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psychologische Theorie Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Die kognitive Theorie der Depression (auch: kognitives Modell der Depression) ist eine vor allem von Aaron T. Beck ausgearbeitete psychologische Theorie. Sie versucht zu beschreiben, wie Depression funktioniert, und bildet den Ausgangspunkt und die Grundlage der kognitiven Verhaltenstherapie.
Die Ideengeschichte, aus der die kognitive Theorie entstanden ist, lässt sich bis zu den Philosophen der Stoa zurückverfolgen. Epiktet schrieb im Enchiridion: „Die Menschen werden nicht durch die Dinge selbst beunruhiget, sondern durch die Meinungen, welche sie von den Dingen haben.“[1] Im 20. Jahrhundert forderte Alfred Adlers Individualpsychologie dazu auf, den Patienten im Kontext seiner eigenen bewussten Erlebniswelt zu verstehen.[1] Adler schrieb 1931: „Wir leiden nicht an einem aus unseren Erfahrungen stammendem Schock – dem sogenannten Trauma –, sondern wir machen aus unseren Erfahrungen genau das, was unseren Zwecken dient.“[2] Leon J. Saul, Franz Alexander, Karen Horney und Harry Stack Sullivan entwickelten diesen Ansatz fort.[3] Philosophische Anregungen kamen von Immanuel Kant, Martin Heidegger und Edmund Husserl; Karl Jaspers, Ludwig Binswanger und Erwin W. Straus wendeten diese Phänomenologie ins Psychologische.[3] Weiteren Einfluss hatte Jean Piagets Entwicklungspsychologie.[3]
Albert Ellis begründete die eigentliche kognitive Theorie 1957, indem er das aktivierende Umwelt-Ereignis (A) über den Glauben (B) mit den emotionalen Konsequenzen (C) verknüpfte.[4] Weitere Beiträge zur theoretischen Konzeption haben Michael Mahoney, Marvin Goldfried, Gerald Davison, Donald Meichenbaum, Alan Kazdin und Terence Wilson geliefert.[5]
Die kognitive Theorie der Depression hat 1976 Aaron T. Beck ausgearbeitet.[6] Vorausgegangen waren ihr systematische klinische Beobachtungen und Experimente.[7]
Während die klassische psychoanalytische Theorie davon ausgeht, dass depressive Menschen von Masochismus bzw. von einem Leidensbedürfnis angetrieben sind,[8] haben die Vertreter der kognitiven Verhaltenstherapie darauf hingewiesen, dass in wissenschaftlichen Untersuchungen ein solches Bedürfnis zu leiden bei depressiven Patienten nicht beobachtet worden sei.[9] Umso augenfälliger erschien ihnen bei diesen Patienten:
Beck und seine Kollegen erschien es naheliegend, dass eine derartig negative Generalperspektive, die durch Realitätstests offenbar nicht korrigiert wird, als Folge vielfältiger und umfangreicher kognitiver Verzerrung zu erklären sei.[9]
Während die klassische Psychoanalyse davon ausgeht, dass Depressionen durch freies Assoziieren des Patienten zu heilen seien, geht die kognitive Verhaltenstherapie davon aus, dass depressive Patienten gerade nicht ihren eigenen Gedanken überlassen bleiben dürfen, weil sie sonst immer tiefer im Morast ihrer Sorgen und ihrer negativen Kognitionen versinken.[10]
Ähnlich wie beim Modell der erlernten Hilflosigkeit wird Depression im klassischen Behaviorismus als ein dysfunktionales Verhalten konzipiert, das erlernt ist und darum auch wieder verlernt werden kann.[11] Anders als beim Modell der erlernten Hilflosigkeit wird Depression in der behavioristischen Theorie jedoch nicht auf innere, sondern auf äußere Faktoren zurückgeführt, insbesondere auf Verstärkung, also auf die Verhaltensrückmeldungen, die der Patient von seiner Umwelt erfährt.
