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Zusammentreffen zweier gegensätzlicher Pflichten Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Eine Pflichtenkollision liegt im Recht Deutschlands vor, wenn sich jemand gleich mehreren gleichzeitigen und sofort erfüllbaren rechtlichen Handlungspflichten gegenübersieht, aber nur eine davon erfüllen kann.
Der Hispanist Theresius von Seckendorf-Aberdar übersetzte im Jahre 1825 den Pflichtenkonflikt als das Zusammentreffen zweier gegensätzlicher Pflichten,[1] die Brockhaus Enzyklopädie definierte den Begriff 1885 als die Kollision von Pflichten.[2]
Bei der Pflichtenkollision kollidieren mindestens zwei erforderliche Handlungspflichten, wobei die Erfüllung der einen nur auf Kosten der anderen möglich ist. Das handelnde Rechtssubjekt steht vor dem Dilemma einer Auswahlentscheidung. Dabei muss die erfüllte Pflicht gegenüber den nicht erfüllten gleich- oder höherrangiger sein, was sich nach der Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter, dem Umfang des drohenden Schadens, den Chancen und Risiken der gebotenen Handlungen zur Schadensvermeidung, den Duldungspflichten der betroffenen Rechtsgutsträger und der Beziehung des handelnden Rechtssubjekts zum Rechtsgutsträger richtet.[3] Da die Rechtsordnung von Rechtssubjekten nichts Unmögliches verlangen darf, ist die Rechtsfrage zu klären, ob das handelnde Rechtssubjekt bei den nicht erfüllten Handlungspflichten rechtswidrig wegen Pflichtverletzung (zivilrechtlich) oder durch Unterlassung (strafrechtlich) gehandelt hat.
Die rechtfertigende Pflichtenkollision gilt nur bei der Kollision von Handlungspflichten, nicht jedoch bei der Kollision von Handlungs- und Unterlassungspflichten.[4]
Schulbeispiel einer typischen Pflichtenkollision ist der Rettungsschwimmer, der beobachtet, wie gleichzeitig zwei Nichtschwimmer zu ertrinken drohen, aufgrund der unterschiedlichen Entfernung der Opfer zu seinem Standort aber nur einen der beiden zu retten vermag. Das Rechtsgut Leben ist für beide Nichtschwimmer gleich, sodass die Rettung des weniger weit entfernten Opfers geboten erscheint (Chancen und Risiken der gebotenen Handlungen). Der Rettungsschwimmer darf sich für das weiter entfernte Opfer entscheiden, wenn es sich dabei um seinen Sohn handelt; Vorrang genießt hier die elterliche Sorge (§§ 1626 ff. BGB). Sieht sich der Rettungsschwimmer einem ertrinkenden Nichtschwimmer und einer gleich weit entfernten untergehenden Sache gegenüber, muss er sich für den Nichtschwimmer entscheiden, weil das Rechtsgut Personenschaden höher einzustufen ist als der Sachschaden.
Steht ein Arzt zwei akut behandlungsbedürftigen Patienten gegenüber, muss er sich für den mit Lebensgefahr bedrohten auf Kosten des lediglich Leichtverletzten entscheiden (sog. Triage).[5] Praktisches Beispiel ist der Notarzt, der sich bei einem Verkehrsunfall um zwei Verletzte zu kümmern hat. Er muss zunächst den Schwerverletzten behandeln, danach erst den Leichtverletzten.
Bei einer Pflichtenkollision ist stets zu prüfen, ob die Handlungspflichten gleichrangig sind oder nicht. Sind die Pflichten rangverschieden, muss zuerst die höherrangige erfüllt werden. Bei gleichrangigen ist eine der beiden zu erfüllen, es besteht Wahlfreiheit.[6] Erforderlich ist weiter die Kenntnis der rechtfertigenden Lage.[7] Pflichtenkollisionen gibt es im Strafrecht und Zivilrecht.
Treffen zwei oder mehrere rechtliche Handlungsgebote derart zusammen, dass entweder das eine oder das andere erfüllbar ist, liegt eine echte Pflichtenkollision vor, bei welcher der Normadressat bei verschieden wertigen Handlungsgeboten das Höherwertige, bei Gleichwertigkeit das eine oder das andere zu erfüllen hat.[8] Es müssen also wenigstens zwei Handlungspflichten kollidieren, wobei die Erfüllung der einen nur auf Kosten der anderen möglich ist. Eine Pflicht muss erfüllt worden sein.
Umstritten ist, ob der Handelnde im Hinblick auf das Unterlassen der anderen Handlung nur entschuldigt (Entschuldigungsgrund)[9] ist. Die herrschende Meinung nimmt jedoch an, dass der Unterlassende nicht rechtswidrig handelt[10] und deshalb sogar einen Rechtfertigungsgrund besitzt.
