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Vita der heiligen Lioba verfasst von Rudolf von Fulda Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Die Vita Leobae abbatissae Biscofesheimensis ist die von Rudolf von Fulda im Zeitraum zwischen 836 und 838 verfasste Heiligenvita der heiligen Lioba (* um 700/710 in Wessex, England; † 28. September 782 in Schornsheim).
Der Autor Rudolf von Fulda schrieb sie im Kloster Fulda im Auftrag des Fuldaer Abtes Hrabanus Maurus etwa 50 Jahre nach dem Tod der Heiligen. Ihm standen dafür Notizen mehrerer vorangegangener Versuche zur Verfügung, die Heiligenvita zu verfassen. Diese Vorgänger seien vertrauenswürdiger Männer gewesen, die ihr Wissen wiederum durch Erzählungen von vier Schülerinnen der Lioba, den Nonnen Agatha, Thecla, Nana und Eolibe gewonnen hätten. Insbesondere beruft er sich auf Notizzettel eines Mönchs namens Mago, der das Projekt einer Vita der heiligen Lioba vor seinem plötzlichen Tod aber nicht mehr beenden konnte.[1]
Der Zeitraum der Entstehung der Vita Leobae ist zwischen 836 und 838 anzusetzen: Die Translatio der Gebeine der Heiligen in die Kirche St. Peter auf dem Petersberg bei Fulda, die nicht vor 836, aber spätestens 838 stattfand, erwähnt der Autor nicht, benennt aber als Zeugen des letzten in der Vita geschilderten Wunders einen alten Mönch, Firmadus, der 836 starb.[2]
Das Original-Manuskript des Rudolf von Fulda ging im Dreißigjährigen Krieg verloren.[3] Jedoch sind eine Reihe von Abschriften erhalten:
Erstmals gedruckt wurde die Vita der Heiligen 1574 von Laurentius Surius.[23]
Die Vita einer Heiligen dient dazu, sie in der Zeit, für die die Vita geschrieben wird, ins rechte, heilige Licht zu setzen. Rudolf von Fulda und sein Auftraggeber Hrabanus Maurus standen deshalb vor einem Problem: Zum einen hatten sich die theologischen und kirchenpolitischen Ansichten in den 50 Jahren seit dem Tod der Heiligen geändert. Der von Lioba vertretene und auch selbst gelebte relativ „emanzipatorische“ Ansatz für eine – auch aktive – Rolle von Frauen in der Kirche war durch die androzentrischeren römischen Ansichten ersetzt worden. Weiter war durch den Umgang mit den sterblichen Überresten der Heiligen gegen den Willen des Bonifatius verstoßen worden: Sie war nicht in seinem Grab beigesetzt worden. Diese Abweichungen im Rahmen der Heiligenvita zu korrigieren, waren aber Grenzen gesetzt. Die Ereignisse lagen noch nicht so weit zurück, dass es nicht lebendige Traditionsstränge gegeben hätte, die die Ereignisse bezeugt hätten. Insofern gibt es in der Heiligenvita der Lioba drei Zeitschichten, für die eine Re-Interpretation unterschiedlich schwierig war:
Für die Zeit in England gab es für Zeitgenossen des Rudolf von Fulda praktisch keine authentischen Quellen außer der bestehenden mündlichen Tradition zum Leben der heiligen Lioba. Hier bot sich der größte Spielraum für interpretatorische Eingriffe. Rudolf von Fulda nutzt das, indem er zum einen gleich zu Beginn der inhaltlichen Erzählung den ersten Abschnitt darauf verwendet, die strenge benediktische Disziplin des Klosters Wimborne zu beschreiben, in dem Lioba erzogen wurde.[25] Die folgenden Kapitel 3–5 untermauern das, indem sie auf Lioba nicht weiter eingehen, sondern das disziplinierte Leben unter ihrer Äbtissin im Kloster Wimborne schildern.
