Als Abendland oder Okzident (auch der Westen) wurde ursprünglich der westliche Teil Europas bezeichnet, im Wesentlichen also die spätestens im Jahre 476 beim Untergang des Weströmischen Reiches verloren gegangenen lateinischsprachigen römischen Provinzen in Europa. Sie sind einigermaßen deckungsgleich mit dem Sprengel des Patriarchats von Rom.
Der Begriff Abendland ergab sich aus der antiken und mittelalterlichen Vorstellung von Europa als dem westlichsten, der untergehenden Abendsonne am nächsten gelegenen Erdteil. Das ihm entsprechende Antonym ist daher das griechisch-orthodox und islamisch geprägte Morgenland oder der Orient. Die griechisch-orthodoxe Kirche wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch als die morgenländische bezeichnet.[1]
In Zeiten des Kalten Krieges wurde der Begriff teils übereinstimmend mit dem Begriff der westlichen Welt verwendet, d. h. vor allem die alten Mitgliedsländer der Europäischen Union und Nordamerika. Seit der Romantik entwickelte sich vor allem im deutschsprachigen Raum eine besondere Traditionslinie um den Abendlandbegriff, die einen letzten Höhepunkt in einer regelrechten Abendland-Ideologie der 1950er Jahre fand. Seit dem Mauerfall im Jahre 1989 und dem Zerfall der Sowjetunion bezieht sich der Abendlandbegriff nicht mehr nur auf den lateinischen Westteil Europas, sondern auch auf den christlich-orthodoxen Teil Ost- und Südosteuropas bis zum Bosporus. Istanbul wird in diesem Kontext wieder, wie schon zu Zeiten des byzantinischen Reiches, eine kulturelle und wirtschaftliche Brückenfunktion zwischen Abendland und Morgenland bzw. Okzident und Orient zugeschrieben. Mit der Begriffserweiterung auf praktisch ganz Europa wird der Begriff des Abendlandes in erster Linie geographisch verwendet.
Begriffsgeschichte
Im Römischen Reich stand der lateinische Begriff occidens (zu ergänzen: sol, „die untergehende Sonne“) für die westliche Himmelsrichtung. Der Begriff „Abendländer“ für „Okzident“ findet sich erstmals 1529 bei Kaspar Hedio. Martin Luther prägte in seiner Bibelübersetzung dafür den Ausdruck Abend.[2]
Die Abkömmlinge der lateinischen Etyma occidens und oriens werden in unterschiedlichem Maße in den romanischen Einzelsprachen verwendet, wo sie als Richtungsangaben neben germanischen Lehnwörtern stehen, welche durch das Französische vermittelt wurden.[3][4]
Das Wort „sich orientieren“ bzw. „Orientierung“ sind Lehnwörter aus dem Französischen und enthalten den Begriff „Orient“ und bedeuten in erster Linie „sich ausrichten“, „sich zurechtfinden“, wörtlich „sich nach dem Orient ausrichten“. Mit „Orient“ ist der Osten bzw. die Richtung, wo die Sonne aufgeht, gemeint. Die Bezeichnung stammt aus der historischen Darstellung, bei der Karten oft mit Jerusalem oben ausgerichtet wurden. Jerusalem wurde dem Orient bzw. Osten gleichgesetzt. Eine Karte orientieren, hieß also, die Karte so zu drehen, dass der Osten oben war.