Im Zivilrecht kommen Pflichtenkollisionen aus Verträgen oder Rechtspflichten vor, durch die jemand in eine unvermeidbare, unverschuldete Zwangslage geraten kann. Beispielsweise handelt es sich um eine unverschuldete Pflichtenkollision, wenn bei Arbeitnehmern die Arbeitspflicht aus dem Arbeitsvertrag mit einer Fürsorgepflicht (§ 1626 BGB, § 1627 BGB, § 1629 BGB und § 1631 BGB) kollidiert. Auch hier gilt, dass der Arbeitnehmer die höherwertige Pflicht erfüllen darf, ohne dass sich für ihn nachteilige Rechtsfolgen ergeben.[11] Der Arbeitnehmer darf ein Leistungsverweigerungsrecht gemäß § 275 Abs. 3 BGB gegenüber seinem Arbeitgeber geltend machen;[12] bei nur unerheblicher persönlicher Verhinderung behält er seinen Vergütungsanspruch (§ 616 BGB). Eine Arbeitnehmerin kann sich gegenüber der bestehenden Arbeitspflicht auf eine Pflichtenkollision wegen der Personensorge für ihr Kind (§ 1627 BGB) und damit ein Leistungsverweigerungsrecht oder eine Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Arbeitsleistung nur berufen, wenn unabhängig von der in jedem Fall notwendigen Abwägung der zu berücksichtigenden schutzwürdigen Interessen beider Vertragsparteien überhaupt eine unverschuldete Zwangslage vorliegt.[13]
Im Gesellschaftsrecht ergibt sich für den Vorstand einer AG aus § 92 Abs. 3 AktG oder den Geschäftsführer einer GmbH (§ 64 Satz 1 GmbHG) eine Pflichtenkollision, wenn er bei Insolvenzreife der AG/GmbH gemäß dieser Bestimmungen zur Erhaltung der Insolvenzmasse verpflichtet ist und keine Zahlungen mehr leisten darf (Zahlungsverbot), aber bei Wahrnehmung steuer- und sozialversicherungsrechtlichen Pflichten (§ 266a Abs. 1 StGB) als auch bei deren Nichterfüllung eine persönliche Haftung auslöst.[14] Der Bundesgerichtshof (BGH) verneinte zunächst ein deliktisches Verschulden aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 266a StGB, denn die Massesicherungspflicht gemäß § 64 Abs. 2 GmbHG gehe vor.[15] Die Nichtabführung der Arbeitgeberanteile sei während der Dreiwochenfrist gerechtfertigt, sodass keine Pflichtenkollision vorliege.[16] Während der BGH zivilrechtlich nach Fristablauf eine Pflichtenkollision zwischen dem Anspruch aus § 64 GmbHG und dem Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 266a Abs. 1 StGB sah, erblickt er strafrechtlich hierin eine Pflichtenkollision.[17] Eine Pflichtenkollision mit den Wertungsmaßstäben des Insolvenzrechts scheide schon deshalb aus, weil dieses nur für das Insolvenzverfahren selbst gelte, nicht aber ein Rangverhältnis außerhalb der dort geregelten Materie zu begründen vermöge. Entgegen der Auffassung des II. Zivilsenats kollidierten nicht zwei (gleichwertige) zivilrechtliche Ansprüche (§ 64 Abs. 2 GmbHG einerseits und § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 266a Abs. 1 StGB andererseits). Eine unabwendbare Pflichtenkollision sei hier nämlich schon deshalb nicht gegeben, weil sich der Geschäftsführer diesen widerstreitenden Pflichten jederzeit entziehen könnte, indem er einen Insolvenzantrag stelle. Seit 2007 haftet der Geschäftsleiter während der Dreiwochenfrist für die an die Sozial- und Finanzkassen geleisteten Zahlungen nicht mehr.[18]
Der Täter muss im Strafrecht eine der gebotenen Handlungen unterlassen, um überhaupt eine von ihnen vornehmen zu können.[19] Die Erfüllung einer Pflicht führt zum Vorwurf der Unterlassung der anderen Pflicht mit der Folge der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c Abs. 1 StGB). Da durch die Pflichtenkollision ein Rechtfertigungsgrund (oder Entschuldigungsgrund) vorliegt, erfolgt keine Bestrafung. Ein rechtfertigender Notstand liegt nicht vor.
Ein Leistungsverweigerungsrecht wegen unverschuldeter Pflichtenkollision schließt im Arbeitsrecht die Rechtswidrigkeit der Arbeitspflichtverletzung aus,[20] während die nicht zu vertretende Unmöglichkeit (Unvermögen) zu einer Schuldbefreiung führt.
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