Kreuzcousinenheirat bezeichnet ethnosoziologisch die Cousinenheirat eines Mannes mit seiner kreuzverwandten Cousine: die Verwandtenheirat mit der Tochter seiner Tante väterlicherseits (der Vaterschwester) oder mit der Tochter seines Onkels mütterlicherseits (des Mutterbruders, Oheims).[1] Die Kreuz-Verwandtschaft besteht darin, dass die eine Mutter und der andere Vater beider Ehepartner Geschwister unterschiedlichen Geschlechts sind. Demgegenüber sind bei einer Parallelcousinenheirat zwei Elternteile der Ehepartner Geschwister gleichen Geschlechts (Parallelverwandtschaft): meistens zwei verbrüderte Väter (siehe Bint-ʿamm-Heirat), seltener zwei verschwisterte Mütter.
Im folgenden Schaubild sind für den Sohn nur zwei Töchter der insgesamt vier Elterngeschwister kreuzverwandt und deshalb als Ehepartner interessant:
In der Mitte der Anordnung steht die Kernfamilie aus Vater, Mutter und Sohn, daneben die Geschwister der Eltern mit ihren Töchtern, den Cousinen des Sohns; der Sohn ist seinerseits als Kreuzcousin der mögliche Ehepartner für seine beiden Kreuzcousinen, wobei die Entscheidung für die Tochter seiner Vaterschwester oder seines Mutterbruders vom jeweiligen kulturellen Hintergrund abhängt.
Im Falle einer Tochter (statt des abgebildeten Sohnes) ändert sich nichts im Schaubild außer dem Geschlecht der Partner: Für sie kommen die Kreuzcousins in Frage, die Söhne von Kreuztante oder Kreuzonkel.
Die Heirat der Vaterschwester-Tochter ist bei vielen der etwa 160 Ethnien, die sich nach der mütterseitigen Abstammung organisieren (matrilinear),[2] die empfohlene oder sogar vorgeschriebene Heiratsregel; bei den fast 600 patrilinearen, an der Väterlinie orientierte Ethnien gibt es nur wenige, die eine Kreuzcousine bevorzugen, in ihrem Fall die Mutterbruder-Tochter.[3]
Die Cousinenheirat – auch entfernteren Grades – ist weltweit verbreitet, vor allem im arabischen und darüber hinaus im islamischen Kulturraum (siehe Verwandtenheirat), bei vielen der weltweit 1300[2] Ethnien und indigenen Völkern, und wurde auch für viele Stämme und Völker der Vergangenheit belegt. Fast alle Kulturen unterscheiden dabei genau zwischen erlaubten und sogar erwünschten Verbindungen entweder zu Kreuz- oder zu Parallelcousinen und dem nicht erwünschten Gegenteil (Heiratsverbote und -gebote). Ein Grund für die Bevorzugung von Kreuzcousinen liegt darin, dass viele Ethnien parallele Cousins und Cousinen – also die Kinder des Vaterbruders oder der Mutterschwester – als gleichgestellt zu eigenen Geschwistern sehen und diese deshalb nicht heiraten wollen oder sollen: Sie gehören „zur Familie“ und kommen deshalb nicht als Ehepartner in Betracht (Inzestverbot, exogames Heiratsgebot).[4] Die Kinder der Vaterschwester leben jedoch in patrilokalen Gesellschaften in einem anderen Clan und sind daher heiratsfähig.
Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss zeigte 1948 in seiner ethnosoziologischen Theorie der „Allianzbildung“ zwischen Abstammungsgruppen (unilinearen Deszendenzgruppen: einlinigen Familienverbänden, Lineages, Clans), dass wechselseitiges Heiraten von Kreuzcousinen der Stärkung des gemeinsamen Bündnisses zwischen zwei oder mehreren Abstammungsgruppen dient.[1][5] Demgegenüber gehören zwei parallelverwandte Elternteile meist dem gleichen Familienverband an, wobei sich dann durch die Verheiratung ihrer Kinder eine Stärkung der eigenen Abstammungsgruppe ergibt, aber keine Verbundenheit zu einer anderen Gruppe. So ist in der arabisch-islamischen Welt die Parallelcousinenheirat mit der Tochter des Vaterbruders (Bint ʿamm) sehr verbreitet, weil es den familiären Zusammenhalt der verbrüderten Väter stärkt und beide Kleinfamilien in derselben Großfamilie hält (ein endogames Heiratsgebot der „Innenheirat“).
Die jüdische Bankiersfamilie der Rothschilds pflegte Cousinenheiraten über viele Generationen, so auch die Nachkommen des hanseatischen Unternehmers Johann Henry Schröder.
Ein bekanntes Beispiel für aufeinanderfolgende Kreuzcousinenheiraten findet sich in dem britischen Erfolgsroman Wuthering Heights (Die Sturmhöhe) von Emily Brontë, den sie 1847 unter dem Pseudonym Ellis Bell veröffentlichte: Darin heiratet die junge Catherine den Linton, er ist der Sohn der Schwester ihres Vaters; aus Lintons Perspektive handelt es sich damit um eine Heirat mit der Tochter des Mutterbruders (über Kreuz). Catherines Tochter heiratet schließlich ihren Kreuzcousin Hareton, den Sohn des Bruders ihrer Mutter.