Diese Schilderung ist völlig ahistorisch und dient offensichtlich nur dazu, aus Lioba posthum eine vorbildliche Benediktinerin im Sinne einer Auffassung zu machen, die 50 Jahre nach ihrem Tod herrschte. Wimborne war ein Doppelkloster. Doppelklöster waren Anlagen, die – in getrennten Klausuren – ein Frauen- und ein Männerkloster unter der Leitung einer Äbtissin vereinigten. Dies war eine spezielle Form monastischen Lebens in der irisch-angelsächsischen Kirche des Frühmittelalters[26] – undenkbar in den 830er Jahren im festländischen Europa.[27]
Aus dieser frühen Zeit des Lebens der Lioba gibt es kaum von der Biografie des Rudolf von Fulda unabhängige Quellen zum Leben der heiligen Lioba. Ältestes davon unabhängiges Zeugnis ist ein in Abschrift erhaltener Brief der Lioba an Bonifatius im Vorfeld ihrer Berufung in den Missionsauftrag auf dem europäischen Festland.[28]
Für die Zeit ihres Wirkens im Fränkischen Reich gab es dagegen eine lebhafte mündliche Tradition, getragen von Schülerinnen, unmittelbaren und mittelbaren Zeitzeugen. Aus ihnen speisen sich die faktischen Inhalte der Erzählung zu ihrem Leben, die Kapitel 9–21. Hier werden sowohl historische Fakten als auch überhöhte Interpretationen solcher Fakten („Wundergeschichten“) wiedergegeben – wobei die Wundergeschichten für Zeitgenossen völlig gleichberechtigte Realitäten waren.
Diese Berichte müssen deshalb im Kern alle zutreffen. Hier blieb der Interpretationsspielraum des Rudolf von Fulda begrenzt. Er beschränkte sich darauf, die Realität im Sinne seines Anliegens zu überhöhen – oder ganz wegzulassen. Dass er bei seinem Bericht eine Auswahl traf und mehr Quellen zur Verfügung hatte, gibt er selbst an.[29] Zwischen zwei Textblöcken, die den historischen Rahmen berichten (Kap. 9–11: Ausgangssituation und Einsetzung der Lioba durch Bonifatius, und Kap. 17–21: Zeit nach Bonifatius′ Tod) platziert er vier Wundergeschichten, die das segensreiche Wirken der Lioba darstellen:
In dieser Auswahl spiegelt Rudolf von Fulda auch die Macht der Heiligen, die Vier Elemente zu bannen:
Nicht weglassen konnte Rudolf von Fulda die Geschichte der Einsetzung von Lioba als eine der Nachfolgerinnen des Bonifatius: Dazu gab es zu viele Zeugen, dazu war der Akt viel zu aufsehenerregend. Also schildert er das Ereignis, auch wenn es ihm und seinem Auftraggeber so gar nicht ins Konzept passt. Bevor Bonifatius 754 zu seiner letzten Reise nach Friesland aufbrach, bei der er ermordet wurde, sammelte er seine Mitarbeiter um sich und ordnete seine Nachfolge: Sturmi war bereits früher zum Abt des Klosters Fulda eingesetzt worden.[30] Lullus sollte Erzbischof von Mainz werden und Lioba wurde mit der Weiterführung des Missionswerks betraut. Dafür investierte Bonifatius Lioba mit seinem Mönchsgewand und bestimmte, dass sie nach ihrem Tod in seinem Grab im Kloster Fulda beigesetzt werden solle. Er vertraute sie dem Schutz des Bischofs Lul und dem der führenden Mönche des Klosters Fulda an.[31] Nach dem Tod des Bonifatius kam es aber zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Erzbischof Lul und Sturmius über die Frage, ob das Kloster Fulda dem Bischof unterstand oder exemt war.[32] Diesen Kampf gewann letztendlich der Bischof. Wo Lioba in diesem Streit stand, ist aus den Quellen – auch der Biografie des Rudolf von Fulda – nicht zu erschließen. Allerdings wurde ihr kirchenpolitischer Ansatz, Frauen aktiv in die Mission und in die kirchliche Arbeit einzubeziehen, zunehmend durch die von Rom vorgegebene Theologie und das von Männern dominierte Feld obsolet. Der theologisch-kirchenpolitische Ansatz von Lioba wurde also zunehmend zum Störfaktor.[33]
Rudolf von Fulda reagiert darauf zum einen mit der Legende eines strengen benediktinischen Lebens der Lioba in ihrer Jugend im Kloster Wimborne, zum anderen mit einer entsprechend zurechtgeschriebenen Schilderung des Klosterlebens in Tauberbischofsheim.
