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Werke aus dem russischen Sprachraum Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Der Begriff russischsprachige bzw. russische Literatur bezeichnet die literarischen Werke aus dem russischen Sprachraum der Vergangenheit und Gegenwart. Zur russischen Literatur werden auch nicht-dichterische Werke mit besonderem schriftstellerischem Anspruch gezählt, also Werke der Geschichtsschreibung, der Literaturgeschichte, der Sozialwissenschaften oder der Philosophie, wie auch Tagebücher oder Briefwechsel.
Die altrussische Literatur ist im mittelalterlichen byzantinischen Schrifttum verwurzelt und wurde vorwiegend auf Altostslawisch verfasst. Es wurden häufig religiöse Themen aufgegriffen, wobei besonders das Leben der Heiligen (жития святых) ein populäres Motiv war. Oftmals sind die Autoren der Werke heute nicht mehr bekannt. Beispiele hierfür sind z. B. das Igorlied oder Das Beten Daniels des Gefangenen.
Zu den bekanntesten und erfolgreichsten russischen Schriftstellern vor Puschkin zählen Gawriil Derschawin (1743–1816) und Nikolai Karamsin (1766–1826).
Die literarische Epoche des Klassizismus bildet einen Übergang zwischen der barocken Literatur und dem Sentimentalismus. Der Begriff leitet sich aus dem lat. „classicus“ und „classici“ ab und erfährt eine metaphorische Begriffserweiterung zu „vorbildlich“. So wie die französische Klassik die Antike einst als Vorbild betrachtete, so wurde auch in Russland von einigen Autoren eine Mimesis der „klassischen“ Vorbilder gefordert. Da aber die Antikenbezogenheit kein wesentliches Merkmal des russischen Klassizismus war, bezeichnet man die Epoche auch als „Pseudoklassizismus“. Der russische Klassizismus setzt wesentlich später ein als die französische Klassik. Man betrachtet die klassizistische Epoche in Russland etwa ab dem Jahre 1740. Diese dauert etwa bis 1780 an. Die unterschiedliche zeitliche Entwicklung der Epochen ist geschichtlich geprägt, denn erst sehr spät, mit der „Öffnung des Fensters“ nach Europa durch Peter I., konnte die westliche Literatur rezipiert werden.
Die Literatur des Klassizismus war zunächst eine Übersetzungsliteratur. Viele Werke westlicher Autoren wurden ins Russische übersetzt oder adaptiert, in dem sie russifiziert wurden. Die übersetzten Werke kamen aus Holland, Deutschland und Frankreich (nach 1730). An ihrer Eigenständigkeit fehlte es also der russischen Literatur zunächst. Aber auch aufgrund der mangelnden Infrastruktur und der gesellschaftlichen Gegebenheiten (Mangel an Druckereien, geringe Anzahl der Leserschaft aufgrund des Analphabetismus) konnten sich die Werke nur sehr schwer verbreiten. Meistens waren diese von adligen Autoren für den Adel und für den Hof geschrieben. Wichtige Autoren und Begründer des Klassizismus waren Wassili Trediakowski, Michail Lomonossow und Alexander Sumarokow.