Den bedeutendsten Einzelbeitrag zur behavioristischen Theorie der Depression hat 1974 Peter M. Lewinsohn geliefert. Kern seiner Verstärker-Verlust-Theorie war die These, dass Depression dann entsteht, wenn die positive Verstärkung im Leben eines Menschen zurücktritt, d. h., wenn er in äußere Lebensumstände (z. B. Isolation, Wechsel des sozialen Umfelds) gerät, die verhindern, dass er für positives Verhalten weiterhin die Belohnungen empfängt, die für seine Leistungsbereitschaft und für seine seelische Gesundheit unverzichtbar sind. Lewinsohn vermutete auch, dass manche Patienten von der Umwelt in ihrer Depression geradezu bestärkt werden, z. B. wenn Angehörige sich ihnen dienstbar machen.[12]
Die kognitive Theorie der Depression hat mit diesem Modell kaum etwas gemein. Ihre Vertreter nehmen an, dass eine Depression durch äußere Faktoren zwar ausgelöst werden kann, bezweifeln aber fundamental, dass Depression in ihrem Verlauf und ihrer Erscheinungsform durch äußere Faktoren auch determiniert ist. Die Determinanten der Depression sehen sie vielmehr in der Kognition des Patienten, einem inneren Faktor also, der beim behavioristischen Ansatz gar keine Beachtung findet.
Von Martin E. P. Seligman und Steven F. Maier wurde in den späten 1960er Jahren das Modell der erlernten Hilflosigkeit entwickelt, das einige Gemeinsamkeiten hat mit der kognitiven Theorie der Depression. Beide Modelle gehen davon aus, dass negative kognitive Stile das Risiko für Depressionen erhöhen, wenn Personen negative Lebensereignisse erleben.[13] Entsprechend setzte Seligman in der Therapie von Depressionen ähnliche Methoden ein, wie sie auch in der kognitiven Verhaltenstherapie üblich sind. Das umfasste insbesondere, dem Patienten negative Interpretationen seiner Erfahrungen aufzuzeigen, die Prüfung der Richtigkeit solcher Interpretationen und die Suche nach akkurateren Interpretationen.[14] Anders als Seligman hält Beck es jedoch für falsch und sogar gefährlich, negative Interpretationen durch Reframing einfach ins Positive zu wenden; ihm geht es allein um die Akkuratheit der Interpretation.
Entgegengesetzt ist die kognitive Theorie der Depression auch dem depressiven Realismus von Lauren Alloy und Lyn Yvonne Abramson, die 1988 die These entwickelt haben, Depressive seien „trauriger, aber weiser“.[15]
In der Psychiatrie wird die Depression häufig als eine affektive Störung klassifiziert, etwa in ICD-10, wo ihr ein Platz in unmittelbarer Nachbarschaft u. a. zur bipolaren Störung zugewiesen wird. Beck hält es für irreführend, eine Krankheit, die eine solche Bandbreite von Gesichtspunkten hat wie die Depression, aufs Affektive festzulegen, und schrieb ironisch, dass man ebenso gut Scharlach als Hautkrankheit klassifizieren könne.[16]
Beck beschreibt die Depression mit Mark Schreiber[17] als eine komplexe Störung, die kognitive, affektive, motivationale, verhaltensmäßige und vegetative Symptome umfassen kann.[18] Für das primäre Element in der Phänomenkette hält er die Denkstörung. Zur letzten Ursache der Krankheit – d. h., ob Depressionen auf z. B. eine erbliche Disposition, fehlerhaftes Lernen, Hirnschädigung, biochemische Anomalien oder Ähnliches zurückgehen – umfasst das kognitive Modell der Depression keine Aussagen.[19]
Die Kognitionen eines Menschen basieren auf Einstellungen oder Annahmen (Schemata), die wiederum aus vorausgegangenen Erfahrungen entstanden sind.[20] Bei depressiven Patienten sind diese Schemata weithin dysfunktional und führen zu automatisierten und stereotypen negativen Gedanken.[21] Beck spricht in diesem Zusammenhang gelegentlich auch von „gedankenlosem Denken“ (thoughtless thinking).[22] Die Patienten sind sich der dysfunktionalen Schemata ihres Denkens meist nicht bewusst.[1]