Für diese Zeit gibt es einige von der Heiligenvita unabhängige Dokumente, die die von Rudolf von Fulda geschilderten Fakten stützen.[34]
Bei der Beerdigung von Lioba missachtete Abt Baugulf von Fulda den ausdrücklichen Wunsch von Bonifatius, dass Lioba in sein Grab gelegt werde. Dass hier ein Gebot des Bonifatius missachtet wurde, war offensichtlich allgemein bekannt und Rudolf von Fulda konnte nicht umhin, davon zu berichten. Er begründet das – völlig unglaubwürdig – damit, dass aus Respekt vor Bonifatius angeblich nicht gewagt wurde, dessen Grab zu öffnen.[35][Anm. 1] Auch kurz vor Abschluss seines Berichts kommt er noch einmal auf die Peinlichkeit zurück und betont, dass beide – Bonifatius und Lioba –, wenn auch nicht im selben Grab, so doch am gleichen Ort beerdigt seien.[36]
Für die Wirkung Liobas nach ihrem Tod gab es zahlreiche noch lebende Augenzeugen, so dass die Möglichkeiten, hier redaktionell in das tatsächliche Geschehen einzugreifen, gering waren. Das hat zur Folge, dass die Zahl der berichteten Wunder auf zwei sinkt. Die dazu geschilderten Details dürften allerdings sehr nahe an der Realität liegen. Zum einen berichtet Rudolf von Fulda, wie ein eiserner Ring, der den Arm eines Mannes umschloss,[Anm. 2] sich löste, als er am Grab der heiligen Lioba betete.[37] Zum anderen berichtet Rudolf von Fulda von einem spanischen Pilger, der ein Nervenleiden hatte – er zitterte unentwegt. Als er an den Gräbern der Heiligen Bonifatius und Lioba betete, erschienen sie ihm und er wurde geheilt.[38] Zeuge des Geschehens war ein alter Mönch namens Firmadus, der den Pilger dazu befragte. Dieser berichtete, dass ein alter Bischof und eine junge Nonne gemeinsam die Heilung bewirkt hätten. Firmadus starb 836.[39] Das Geschehen fand also wohl kurz zuvor und damit auch nur wenige Jahre vor dem Zeitpunkt statt, zu dem es Rudolf von Fulda aufschrieb.
Rudolf von Fulda kann so nicht umhin, einerseits berichten zu müssen, dass die von Bonifatius gewünschte gemeinsame Grablege mit Lioba von seinem Nachfolger verhindert wurde, andererseits aber beide Heilige gleichwohl in trauter Gemeinsamkeit Wunder vollbrachten – ein kaum aufzuhebender Widerspruch. Das weist deutlich darauf hin, dass die getrennte Grablege ein politischer Akt war, der die inzwischen als unkonventionell erachtete Lebensweise und Haltung der heiligen Lioba nicht durch eine gemeinsame Bestattung aufwerten sollte,[40] dass aber andererseits Lioba mit ihren Handlungen und ihrer Haltung zur Stellung der Frau – auch in der Kirche – viel näher an den Realitäten in der heimischen Bevölkerung lag als die aus Rom importierten Ansichten. Dies machte ihre Verehrung attraktiv – besonders für Frauen. Diese Verehrung setzte dann auch schon kurz nach ihrem Tod ein.
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