Wassili Schukowskis Übersetzung von Thomas Grays Elegy Written in a Country Church Yard (1802) bildete den Auftakt zur russischen Romantik. Der besonders durch Versepen (Ruslan und Ljudmila, 1820; Eugen Onegin, 1831) hervorgetretene Alexander Puschkin (1799–1837) hat als Romantiker die neuere russische Literatur begründet, indem er mit der Tradition des kirchenslawischen Schreibens brach und eine russische Literatursprache schuf, die gleichzeitig schön und an der Sprache der Bauern orientiert war.[1] Literatur wurde dadurch allen Bevölkerungsschichten zugänglich, und die folgende Ära wird auch als „goldenes Zeitalter“ der russischen Literatur bezeichnet. Auf Puschkin folgten romantische Dichter wie Fjodor Iwanowitsch Tjuttschew (1803–1873) und Michail Lermontow (1814–1841). Mit Ein Held unserer Zeit (1840) schuf letzterer den ersten russischen Prosaroman, der literarisch eigenständig und nicht mehr an französische Vorbilder angelehnt war.[2]
Während die Romantiker, die in Russland als die eigentlichen Großen der Nationalliteratur gelten, im Ausland wenig gelesen wurden und werden, sind andere bedeutende Schriftsteller aus dieser Epoche auch im Ausland weithin rezipiert worden. Der erste in dieser Reihe, Nikolai Gogol (1809–1852), war im Grotesken zu Hause und nahm in seinen Romanen und Novellen (Die Nase, 1836; Die toten Seelen, 1842) viele Motive vorweg, die für die moderne Literatur später typisch wurden, wie die Kollision zwischen Mensch und einer undurchschaubaren Bürokratie, unmotivierte Schuldkomplexe oder die Zuflucht, die die überforderten Figuren in ausufernden und wütenden Deutungen ihrer sinnlosen Erlebnisse suchen. Afanassi Fet (1820–1892) hinterließ ein dichterisches Werk, das ebenso wie die Arbeiten Tjuttschews dem L’art pour l’art zuzurechnen ist und das trotz seines geringen Umfangs großen Einfluss auf die späteren Dichter der Dekadenz und des Symbolismus genommen hat. Iwan Gontscharow (1812–1891) veröffentlichte 1859 seinen einflussreichen Roman Oblomow, der – wie Hans J. Fröhlich aufwies – das Lebensgefühl der russischen Nihilisten analysiert und pointiert zum Ausdruck gebracht hat.[3]
Als die Titanen der neueren russischen Romanliteratur gelten Fjodor Dostojewski (1821–1881; Schuld und Sühne, 1866; Die Brüder Karamasow, 1880) und Lew Tolstoi (1828–1910; Krieg und Frieden, 1869; Anna Karenina, 1878; Auferstehung, 1899): beide Psychologen, die mit literarischen Mitteln ausgelotet haben, welche Konflikte dem Menschen am Anbruch der Moderne widerfuhren: Dostojewski als Patriot und ganz auf dem Boden der russischen Orthodoxie, spannungshaft und dramatisch und wie kein anderer an den zeitbedingten Verwerfungen der Seele des Individuums interessiert. Tolstoi als großer Moralist und realistischer Porträtist gesellschaftlicher Verhältnisse und zwischenmenschlicher Beziehungen; seine großen Themen sind die herrschenden Konventionen, die Kultur mit ihren Institutionen und die Sexualität, die er alle drei immer wieder geißelt, weil sie den Menschen als geistiges Wesen von sich selbst entfremden. Zusammen mit Iwan Turgenew (1818–1883; Väter und Söhne, 1861) werden diese Autoren aus westlicher Sicht oft als Dreigestirn wahrgenommen, wobei Turgenews Werke – auch seine Romane – stärker lyrisch geprägt, weltoffener, liberaler und weniger belehrend und dogmatisch sind als die Arbeiten Tolstois und Dostojewskis.[4] Die russischen Zeitgenossen jedoch empfanden weniger den meist im Ausland lebenden Turgenew, als vielmehr Nikolai Leskow (1831–1895) als den dritten der ganz Großen. Anders als bei den drei Vorgenannten lag Leskows Stärke nicht in Romanen, sondern in seinen fabulierenden Erzählungen, die auf Märchen, Volkserzählungen, Legenden und Anekdoten gründeten.[5]
Neben Turgenew und dem späteren Anton Tschechow gehört besonders Alexander Ostrowski zu den drei großen Dramatikern der späten romantischen Epoche, er machte sich vor allem um die russische Komödie und das Volksstück große Verdienste.
Unter den Lyrikern des russischen Realismus ist vor allem Nikolai Nekrassow (1821–1878) zu nennen.