Romantik und Historismus
In Deutschland entwickelten, von Novalis durch seine Schrift Die Christenheit oder Europa angeregt, die Brüder August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel eine Europakonzeption, die sich auf kulturelle Traditionen stützte. Das Abendland umfasste ihrer Vorstellung nach alle Länder, die durch ihr romanisches, germanisches und christliches Erbe zu einem einzigen europäischen Kulturraum in Antinomie zu einem islamischen Orient oder Morgenland vereint waren. Besondere Bedeutung maßen sie dabei Karl dem Großen als vermeintlichem Einiger Europas und Herrn über das christliche Abendland zu. Friedrich Schlegel verstand darüber hinaus unter Abendland die kulturelle Einheit der romanischen und germanischen Völker, worunter er vornehmlich Franzosen und Deutsche fasste. Aus der vermeintlichen kulturellen Ähnlichkeit zwischen Deutschen und Franzosen wollte Schlegel eine politische Assoziation erschaffen, vergleichbar dem Verhältnis zwischen Römern und Griechen in der Spätantike.[5] Damit war für Friedrich Schlegel das Abendland, das er auch unter dem Europabegriff fasst, ein Mythos im romantischen Sinn: Europa ist ihm ein kritischer Begriff, anhand dessen er seine eigene Gegenwart mit ihren Nationalismen und dem Krieg gegen Napoleon theoretisch sowie poetisch zu fassen vermag.[6]
Laut Leopold von Ranke habe die abendländische Kultur mithilfe des Humanismus die Spaltung des Corpus Christianum durch die Reformation überstanden und bilde bis in die Moderne die gemeinsame geistige Grundlage Europas. Genauer definiert er das Abendland anhand dreier Kulturerscheinungen: Der griechisch-römischen Antike, dem römischen, d. h. papstzentriertem Christentum und der Kultur der ‚germanisch-romanischen‘ Völker.[7]
Diese Position wurde von Gustav Droysen kritisiert, der darin die kulturhistorische Abwertung der Reformation sah.[8]
Zwischen den Weltkriegen
Kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs veröffentlichte Oswald Spengler sein kulturphilosophisches Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes. In diesem beschreibt er die Bedrohung bzw. den Zerfall der okzidentalischen Kultur, die er in Europa und Nordamerika verortete. Nach Spenglers Geschichtsvorstellung könnten derartige Hochkulturen als Riesenpflanzen angesehen werden, die aus einer mütterlichen Landschaft heraus geboren werden, wachsen, reifen und schließlich eingehen. Er betonte jedoch, dass der Untergang des Abendlandes nicht im Sinne eines Katastrophismus zu verstehen sei. Vielmehr werde der abendländische Kultur-Organismus allmählich durch fremde Zivilisationen abgelöst. Spengler ging davon aus, dass die „russische Kultur“ diese Rolle übernehmen und die Geschichte des dritten Jahrtausends maßgeblich bestimmen werde.
In der Publizistik zwischen den Kriegen lebte der Gedanke eines friedvoll zusammenlebenden abendländischen Reiches wieder auf. Das Wiederanknüpfen an traditionelle europäische Narrationen und Symbole seit dem Ende der Weimarer Republik führte in der Zeit des Nationalsozialismus zur Verbreitung einer spezifischen „abendländischen Identität“. Diese setzte sich insbesondere aus antiken (griechisch-römischen), germanischen und romanischen Elementen zusammen.
In der nationalsozialistischen Propaganda spielte das Ideologem des Abendlandes eine geringere Rolle als in den Jahren vor 1933. Wenn es benutzt wurde, war es mit Vorstellungen von Reich oder Mitteleuropa konnotiert und rassistisch aufgeladen.[9] Nach der Schlacht von Stalingrad erlebte es eine neue Konjunktur: Nun erschien der Nationalsozialismus als Rettung der abendländischen Kultur vor der herandrängenden Gefahr aus dem Osten hingestellt. Zu diesem Zwecke wurde auch versucht, Persönlichkeiten aus Mythos und Geschichte wie Leonidas I., Hagen von Tronje oder Karl den Großen als Vorläufer einer gesamteuropäischen Gesellschaft darzustellen.[10] Gleichzeitig dienten die Gemeinsamkeiten, die den „abendländischen“ Europäern zugeschrieben wurden, als Abgrenzungsmerkmal, insbesondere gegenüber Fremd- oder Feindbildern, die von der slawischen, russisch-asiatischen und besonders von der jüdischen Kultur gezeichnet wurden. Als Legitimationsgrundlage für Angriffskriege und Deportationen konnten diese Feindbilder einem Selbstbild der Zugehörigkeit zu einer arisch-abendländischen Kultur gegenübergestellt und in die vorherrschenden Ideologien von Rasse, Blut und Boden sowie in nationalsozialistische Europapläne integriert werden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und 1950er Jahre
Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann die Abendlandidee in Westdeutschland zeitweise an erheblichem Einfluss. Konservativ-bürgerliche Werte sollten nach der Katastrophe der Hitler-Diktatur hier eine neue Verankerung finden und sowohl gegen die als seelenlos und individualistisch bezeichnete Moderne westeuropäischer oder amerikanischer Prägung in Stellung gehen als auch gegen den Kollektivismus und Totalitarismus der Sowjetunion. Auch von der als nihilistisch verstandenen eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit grenzte die Abendlandideologie sich ab. In diesem Sinne bekannte sich Bundeskanzler Konrad Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung am 20. September 1949 ausdrücklich zum „Geist christlich-abendländischer Kultur“ als Fundament seiner Kanzlerschaft.[11]