Beck geht von folgenden Annahmen aus:
Das depressive, d. h. von spontanen und scheinbar unbeherrschbaren negativen Kognitionen beherrschte Denken findet in genau drei Bereichen statt: im Denken über das Selbst (Selbstbild), im Denken über das menschliche Umfeld und im Denken über die Zukunft. Beck spricht hier von einer kognitiven Triade (auch „negative Triade“).[25]
Depressive Patienten betrachten sich selbst als geschädigt, unzulänglich, krank oder benachteiligt, und sie neigen dazu, unangenehme Erfahrungen auf psychologische, moralische oder körperliche Mängel zurückzuführen, die in ihnen selbst liegen. Sie glauben, dass sie aufgrund dieser gemutmaßten Mängel wertlos und bei anderen unerwünscht seien, und unterschätzen und kritisieren sich darum. Weiterhin glauben sie, dass sie aufgrund dieser gemutmaßten Mängel weder Glück noch Zufriedenheit erleben können.[26]
Viele Symptome der Depression können als direkte Folge der problematischen Kognitionen verstanden werden, die sich in der Triade ereignen. Abhängigkeit (z. B. von einem Ex-Partner) lässt sich als Folge der systematischen Selbstunterschätzung des Patienten verstehen, der andere Personen für kompetenter und fähiger hält als sich selbst.[27]
Depressive Menschen neigen dazu, ihre Erfahrungen auf eine negative Weise zu interpretieren. Sie stehen unter dem Eindruck, dass die Welt ihnen Ungeheuerliches abverlangt und ihnen dabei gleichzeitig massive Hindernisse in den Weg stellt. Erfahrungen mit der Welt werden stereotyp in Kategorien von Erfolg/Niederlage und von Gewährtbekommen/Deprivation verbucht.[26]
Depressive Menschen neigen zur Annahme, dass ihre gegenwärtigen Schwierigkeiten und ihr Leiden in der Zukunft kein Ende finden, und dass Unternehmungen, die sie in Angriff nehmen könnten, scheitern werden.[26]
Zu den Symptomen, die sich aus dem besonderen Zukunftsbild des depressiven Patienten erklären lassen, zählt unter anderem dessen Willenslähmung, die als Folge seines Pessimismus und seiner Hoffnungslosigkeit beschrieben werden kann (da er erwartet, dass seine Anstrengungen keinen Erfolg hervorbringen werden, unternimmt er nichts). Suizidwünsche sind ein extremer Ausdruck seines Wunsches, einer Situation zu entkommen, die ihm unerträglich und unabänderlich erscheint. Viele physische Symptome (z. B. Gewichtsverlust, Schlaflosigkeit) sind als Folge einer „psychomotorischen Hemmung“, der Apathie und des niedrigen Energieniveaus des Patienten zu erklären, der davon überzeugt ist, dass all seine Bemühungen zum Scheitern verurteilt sind.[27]
Charakteristisch für depressive Patienten ist, dass sie bestimmte Einstellungen haben, durch die sie sich selbst Schmerz und Niederlagen bereiten. Um zu erklären, warum sie diese – für sie nachteilhaften – Einstellungen selbst dann aufrechterhalten, wenn sie durch Gegenbeweise widerlegt werden, zieht Beck das Konzept von Schemata heran.[27]
Unter einem Schema versteht er kognitive Muster, denen eine Person folgt, wenn sie einer bestimmten Umweltsituation ausgesetzt ist, diese in Begriffe kleidet und darauf reagiert; Schemata sind die Prägeform, mit der Stimuli zu Kognitionen geformt werden. Menschen kategorisieren und bewerten ihre Erfahrungen durch eine Matrix von Schemata.[28]
Diese Schemata können sich bei verschiedenen Menschen stark unterscheiden, sind bei ein und demselben Menschen meist aber recht stabil.[27] Bei Psychopathologien wie z. B. Depressionen sind bestimmte Schemata dysfunktional, was zur Folge hat, dass der Patient bestimmte Umweltsituationen auf verzerrte Weise in Begriffe kleidet.[29] Beispiel: „NN grüßt mich nicht, weil er mich nicht mag.“[23] Alternative Deutungen („NN grüßt mich nicht, weil er seine Brille nicht trägt und mich nicht erkennt“) werden systematisch ausgeschlossen.