Der größte Dramatiker der Zeit war Anton Tschechow (1860–1904; Die Möwe, 1895; Drei Schwestern, 1901; Der Kirschgarten, 1903), der auf realistische und tragikomische Weise die Banalität des Provinzlebens und die Vergänglichkeit des Kleinadels, und auf allgemeinerer Ebene den Verlust der Heimat, menschlicher Beziehungen und des Selbst gezeigt hat.[6]
Die ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts gelten in der russischen Literatur als Silbernes Zeitalter. Zu ihren wichtigsten Vertretern zählen Alexander Blok, Iwan Bunin und Nikolai Gumiljow. Expressiv-irrationale Erzählungen und Theaterstücke schrieb Leonid Nikolajewitsch Andrejew. Der wichtigste literarische Vertreter der frühen Avantgarde war Andrej Belyj, der zu den Begründern des Symbolismus in der russischen Literatur zählte. Er arbeitete mit typographischen Elementen und Figurengedichten.
In der Sowjetzeit von 1917 bis 1991 entstand eine eigene Ausprägung der Literatur. Maxim Gorki, Nobelpreisträger Michail Scholochow, Walentin Katajew, Alexei Tolstoi, Wladimir Majakowski, Tschingis Aitmatow oder Ilf und Petrow wurden bedeutende Vertreter der Sowjetliteratur. In der Kinderliteratur sind Samuil Marschak, Alexander Wolkow, Nikolai Nossow oder Kornei Tschukowski nennenswert. Weitere bekannte Autoren der Epoche sind Anatoli Pristawkin und Walentin Rasputin.
Während der Sozialistische Realismus in der Sowjetunion offiziell gefördert wurde, setzten einige Schriftsteller wie Michail Bulgakow, Boris Pasternak, Andrei Platonow, Ossip Mandelstam, Isaak Babel und Wassili Grossman die Tradition der klassischen russischen Literatur entgegen dem sowjetischen Ideal fort. Häufig wurden ihre Werke erst Jahrzehnte später und in einer zensierten Version veröffentlicht. Die Serapionsbrüder um Nikolai Nikitin und Konstantin Fedin bestanden auf dem Recht, eine eigenständige Literatur unabhängig von der politischen Ideologie hervorzubringen, was sie in Konflikt mit der Regierung brachte. Ebenso wenig tolerierten die Behörden die teils symbolistische, teils experimentell-futuristische Kunst der sog. Oberiuten, der Mitglieder der avantgardistischen Vereinigung OBERIU, die 1930 verboten wurde.
Die Bezeichnung Sowjetliteratur, die oft als synonym für die neuere russische Literatur verwendet wurde, ist als politischer Terminus jedoch nicht geeignet, das gesamte Schaffen der Epoche zu bezeichnen, da sich die Haltung der offiziellen Instanzen den Autoren gegenüber rasch wandelte und sie explizit die Exil- und die inoffizielle Inlandliteratur ausschließt. Insofern ist der sprachlichen Definition (russische, ukrainische usw. Literatur) der Vorzug zu geben.
Als eines der wichtigsten Werke der 1940er und 1950er Jahre kann Konstantin Paustowskis sechsbändige Autobiographie Erzählungen vom Leben (Повесть о жизни) gelten, das mit seinen lyrischen Landschaftsbeschreibungen in der Tauwetter-Periode nach Stalins Tod für viele Autoren zum Vorbild wurde. Diese Periode erhielt ihren Namen von dem 1954 erschienenen gleichnamigen Roman Ilja Ehrenburgs (1954), der sich gegen Zynismus und Anpassung in Beruf und Kunst richtet. 1956 bis 1961 kam es zu einer kurzen Blüte der russischen Literatur; auch Formexperimente waren wieder zugelassen. Wladimir Tendrjakow, einer der frühen und wichtigsten Tauwetter-Schriftsteller, lässt in Die Nacht nach der Entlassung die Klassenbeste bei der Abschlussfeier Schule und Lehrer anklagen. Wladimir Dudinzews Roman Der Mensch lebt nicht vom Brot allein (1956; dt. Übersetzung 1958) erregt Aufsehen. Auch der Sibirier Wiktor Astafjews Roman Der Schnee taut (1958) zählt zu den bekannten Werken der Tauwetterperiode. Jurij Kasakow wurde als Autor lyrischer Kurzgeschichten bekannt.