Bei den afrikanischen Akan-Völkern hat die Kreuzcousinenheirat in ihrem Mutterrecht eine große Bedeutung. Ein weiteres Beispiel sind die Nambikwara im brasilianischen Mato Grosso do Sul.
Die Heirat der Parallelcousine wird in der arabischen Welt und darüber hinaus im islamischen Kulturraum bevorzugt: mit der Bint ʿamm, Tochter des Onkels väterlicherseits, des Bruders des Vaters (siehe auch Verwandtenheirat).
Genetische Beratungsstellen weisen auch in den betroffenen Ländern darauf hin, dass Kinder von eng blutsverwandten Paaren ein größeres Risiko einer Erbkrankheit oder Behinderung haben als Kinder nicht verwandter Paare. Dieses Risiko ist bei einer Verbindung zwischen Cousin und Cousine 1. Grades mit 6 Prozent doppelt so hoch und steigt durch wiederholtes Heiraten der blutsverwandten Nachkommen untereinander (siehe dazu Erbkrankheitsrisiken).[6][7]
- Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. 3. Auflage. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009, ISBN 3-518-28644-7 (französische Erstausgabe 1948; Lévi-Strauss, 1908–2009, war Ethnologe, Begründer des ethnologischen Strukturalismus und früher Vertreter einer Ethnosoziologie).
- Helmut Lukas, Vera Schindler, Johann Stockinger: Kreuzkusinenheirat. In: Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie. Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 1997, abgerufen am 28. März 2018 (vertiefende Anmerkungen zu verschiedenen Ausprägungen der Kreuzcousinenheirat, mit Quellenangaben).
- Gabriele Rasuly-Paleczek: Begriff: Cross-Cousin Marriage (Kreuzbasen-Heirat). (PDF) (PDF-Datei: 853 kB; 52 Seiten: S. 92–143, hier S. 128–130). In: Einführung in die Formen der sozialen Organisation (Teil 3/5). Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 2011, S. 128–130, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 17. Oktober 2013; abgerufen am 28. März 2018 (Unterlagen zu ihrer Vorlesung im Sommersemester 2011).
- Brian Schwimmer: Cross Cousin Marriage. In: Tutorial: Kinship and Social Organization. Department of Anthropology, University of Manitoba, Kanada, 2003, abgerufen am 28. März 2018 (englisch, umfangreiches Verwandtschaftstutorial mit verschiedenen Ausprägungen der Kreuzcousinenheirat).
Gabriele Rasuly-Paleczek: Begriff Cross-Cousin Marriage (Kreuzbasen-Heirat). In:
Einführung in die Formen der sozialen Organisation (Teil 3/5). (PDF) (PDF-Datei: 853 kB; 52 Seiten: S. 92–143, hier S. 128–129). Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 2011, S. 128–129, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 17. Oktober 2013; abgerufen am 28. März 2018: „ad. Definition von Cross-Cousin: »Cross-Cousin: A cousin related through an opposite-sex sibling link. In other words, a father’s sister’s child or mother’s brother’s child, in contrast a parallel cousin (cousin by same-sex sibling link).« (BARNARD/SPENCER 1997:S.599) ad. Definition der Cross-Cousin Marriage: »Cross-cousin Marriage: In alliance theory (especially in its early versions), a rule or practice of marriage between father’s sister’s child and mother’s brother’s child (a man’s marriage with MBD [Mother Brother Daughter] is ›matrilateral‹, with FZD [Father Brother Daughter] is ›patri-lateral‹).« (KEESING 1975:S.148, Glossar) ad. Warum ist hier die Cross-Cousin Marriage so wichtig? Hier ist auf zwei Dinge zu verweisen: Zum einen führt der Tausch von Frauen (z. B. von Schwestern zwischen zwei Männern) über längere Zeit, d. h. über mehrere Generationen fortgesetzt zur Cousin Marriage (vgl. SCHUSKY 1965:S.59 und PANOFF/PERRIN 1982:S.292) […] In einer Reihe von verwandtschaftsterminologischen Systemen wird ja eine ganze Gruppe von Personen terminologisch unter der Kategorie Cross-Cousins zusammengefaßt. […] Zum anderen bewirkt das verwandtschaftsterminologische System, welches in den meisten Fällen die Parallelcousins terminologisch mit den Geschwistern gleichsetzt (vgl. z. B. Iroquois-, Crow- und Omaha-System), daß diese Parallel-Cousins infolge des Inzesttabus als Heiratspartner nicht in Frage kommen, somit lediglich die Cross-Cousins, die nicht dem Inzesttabu unterliegen als Ehepartner möglich sind. (vgl. SCHUSKY 1965:S.60).“
J. Patrick Gray: Ethnographic Atlas Codebook. In: World Cultures. Band 10, Nr. 1, 1998, S. 86–136, hier S. 104: Tabelle 43 Descent: Major Type (englisch; PDF: 2,4 MB, 52 Seiten ohne Seitenzahlen; eine der wenigen Auswertungen aller damals weltweit erfassten 1267 Ethnien);
Zitat: „584 Patrilineal […] 160 Matrilineal […] 349 Bilateral“ (= 46,1 % patrilinear; 12,6 % matrilinear; 27,6 % kognatisch-bilateral).
