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Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Rügeverkümmerung veränderte eine über 100-jährige Rechtsprechung, die seit der Strafprozessordnung (StPO) von 1877 bestand. Danach konnte das Protokoll eines Strafprozesses nach Erhebung einer Verfahrensrüge insoweit nicht mehr wirksam berichtigt werden.
Rügeverkümmerung | ||||
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verkündet 23. April 2007 | ||||
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Amtliche Leitsätze | ||||
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Richter | ||||
Hirsch, Rissing-van Saan, Nack, Basdorf, Häger, Maatz, Wahl, Bode, Kuckein, Pfister, Becker | ||||
Angewandtes Recht' | ||||
Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz, § 274 StPO |
Maßgeblich ist die Entscheidung für Fälle, in denen ein Verfahrensfehler tatsächlich nicht vorliegt, er aber unerschütterlich beurkundet wird und letztlich für die Frage, ob die Hauptverhandlung gegen einen Angeklagten bereits deswegen wiederholt werden muss.
Je nach Fehlerart kann sich dies – wie vorliegend etwa beim Verlesen des Anklagesatzes – auf den Strafklageverbrauch auswirken.
Der Entscheidung lag ein Urteil des Landgerichts zugrunde, durch das der Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten verurteilt worden war. Nach den Urteilsfeststellungen hatte er in einem Oktoberfestzelt einem anderen Mann mit einem schweren gläsernen Krug zweimal wuchtig auf den Hinterkopf und einmal in den Nackenbereich geschlagen.
Der Angeklagte hatte gegen das Urteil das Rechtsmittel der Revision eingelegt und beanstandete das Verfahren vor der Strafkammer des Landgerichts als fehlerhaft. Er behauptete, in der Hauptverhandlung habe der Staatsanwalt nicht den Anklagesatz verlesen und damit gegen zwingendes Verfahrensrecht verstoßen. Dies ergebe sich unwiderlegbar aus dem Hauptverhandlungsprotokoll, das vom Vorsitzenden Richter der Strafkammer und der Urkundsbeamtin erstellt wurde. Erst nachdem der Angeklagte mit der Revision dies gerügt hatte, haben der Vorsitzende Richter und die Urkundsbeamtin das Hauptverhandlungsprotokoll dahin berichtigt, dass der Anklagesatz verlesen worden sei. Die Urkundsbeamtin hatte auf einen ihr bei der Fertigung der Protokollreinschrift unterlaufenen Übertragungsfehler aus den teilweise stenographischen Aufzeichnungen während der Hauptverhandlung verwiesen. Vor der Protokollberichtigung hatte der Vorsitzende dienstliche Stellungnahmen der anderen Richter und des Staatsanwalts eingeholt. So hatte ein beisitzender Richter dahingehend Stellung genommen, dass er sich deswegen so genau an die Verlesung des Anklagesatzes erinnern könne, weil die von der Staatsanwaltschaft vorgenommene rechtliche Bewertung des Tatgeschehens als versuchter Totschlag Unmutsäußerungen im Publikum ausgelöst habe.
Auch der Verteidiger hatte der Protokollberichtigung nicht substanziiert widersprochen.
Gemäß § 274 StPO können die wesentlichen Förmlichkeiten der Hauptverhandlung nur mittels des Protokolls bewiesen werden. Seine Beweiskraft kann nur durch den Beweis der Fälschung erschüttert werden. Die nachträgliche Berichtigung einer fehlerhaften Protokollierung durch die Protokollierenden (i. d. R. Vorsitzender Richter und Urkundsbeamter) war nach bisheriger Rechtsprechung nicht zulässig, wenn sie einem erhobenen Rechtsmittel den Boden entziehen würde (sog. Verbot der Rügeverkümmerung).
Der 1. Strafsenat wäre auf Grund dieser Rechtsprechung gehalten gewesen, das Urteil wegen eines tatsächlich nicht geschehenen Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen, obwohl im angefochtenen Urteil keine weiteren revisiblen Fehler vorhanden waren.
Der 1. Strafsenat wollte die bisherige Rechtsprechung aufgeben und diese Rechtsfrage anders entscheiden. Auf Anfrage bei den anderen Senaten des Bundesgerichtshofs wollten sich ihm jedoch nicht alle anschließen. Zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung muss in solchen Fällen die Rechtsfrage zur Entscheidung dem Großen Senat für Strafsachen vorgelegt werden, der in diesem Fall aus 11 Richtern bestand.
Die Entscheidung über die eingelegte Revision trifft danach der 1. Strafsenat unter Beachtung der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen.
Der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen liegen folgende Erwägungen zugrunde:
Diese Änderung der Rechtsprechung muss die Rechtsmittelbefugnis dennoch absichern:
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