Doch in der post-stalinistischen Sowjetunion der 1960er Jahre wurde der Sozialistische Realismus literarische Norm. Schriftsteller wie der Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn, Wenedikt Jerofejew (Die Reise nach Petuschki, erschienen in Israel 1973, dt. 1978) oder Leonid Zypkin setzten die Tradition der Untergrundliteratur fort, die oftmals mittels „Samisdat“ verbreitet wurde. Darüber hinaus bewirkten die sowjetischen Behörden beim Nobelpreiskomitee, dass nicht Paustowski den Literaturnobelpreis 1965 bekam, sondern der loyale Michail Scholochow.
Etwa seit 1969 setzte die Auswanderung russischer (bzw. sowjetischer) Intellektueller ein. Emigrierte Schriftsteller wie Nobelpreisträger Iwan Bunin, Alexander Kuprin, Andrei Bely, Marina Zwetajewa oder der bereits 1917 geflohene Vladimir Nabokov waren im Exil erfolgreich. Allerdings zerbrach die Solidarität der Oppositionellen im Ausland rasch; die Zwistigkeiten zwischen ihnen nahmen zu. Viele der neuen Emigranten wie Wladimir Jemeljanowitsch Maximow, Redakteur der Zeitschrift Kontinent, übernahmen die Deutungen der „alten“ monarchistisch-religiös geprägten, teils fanatischen Exilanten von 1917.[7]
Seit Ende der 1960er Jahre tritt der Alltag in der russischen Literatur in den Vordergrund, die sachliche Dokumentation, oft auch des Belanglosen, gepaart mit psychologischer Analyse und stilistischem Konservatismus. Tschechow ist das große Vorbild dieser Phase. Das lyrische Idyll und der Rückzug aufs Land spielen eine große Rolle – z. B. bei Sergej Nikitin oder Boris Moschajew –, Themen der Stadt und vor allem die Industrie kommen hingegen seltener vor, was wohl eine Reaktion auf die heroischen Aufbauepen der 1940er Jahre und das beherrschende Thema der 1950er Jahre – den Großen Vaterländischen Krieg – darstellt.[8] Eine der Ausnahmen stellte die 1969 veröffentlichte Erzählung Woche für Woche[9] über den harten Alltag berufstätiger Mütter in Form eines (fiktiven) Wochentagebuchs von Natalja Baranskaja dar, die erst nach ihrer Pensionierung mit dem Schreiben begonnen hatte.
In keine Schublade passt der wandlungsfähige Lyriker und Prosaist Jewgeni Jewtuschenko. Die literarischen Genres reichten vom klassischen realistischen Roman bis zur Science Fiction, deren bekannteste Vertreter die Brüder Boris und Arkadi Strugazki sind. Juri Trifonows ästhetisch ausgereifte Werke wurden in den 1970er Jahren wegen der von ihm angeschnittenen, für viele Mitläufer unbequemen moralischen Problematiken viel diskutiert.
In den 1980er Jahren kam es zu einer neuen Auswanderungswelle. Wassili Aksjonow ging 1980 in die USA ins Exil, wo er die Trilogie „Generations of Winter“ (russisch: Московская сага) über die stalinistischen Verfolgungen schrieb, und starb in Frankreich.
Nach dem 8. Schriftstellerkongress 1986 setzte 1987 die Veröffentlichung bisher verbotener Werke der russischen und ausländischen Literatur ein. Auch wurden Leitungspositionen der Literaturzeitschriften umbesetzt. 1987 erschien Anatoli Naumowitsch Rybakows bereits in den 1960er Jahren geschriebener Roman Die Kinder vom Arbat, das die erste Welle der Stalinschen Verfolgungen zum Thema hat. Wassili Semjonowitsch Grossman, der 1959 das Manuskript des Romans Leben und Schicksal über die Massenmorde an Juden in der Ukraine verfasst hatte, erlebte den Druck des Romans, der 1988 erfolgte, nicht mehr. Auch der bis dahin kaltgestellte Dudinzew wurde für seinen zweiten Roman Weiße Gewänder 1988 mit dem Staatspreis der UdSSR ausgezeichnet. Oleg Jermakow (* 1961) zeigt in Winter in Afghanistan (dt. 1991) das Leben der sowjetischen Soldaten in einer Kampfpause im Winter und deutet an, welche Probleme ihnen bei ihrer Rückkehr bevorstehen.