Ende 2012 waren im Ethnographic Atlas weltweit genau 1300 Ethnien erfasst, von denen oft nur Stichproben ausgewertet wurden, beispielsweise im internationalen HRAF-Projekt. Begründet wurde der Ethnographic Atlas Anfang der 1950er vom US-amerikanischen Anthropologen George P. Murdock (1897–1985) zur standardisierten Daten-Erfassung sämtlicher Ethnien weltweit.
Gabriele Rasuly-Paleczek: Heiratsformen in patrilinearen Gesellschaften. In:
Einführung in die Formen der sozialen Organisation (Teil 2/5). (PDF) (PDF-Datei: 1,9 MB; 58 Seiten: S. 33–90, hier S. 63). Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 2011, S. 63, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 21. Oktober 2013; abgerufen am 28. März 2018: „Für einzelne patrilineare Gesellschaften, namentlich im Nahen Osten, wurde die Vater-Bruder-Tochter-Heirat (bint-amm-Heirat) als ideale Heiratsform postuliert und hat zu heftigen Kontroversen geführt (vgl. Ausführungen später). Für andere patrilineare Gesellschaften, z. B. die australischen Aborigines, SO-Asien oder S-Amerika, wurde v. a. die Cross-Cousin-Marriage (z. B. mit der Mutter-Bruder-Tochter) als Idealform postuliert. (Vgl. BARNARD/SPENCER 1997:S.152 f)“.
Gabriele Rasuly-Paleczek: Patrilaterale Parallel-Cousin Marriage: (»Bint-Amm-Heirat«). In:
Einführung in die Formen der sozialen Organisation (Teil 3/5). (PDF) (PDF-Datei: 853 kB; 52 Seiten: S. 92–143, hier S. 138). Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 2011, S. 138, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 17. Oktober 2013; abgerufen am 28. März 2018: „In den meisten Gesellschaften werden die Parallel-Cousins mit den Geschwistern gleichgesetzt (vgl. z. B. Crow- und Omaha-System) und unterliegen damit dem Inzestverbot und können daher nicht geheiratet werden.“
Lukas, Schindler, Stockinger: Allianzsystem. In: Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie. Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 11. Oktober 1997, abgerufen am 28. März 2018: „Allianzsystem: Ein Beziehungssystem, das mittels über mehrere Generationen wiederholte Heiraten zwischen unilinearen Deszendenzgruppen oder anderen Verwandtschaftsgruppen festgesetzte und dauerhafte Heiratsbeziehungen produziert bzw. durch diese ausgedrückt wird.“
Hansjakob Müller u. a.: Medizinische Genetik: Familienplanung und Genetik. In: Schweizer Medizin Forum. Jahrgang 5, Nr. 24, Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, Basel 15. Juni 2005, S. 639–641, hier S. 640 (PDF-Datei: 123 kB, 3 Seiten auf medicalforum.ch (Memento vom 29. März 2018 im Internet Archive));
Tabelle 2: Genetische Risiken bei Verwandtenehen: „Verwandte 1. Grades (Vater-Tochter, Bruder-Schwester): 50 % | Cousin–Cousine 1. Grades: 6 % | Cousin–Cousine 2. Grades: 4 % [Anmerkung: Risiko für nicht blutsverwandte Paare: 3 %] […] Studien haben gezeigt, dass die gemeinsamen Nachkommen von Verwandten höhere genetische Risiken tragen als diejenigen von Nicht-Verwandten. Bei Cousin und Cousine 1. Grades ist das Risiko für körperliche und geistige Behinderungen im Vergleich zum Risiko in der normalen Bevölkerung noch doppelt so gross. […] Die schwere degenerative Nervenkrankheit Tay-Sachs tritt in der ashkenasim-jüdischen Bevölkerung häufiger auf als anderswo. Entsprechend gross ist das Risiko für das Auftreten dieser Krankheit mit autosomal-rezessivem Erbgang bei Paaren dieser Herkunft.“
Janine Flocke: Migranten: Verwandt, verlobt, verheiratet! In: Zeit Online. 27. März 2007, abgerufen am 28. März 2018: „Denn oft ist das Risiko einer Fehlbildung auch unter Cousin und Cousine höher als gedacht. Das ist vor allem dann der Fall, wenn die Vorfahren des Paares auch schon miteinander blutsverwandt waren. »Manche Familien heiraten seit Generationen nur untereinander«, sagt [Yasemin] Yadigaroglu. Der Berliner Gynäkologe und Experte für Pränataldiagnostik Rolf Becker hat festgestellt, dass rund 8 Prozent der Kinder von behandelten Migrantinnen geistig oder körperlich behindert waren.“
(Anmerkung: 3 % bei nicht blutsverwandten Eltern.)