Mit noch stärkerer Emphase erklärte Bundespräsident Theodor Heuss am 16. September 1950 bei einer Schulfeier in Heilbronn:
Politisch wurde die Abendlandideologie in den vierziger und fünfziger Jahren in der Schulpolitik eingesetzt, etwa beim Kampf für die Erhaltung des dreigliedrigen Schulsystems, für die Bekenntnisschulen, für das humanistische Gymnasium und den altsprachlichen Unterricht.[13]
Auch in anderen Bereichen spielte das Abendlandkonzept eine Rolle: Adenauers Außenpolitik mit ihren Schwerpunkten auf Westbindung, NATO-Mitgliedschaft, europäische Einigung, deutsch-französische Freundschaft und Antikommunismus ließ sich in die traditionelle Abendlandidee einbinden. Dadurch konnten auch national-konservative Kreise innerhalb der CDU mit dem Gedanken einer supranationalen Zusammenarbeit der europäischen Staaten versöhnt werden.[14] Danach erschien das karolingische Reich als vorweggenommene Verwirklichung der europäischen Ideale der Nachkriegszeit. Ausdruck dieser Vorstellungen war die Stiftung des Aachener Karlspreises. Aber auch die Geschichtswissenschaft und der Geschichtsunterricht in den westdeutschen Schulen der Nachkriegszeit vermittelten ein Mittelalterbild, das eher den europäischen Wunschvorstellungen der Bundesregierung entsprach als der historischen Wirklichkeit.
Von geringerer Bedeutung war die sogenannte Abendlandbewegung um die Zeitschrift „Neues Abendland“. Hier versuchten orthodox-katholische hochadlige Kreise der katholisch-konservativen Intelligenz zu mobilisieren. „Abendland“ bedeutete in diesem Zusammenhang vor allem Wiederbelebung des Christentums, Abgrenzung gegenüber der Sowjetunion und sozialpolitischer Paternalismus. Auch ständestaatliche Ideen spielten eine Rolle,[15] die angeblich christlichen Diktatoren Francisco Franco und António de Oliveira Salazar wurden positiv rezipiert.[16] Da die Abendlandbewegung somit offen antidemokratische Prinzipien propagierte und es ihr nicht gelang, sich abseits der elitären Führungsgestalten eine breite Basis zu verschaffen, versank sie Mitte der 1960er Jahre in der Bedeutungslosigkeit.
Da das Reich Karls des Großen nur bis zur Elbe gereicht hatte, verstanden Teile der damaligen Opposition diese abendländische Konzeption als Abwendung vom Ziel der deutschen Wiedervereinigung. Doch auch diese letzten, politisch relevanten Diskussionen über die Bedeutung des Begriffs Abendland versandeten in den 1960er Jahren ergebnislos.
Gegenwart
Der Begriff „Abendland“ wurde bis zum Ende des Kalten Krieges in erster Linie geografisch verwendet. Nach der Katastrophe des Dritten Reiches haben sich vor allem um Aussöhnung bemühte Kreise der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit zur Betonung der gemeinsamen Wurzeln von Christentum und Judentum den Begriff des „christlich-jüdischen Abendlandes“ geprägt. Der Begriff wird aktuell verwendet, um eine eigene westliche kulturelle Identität vom Islam abzugrenzen.[17] Im nationalkonservativen, rechtspopulistischen oder rechtsextremen Diskurs wird behauptet, das ggf. als „christlich“ oder „jüdisch-christlich“ attribuierte Abendland müsse gegen eine angeblich drohende Islamisierung verteidigt werden. Unter anderem entstand 2014 die Bewegung „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA). Nach Ansicht des Berliner Antisemitismusforschers Wolfgang Benz ist der Begriff „jüdisch-christliches Abendland“ allerdings irreführend: Tausend Jahre lang habe das christliche Abendland, unter anderem mit der Gegenüberstellung von Ecclesia und Synagoge, alles daran gesetzt, die Juden auszugrenzen und als Sündenböcke zu diskriminieren. Deshalb sei die verbreitete Vorstellung einer Symbiose von Juden und Nicht-Juden falsch: Vielmehr würden „Muslimfeinde ein christlich-jüdisches Abendland konstruieren, das es nie gegeben hat“.[18] Angesichts dieser Frontstellung sieht der amerikanische Islamwissenschaftler Carl W. Ernst eine konstruktive Perspektive in einem ernsthaften diskursiven Prozess der Suche nach den verbindenden humanitären Grundlagen.[19]
Kritik
Edward Said kritisiert neben dem Begriff des Orient auch den Begriff des Okzident. Beiden Begriffen unterstellt Said, dass sie über keine eigenständige Ontologie verfügen, dass sie also konstruiert seien. Das Gegensatzpaar Okzident/Orient erfülle dabei den Zweck, sich vom jeweils anderen abgrenzen zu können, um dadurch eine eigene Identität zu gewinnen. Dies führt laut Said auch dazu „dass sich diese allmächtigen Fiktionen leicht in den Dienst der Manipulation und der Organisation kollektiver Leidenschaften stellen lassen“.