Doch bald richtete sich die Kritik verunsicherter konservativer und nationalistischer Autoren auch gegen die Glasnost-Politik Michail Gorbatschows, die sie für die Ursache der Bedrohung von Kultur und Moral hielten. Die Vertreter der „Dorfprosa“ forderten die Wiedergeburt der russischen Dorfgemeinschaft und kritisierten Rockmusik und „unrussisches Verhalten“.[10]
Nach 1990 wurde die russische Literatur von postmodernen Strömungen dominiert. In den westlichen Ländern ist vor allem Wladimir Sorokin als russischer Vertreter der Postmoderne bekannt. Doch sind wichtige Autoren der Zeit nach 1990 nicht der verspielt-postmodernen Strömung zuzurechnen; einige von ihnen waren bereits im Samisdat und hatten ihre Erfahrungen mit Haft und Psychiatrie gemacht. Psychologische Analysen der Gegenwart liefert Wladimir Makanin, der durch seinen grotesken Roman Underground oder Ein Held unserer Zeit bekannt wurde. Nicht zum Mainstream gehören auch der Lyriker Dmitri Prigow, die in der jüdischen Erzähltradition stehende Ljudmila Ulizkaja, die Autorin des Dekonstruktionsromans Das K.-Monument Marija Sumnina und der populäre Japanologe und Autor historischer Kriminalromane Boris Akunin. Wiktor Pelewins Romane verbinden realistische moderne Motive mit mystischen Elementen und zeichnen eine skurrile und surreale Märchenwelt. Wiktor Jerofejews surrealistische Geschichte Leben mit einem Idioten (1989) über einen mit der Gartenschere verübten Mord aus Eifersucht wurde von ihm zum Libretto der Oper Leben mit einem Idioten von Alfred Schnittke ausgebaut.
Ab dem Jahr 2000 trat eine neue Generation von russischen Autoren auf. Vertreter des „Neuen Realismus“ sind Ilja Stogoff, Sachar Prilepin, Alexander Karasjow, Arkadi Babtschenko,[11] Wladimir Lortschenkow, Alexander Snegirjow und der politische Autor Sergej Schargunow. Wiktorija Tokarewa, die schon 1964 durch ihre Erzählung Ein Tag ohne Lügen bekannt geworden war, danach jedoch wenig publizierte, wandte sich nach 1990 gegen die slawophile Patrioten und Nationalisten, deren antisemitische Ausfälle, zu denen auch Astafjew neigte, und deren Frauenbild.[12] Auch Boris Koswin (* 1955) schildert in seinem Erstlingswerk Die Assimilanten die Strategien und Hindernisse jüdischer Assimilation in einem latent antisemitischen Umfeld. Beide orientierten sich am Vorbild Tschechows, Tatjana Tolstaja hingegen eher an Gogol. Ihre Protagonisten flüchten sich auf der Identitätssuche in die Phantasie und geben sich Tagträumereien hin, Nikolai Schmeljows weibliche Hauptfigur der Erzählung Nächtliche Stimmen (1988) ist dem Alkohol verfallen.
Aufgewachsen in der Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schreiben die neuen Realisten über den vom Kapitalismus geprägten Alltag der heutigen russischen Jugend, jedoch ohne die mystischen Elemente ihrer Vorgänger zu benutzen. Die neue Generation von Autoren ist in einem freien Russland aufgewachsen. Sie haben Fremdsprachenkenntnisse, die den Generationen vorher nicht zugänglich waren, leben mit freier Rede ohne Zensur, bereisen die ganze Welt und können Bücher lesen, die lange Zeit verboten waren.
In ihren Werken zeigen die „neuen Realisten“ die latente Gewalt, die Paradoxien und Lähmungserscheinungen der neuen Gesellschaft auf. Dabei sind wie weder Konformisten noch Rebellen im Sinne des 20. Jahrhunderts (wie etwa die Anarchisten, Hippies, 68er), sondern Autoren, für die eher Gogol als Tschechow das Vorbild darstellt. Sie schreiben und predigen, überlassen aber das „direkte Handeln“ dem Verantwortungsbereich der Zivilgesellschaft.[13] Ihre altbekannten Motive aber beziehen sie oft aus der russischen Literaturgeschichte.