Die dysfunktionalen Schemata werden durch Erfahrungen geprägt, die zeitlich vor der Depression liegen. Sie bleiben meist latent; in bestimmten Situationen, die der Ur-Situation ähneln, können sie jedoch aktiviert werden.[30]
Über die letztlichen Ursachen der Aktivierung – d. h., ob die Aktivierung durch psychischen Disstress, ein biochemisches Ungleichgewicht, hypothalamische Stimulation oder noch andere Faktoren erfolgt – werden im Rahmen der kognitiven Theorie der Depression keine Aussagen gemacht.[31]
Es kommt vor, dass ein Patient die Situation, die ihn depressiv macht, im Sinne eines Teufelskreises selbst hervorbringt. So führt ihn die Depression eventuell zum Rückzug von engen Bezugspersonen, die ihn daraufhin kritisieren oder zurückweisen, was wiederum seine eigene Rückzugsneigung verstärkt. Ebenso ist es jedoch möglich, dass nicht der Patient, sondern eine Bezugsperson den Anfang gemacht hat. Umgekehrt können harmonische Beziehungen zu nahestehenden Personen den Ausbruch einer Depression unter Umständen abfedern. Der Grad, zu dem Bezugspersonen eine Depression beeinflussen, ist von Patient zu Patient jedoch sehr uneinheitlich. Neben offensichtlich reaktiven Depressionen gibt es auch solche, bei denen sich keine ungünstigen äußeren Bedingungen aufweisen lassen.[32]
Die dysfunktionalen Schemata werden in der Depression idiosynkratisch und überaktiv und werden mit zunehmender Erkrankung auch auf Situationen angewandt, mit denen sie logisch immer weniger zu tun haben. In der schweren Depression ist der Patient vollständig eingenommen von unablässig wiederkehrenden, sich wiederholenden negativen Gedanken, und er schafft es unter Umständen kaum noch, seinen Geist anderen Aufgaben zu öffnen. Der Patient verliert mehr oder weniger die Willenskontrolle über sein Denken, und die idiosynkratische Organisation seiner Kognition wird autonom.[29]
Die automatischen, situationsspezifischen Gedanken liefern laut Beck die Zugangsmöglichkeit zu den dahinter liegenden, grundlegenderen und situationsübergreifenden „depressogenen Grundannahmen“. Depressogene Grundannahmen sind jene dysfunktionalen Überzeugungen, die den Betreffenden zur Depression prädispositionieren. Die Grundannahmen sind nicht unmittelbar bewusst und können vom Patienten meist erst nach längerer Introspektion artikuliert werden. Sie sind schwerer zu erkennen und zu bearbeiten als automatische Gedanken. Beck zählt einige Grundannahmen auf, die zur Depression dispositionieren, hier einige Beispiele:[33]
Die Gedanken der negativen kognitiven Triade verstärken die dysfunktionale Grundüberzeugung ebenso wie umgekehrt.[23]
Depressive Patienten halten am Wahrheitsgehalt ihrer negativen Konzepte auch dann fest, wenn sie durch Gegenbeweise widerlegt werden. Ursache dafür sind systematische Denkfehler. Beck identifiziert bei depressiven Patienten insbesondere sechs Formen der kognitiven Verzerrung:[34]
In der Fachliteratur werden weitere kognitive Verzerrungen genannt:[35]
Gemeinsam ist diesen Denkmustern, dass sie – im Sinne von Piaget[36] – als „primitiv“ beschrieben werden können. „Primitives“ Denken ist moralisierend und leugnet:
Die Gedanken, die das Bewusstsein depressiver Menschen überfluten, neigen daher dazu, extrem, negativ, kategorisch, absolut und wertend zu sein; auch ihre emotionalen Reaktionen tendieren zum Negativen und zum Extremen.[34]
Von zentraler Bedeutung für das Empfinden und die depressiven Symptome des Patienten sind nach Beck die so genannten „automatischen Gedanken“. Hierunter versteht man schnell ablaufende, blitzartig auftretende, subjektiv plausibel erscheinende und sich unfreiwillig einstellende Kognitionen, die zwischen einem Ereignis (externaler oder internaler Art) und einem emotionalen Erleben (Konsequenz) liegen. Die automatischen Gedanken sind zumeist im Sinne der oben beschriebenen Denkfehler verzerrt. Diese sich aufdrängenden automatischen Gedanken sind den Patienten zumeist zu Beginn der Therapie nicht bewusst, können jedoch bewusst gemacht werden und sind dadurch der therapeutischen Bearbeitung zugänglich.
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