Laut dem Historiker Wolfgang Benz wurde der Begriff Abendland in der lateinischen Christenheit als „Kampf- oder Ausgrenzungsbegriff“ gegenüber äußeren Feinden wie Byzanz oder dem Islam verwendet. Dabei habe aber ein einheitliches christliches Abendland nie existiert, sondern staatliches Machtkalkül eine größere Rolle als der Glaube gespielt. Der Begriff habe in jüngerer Zeit an Bedeutung verloren, bis ihn die Protestbewegung „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ wiederaufgegriffen habe.[20] Auch der christliche Religionsphilosoph Bernd Irlenborn kritisiert die Vorstellung eines christlichen Abendlandes in der heutigen Zeit als anachronistisch und deplatziert. Die christliche Prägung Europas sei angesichts des steigenden Säkularismus zur bloßen erinnerungspolitischen Erbmasse geschrumpft. Wie christlich Europa in Zukunft noch ist, hängt für Irlenborn allein von der Glaubwürdigkeit der Kirche und dem gesellschaftlichen Engagement der Christen ab.
Literatur
- Vanessa Conze: Abendland, in: Europäische Geschichte Online, hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (Mainz), 2012, Zugriff am 8. März 2021 (pdf).
- Richard Faber: Das ewige Rom oder: die Stadt und der Erdkreis. Zur Archäologie „abendländischer“ Globalisierung. Königshausen und Neumann, Würzburg 2000, ISBN 3-8260-2034-0.
- Richard Faber: Abendland: Ein politischer Kampfbegriff. Hildesheim 1979; 2. Auflage: Philo, Berlin/Wien 2002 (= Kulturwissenschaftliche Studien. Band 10), ISBN 3-86572-251-2.
- Michael F. Feldkamp: Was ist christliches Abendland? In: Ders.: Reichskirche und politischer Katholizismus. Aufsätze zur Kirchengeschichte und kirchlichen Rechtsgeschichte der Neuzeit (= Propyläen des christlichen Abendlandes. Band 3). Patrimonium-Verlag, Aachen 2019, S. 11–17, ISBN 978-3-86417-120-8.
- Heinz Herz: Morgenland – Abendland. Fragmente zu einer Kritik abendländischer Geschichtsbetrachtung. VOB Koehler & Amelang, Leipzig 1963.
- Heinz Hürten: Der Topos vom christlichen Abendland in Literatur und Publizistik nach den beiden Weltkriegen. In: Albrecht Langner (Hrsg.): Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800. Paderborn [u. a.] 1985, S. 131–154.
- Otto Kallscheuer: Zur Zukunft des Abendlandes. Essays. zu Klampen Verlag, Springe 2009, ISBN 978-3-86674-040-2.
- Oskar Köhler: Abendland. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE). Band 1, de Gruyter, Berlin / New York 1977, ISBN 3-11-006944-X, S. 17–42.
- Dagmar Pöpping: Abendland. Christliche Akademiker und die Utopie der Antimoderne 1900–1945, Berlin 2002, ISBN 3-932482-71-9.
- James G. Carrier (Hrsg.): Occidentalism: Images of the West. Oxford University Press, Oxford 1995, ISBN 978-0-19-159084-9.
- Bernd Irlenborn: Europa als christliches Abendland? In: Internationale Katholische Zeitschrift „Communio“ 47 (2018), 585–595. ISSN 1439-6165
Weblinks
- Jasper M. Trautsch, Abendland/Westen in: Ernst Müller, Barbara Picht, Falko Schmieder (Hg.): Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur historischen Semantik in Deutschland, Schwabe Verlag Basel, Berlin
Einzelnachweise
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