Durch seinen Kurzroman Durst (2002; deutsche Übersetzung 2011), der episodenhaft von der Rückkehr eines vom Tschetschenienkrieg entstellten Menschen in die Gesellschaft handelt, wurde Andrej Gelassimow, ein Meister lakonischer Prosa im Stil J. D. Salingers oder Raymond Carvers, auch in Deutschland bekannt.
Zwischen Hyperrealismus und Surrealismus schwankt der wohl meistgelesene russische Autor der Gegenwart Wiktor Olegowitsch Pelewin, dessen Roman Tolstois Albtraum 2013 auch in deutscher Sprache erschien.
Auch Science-Fiction und fantastische Literatur haben gegenwärtig Konjunktur; ihr bekanntester Vertreter ist durch seine Wächter-Romane bekannt gewordene Sergei Lukjanenko. Der linksnationalistische, an konservativen Werten orientierte Prilepin hält den apokalyptischen Grundzug, wie er sich um 2000 (u. a. im Werk der Pop-Lyrikerin Alina Wituchnowskaja) findet, für ein Merkmal der neueren russischen Literatur.
Von den in der Ukraine lebenden russischsprachigen Schriftstellern verdienen Oleksandr Bejderman, der auch jiddische und ukrainischsprachige Texte verfasst, sowie Andrei Kurkow Beachtung. In Belarus lebt heute die 1948 in der Ukrainischen SSR geborene, in russischer Sprache schreibende Swetlana Alexijewitsch, die für ihre dokumentarische, auf Interviews basierende Prosa über Biographien in der sozialistischen und post-sozialistischen Gesellschaft 2015 den Nobelpreis für Literatur erhielt.
Im westlichen Ausland leben und arbeiten zahlreiche weitere russische Autoren, wie zum Beispiel in Deutschland Boris Falkow, Boris Chasanow, Alexei Schipenko und Julia Kissina, in Italien Nicolai Lilin oder in der Schweiz Michail Schischkin.
In zahlreichen ehemaligen Republiken der Sowjetunion ging nach 1990 die Bedeutung der russischen Sprache und damit der russischen Literatur zurück. Auch in Russland selbst sank das Interesse an Literatur. 1990 verzeichneten Bücher in Russland Auflagen von insgesamt 1,6 Milliarden Büchern. 2004 waren es nur noch 562 Millionen, 2012 noch 540,5 Millionen. Der Anteil der Belletristik fiel, während die Anzahl von Sach- und Lehrbüchern stieg. Auflagenstärkste Autorin war 2004 Darja Donzowa mit 99 Bänden und einer Auflagenstärke von 18,1 Millionen Büchern. Die beiden größten Verlage waren jahrelang EKSMO und AST mit je 7000 bis 8000 Titeln pro Jahr,[14] die 2013 fusionierten.[15]
Da jedoch der Versand von Büchern in entfernte Regionen des riesigen Landes aus logistischen und Kostengründen schwierig ist, hat in letzter Zeit das Internet als wichtiges Medium der Verbreitung von Literatur an Bedeutung gewonnen. Es fungiert als autonomes Experimentierfeld, aber auch als Instrument im Kampf um die Aufmerksamkeit der mediale Elite und der unterhaltungslustigen Massen.[16]
Beachtlich ist auch das Entstehen einer russischsprachigen Literatur in der Diaspora in der Tradition Nabokows.[17]
2012 war Russland das Partnerland der Frankfurter Buchmesse; doch ist es nicht leicht, deutsche Verleger für die Herausgabe der Bücher russischer Autoren zu interessieren. Das hängt auch mit den Imageproblemen des Landes in jüngerer Zeit zusammen. Auch der Mix aus Fantasy und sozialkritischer Gegenwartsliteratur ist für deutsche Lektoren und Leser ungewohnt.[18]
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