburg, gest. 1942 oder 1943, ist seit 2006 der Irene-Jerusalem-Weg im 13. Bezirk, Hietzing, benannt.
Lilli, * 4. April 1885 in Nikolsburg, gest. 10. März 1903 in Wien
Flora, * 11. August 1889 in Wien, gest. 27. Oktober 1907 in Wien
Zur Reform des Unterrichtes in der philosophischen Propädeutik. In: Programm des Staats-Gymnasiums in Nikolsburg. Nikolsburg 1885, S. 3–32 (Digitalisat)
Laura Bridgman, Erziehung einer Taubblinden. Verlag des k.k. Staatsgymnasiums im VIII.Bezirk, Wien 1890.
Grillparzers Welt- und Lebens-Anschauungen. Eisenstein Verlag, Wien 1891.
Die Urtheilsfunction. Verlag Wilhelm Braumüller, Wien und Leipzig 1895.
Das Haus der Piaristen. Zum 16. November 1901. In: Festschrift zur Feier des zweihundertjährigen Bestandes des k. k. Staatsgymnasiums im VIII. Bezirke Wiens. Wien 1901, S. V-IX (Digitalisat)
Die Aufgaben des Mittelschullehrers. Verlag Wilhelm Braumüller, Wien und Leipzig 1903.
Kants Bedeutung für die Gegenwart. Verlag Wilhelm Braumüller, Wien und Leipzig 1904.
Marie Heurtin. Erziehung einer blind und taub Geborenen. Verlagsbuchhandlung Carl Konegen, Wien 1905.
Gedanken und Denker. Verlag Wilhelm Braumüller, Wien und Leipzig 1905
Der kritische Idealismus und die reine Logik. Wien und Leipzig 1905. (Digitalisat in der Digitalen Bibliothek Mecklenburg-Vorpommern)
Wege und Ziele der Ästhetik. Verlag Wilhelm Braumüller, Wien und Leipzig 1906.
Der Pragmatismus, Vorwort zur Übersetzung des Werkes von William James. Felix Meiner Verlag, Leipzig 1907.
Die Aufgaben des Lehrers an Höheren Schulen. Verlag Wilhelm Braumüller, Wien/Leipzig 1912.
Der Krieg im Lichte des Gesellschaftslehre. Ferdinand Enke, Stuttgart 1915.
Zu dem Menschen redet eben die Geschichte. In: Friedenspflichten des Einzelnen. Verlag Friedrich Andreas Perthes, Gotha 1917.
Moralische Richtlinien nach dem Kriege. Verlag Wilhelm Braumüller, Wien 1918
Meine Wege und Ziele. In: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Band III herausgegeben von Raymond Schmidt. Felix Meiner Verlag, Leipzig 1922.
Einleitung in die Philosophie. Verlag Wilhelm Braumüller, Wien 1899. 9./10. Auflage 1923.
Die soziologische Bedingtheit des Denkens und der Denkformen. In: Versuche zu einer Soziologie des Wissens. Herausgegeben von Max Scheler. Verlag Duncker & Humblot, München/Leipzig 1924.
Gedanken und Denker Neue Folge. Herausgegeben von Edmund und Erwin Jerusalem, Verlag Wilhelm Braumüller, Wien 1925.
Lucien Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker. Mit einem Geleitwort von Wilhelm Jerusalem, Verlag Wilhelm Braumüller, Wien 1926.
Einführung in die Soziologie. Verlag Wilhelm Braumüller, Wien 1926.
Wilhelm Jerusalem – Helen Keller – Briefe, herausgegeben von Herbert Gantschacher. ARBOS-Edition 2012, ISBN 978-3-9503173-0-5.
Bertrand Russell: Der Pragmatismus (1909). In: Philosophische und politische Aufsätze. Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 1971.
Max Adler (Herausgeber): Festschrift für Wilhelm Jerusalem zu seinem 60. Geburtstag. Mit Beiträgen von Max Adler, Rudolf Eisler, Sigmund Feilbogen, Rudolf Goldscheid, Stefan Hock, Helen Keller, Josef Kraus, Anton Lampa, Ernst Mach, Rosa Mayreder, Julius Ofner, Josef Popper, Otto Simon, Christine Touaillon und Anton Wildgans, Verlag Wilhelm Braumüller, Wien und Leipzig 1915.
Edmund und Erwin Jerusalem: Verzeichnis der Veröffentlichungen Wilhelm Jerusalems. Verlag Wilhelm Braumüller, Wien und Leipzig 1924, erweiterte Ausgabe 1925.
Moritz Schlick: Wilhelm Jerusalem zum Gedächtnis. Typoskript 1928, Wiener Kreis Archiv. Einzusehen im Noord-Hollands Archief, Haarlem, Bestand 017/A.63.
Edmund Jerusalem: Helen Keller, die taub-blinde Schriftstellerin. In: Dvar Liladim, Jerusalem 1940 (aus dem Hebräischen übersetzt von Michael Jerusalem, Kfar Saba 2010).
Karl Renner: An der Wende zweier Zeiten. Danubia Verlag, Wien 1946.
Siegfried Nasko, Johannes Reichl: Karl Renner. Verlag Holzhausen, Wien 2000.
Jürgen Habermas: Über Wilhelm Jerusalem. In: Habermas and Pragmatism. Herausgegeben von Mitchell Aboulafia, Myra Bookman und Katherine Kemp. Routledge, London und New York 2002.
Ludwig Nagl: Wilhelm Jerusalems Rezeption des Pragmatismus. In: Verdrängter Humanismus – verzögerte Aufklärung. Herausgegeben von Michael Benedikt, Reinhold Knoll und Cornelius Zehetner unter Mitarbeit von Endre Kiss. WUV, Wien 2005.
Heinz Weiss: Die Pädagogen des Schönbrunner Kreises. Katalog des Österreichischen Staatsarchivs, Wien 2007.
Herbert Gantschacher: Dem Vergessen entreißen! Der Briefwechsel zwischen dem österreichisch-jüdischen Philosophen Wilhelm Jerusalem und der amerikanischen taubblinden Schriftstellerin Helen Keller. GebärdenSache, Wien 2009.
Herbert Gantschacher: Viktor Ullmann – Zeuge und Opfer der Apokalypse = Viktor Ullmann – witness and victim of the apocalypse. Ungekürzte Originalausgabe in deutscher und englischer Sprache mit Zusammenfassungen in italienischer, slowenischer und tschechischer Sprache, Arnoldstein-Klagenfurt-Salzburg-Wien-Prora-Prag, ARBOS-Edition 2015, ISBN 978-3-9503173-3-6.
Herbert Gantschacher: Viktor Ullmann – Svědek a oběť apokalypsy 1914–1944. Archiv hlavního města, Prag 2015, ISBN 978-80-86852-62-1.
Moritz Schlick: Wilhelm Jerusalem zum Gedächtnis, in: Die Wiener Zeit: Aufsätze, Beiträge, Rezensionen 1926–1936, Hrsg. Johannes Friedl und Heiner Rutte, Springer-Verlag, Wien / New York 2008, ISBN 978-3-211-33114-9, S. 137 ff.
Walter Mentzel: Hugo Klein (1863–1937) – Frauenarzt – Gynäkologe – Frauenrechtsaktivist – und Begründer des Mutterschutzes in Österreich. In: Universitätsbibliothek Medizinische Universität Wien, VanSwietenBlog, 20. November 2020. Digitalisat