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Im Zusammenhang mit der israelischen Siedlungspolitik kommt es häufig zu Gewalttaten unterschiedlicher Art von beiden Seiten. Einen Überblick dazu gibt der Abschnitt Israelische Siedlung/Gewalt in den Siedlungen. Als israelische Siedlergewalt im engeren Sinne bezeichnet man darunter von zivilen israelischen Siedlern vor allem im besetzten palästinensischen Gebiet des Westjordanlands an Palästinensern verübte „absichtsvolle Androhung oder tatsächliche Anwendung physischer Gewalt oder Macht gegen andere Personen oder das Eigentum derselben, die zu Verletzungen, Tod oder psychischem Schaden führt oder wahrscheinlich dazu führen kann.“[1] Die Gewalttaten umfassen eine breite Palette von Handlungen, einschließlich körperlicher Angriffe auf Palästinenser, Brandstiftung in Wohngebieten und an landwirtschaftlichen Flächen, Vandalismus gegen palästinensisches Eigentum und religiöse Stätten sowie Provokation, Einschüchterungen und Belästigungen.
Siedlergewalt hat seit den 2000er-Jahren stark zugenommen und wird deshalb intensiv diskutiert. Zwei neue Entwicklungen in dieser Diskussion sind, dass seither von einigen Organisationen und Forschern Siedlergewalttaten zunehmend nicht mehr als viele isolierte Taten einzelner ziviler Extremisten angesehen werden, sondern als integraler Bestandteil einer von Privatpersonen und staatlichen Institutionen gemeinsam getragenen umfassenden Kultur der Gewalt, und dass seit den späten 2010ern zunehmend vertreten wird, unter anderem aus der Förderung von Siedlergewalt durch den israelischen Staat folge, dass man heute nicht mehr von einer legalen „Okkupation“ sprechen könne, sondern von einem illegalen „Apartheidsregime“ sprechen müsse. In der Politik Israels sieht man beides nicht so, und auch in der Politik des globalen Nordens wurde beides bisher überwiegend nicht aufgenommen.
Siedlergewalt geschieht auch häufig auf den illegal besetzten Golanhöhen und in Ostjerusalem,[2] ist in beiden Gegenden bisher aber wissenschaftlich noch weit weniger aufgearbeitet. Gewalt ziviler Institutionen (z. B. Einschränkung von Grundrechten, Landraub, Abriss von Dörfern oder Häusern…) sowie „weichere“ Formen von Gewalt durch Privatpersonen wie wirtschaftliche Gewalt (z. B. Ausbeutung, Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt …)[3] oder ästhetische Gewalt (z. B. jüdische Paraden in palästinensischen Orten, Gestaltung von Schildern auf Hebräisch statt Arabisch …)[4] rechnet man für gewöhnlich nicht zu Siedlergewalt und wird daher auch hier nicht berücksichtigt.
Fälle von Siedlergewalt in den besetzten Gebieten werden v. a. von mehreren NGOs und Menschenrechtsorganisationen gesammelt und dokumentiert. Die wichtigsten darunter sind in diesem Zusammenhang (1) das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA), (2) B’Tselem, (3) Jesch Din (4) und Al-Haq, teilweise außerdem (5) das „Palestinian Centre for Human Rights“ (PCHR), das aber (6) wie die israelische Organisation Schovrim Schtika prioritär Verbrechen speziell von Soldaten dokumentiert, (7) und die Organisation HaMoked, die ihren Fokus aber auf Polizeigewalt legt.
An sich scheint die Datenlage damit recht gut zu sein. Da auch Organisationen wie die UN,[5] EU,[6] Human Rights Watch[7] und Amnesty International[8] auf Daten von OCHA, B’Tselem und Jesch Din zurückgreifen, werden auch hier die Daten dieser drei Organisationen präsentiert.
Israel allerdings hat die Verlässlichkeit aller genannten Organisationen in Zweifel gestellt: Al-Haq wurde von Israel (ohne Belege) als „Terrororganisation“ eingestuft,[9] OCHA wird vorgeworfen, „politische Kriegsführung“ gegen Israel zu betreiben,[10] B’Tselem habe eine „zunehmend radikalisierte Agenda (…), Israel zu dämonisieren“,[11] die Daten von Jesch Din seien „irreführend und verfälschend“.[12] Entsprechend kommen die israelische Regierung und Medien mit einer dezidiert pro-israelischen Haltung regelmäßig zu sehr anderen Ergebnissen als diese NGOs, genauerhin nämlich denen, dass Siedlergewalt ein „Randphänomen“ und die großen Zahlen ein „Mythos“ sind.[13][14][15][16][17] Mit entsprechendem Vorbehalt sind die folgenden Daten, Zahlen und Analysen zu lesen: Sie entsprechen der Interpretation und Position einer sehr großen Mehrheit der internationalen Gemeinschaft, werden von manchen (pro-)israelischen Akteuren aber in Abrede gestellt.
Theoretisch ließen sich auch Daten des israelischen Justizsystems auswerten. Untersuchungen von Jesch Din legen allerdings nahe, dass viele Gewaltakte gar nicht erst an Behörden gemeldet werden (57,5 % der Jesch Din bekannten Fälle), dass die Behörden bei den gemeldeten Akten in 81 % der Fälle zu keinem Ermittlungsergebnis kamen und dass nach Einleitungen von Ermittlungen nur 3 % zu einer Verurteilung führten.[18] Ist das richtig, sind die Daten israelischer Behörden wenig aussagekräftig.
Seit der Besetzung des Westjordanlands durch Israel im Jahr 1967 sind israelische Siedlungen in den besetzten Gebieten entstanden, was zu Spannungen mit der palästinensischen Bevölkerung geführt hat. Die Besiedlung des Westjordanlands ist weiterhin im Gange; 2023 etwa wurde die Bevölkerung von 21 palästinensischen Orten vertrieben, 26 auch nach israelischer Einschätzung illegale „Vorposten“ wurden neu errichtet und gleichzeitig 15 Vorposten zu (nach israelischer Ansicht legalen, nach internationaler Einschätzung ebenfalls illegalen) Siedlungen umdeklariert.[19] Stand 2023 lebten so im Westjordanland neben den 2,8 Mio. Palästinensern knapp 465.000 jüdische Siedler in 146 Siedlungen und 144 Vorposten.[20]
Forschungen zu Siedlergewalt zeigen, dass Gewaltbereitschaft unter Siedlern nicht gleichmäßig verteilt ist. Stattdessen lassen sich mehrere Hotspots und Trägerkreise identifizieren, in denen und bei denen Siedlergewalt besonders ausgeprägt ist. So lässt sich beispielsweise regelmäßig im Gouvernement Nablus die stärkste Konzentration an Gewalttaten feststellen,[21] obwohl es weder am stärksten noch am dichtesten besetzt ist (insgesamt knapp 20.000 Siedler, etwa 5 % der Gesamtbevölkerung des Gouvernements). Auch sind die Besetzer kleiner Siedlungen mit höherer Wahrscheinlichkeit gewaltbereit als die Bewohner größerer Ortschaften, da die meisten gerade der kleinsten Siedlungen „Vorposten“ sind, die aktuell vor allem von radikalisierten Jugendlichen gegründet werden (s. u.).[22] Eine weitere zentrale Trägergruppe von Siedlergewalt neben radikalisierten Jugendlichen sind Angehörige von Lehava und der offiziell verbotenen Organisationen Kach und Kahane Chai.[23]
Nir Gazit hat außerdem in Einzelinterviews mehrere Motive identifiziert, die Gewaltbereitschaft von Siedlern entscheidend beeinflussen, und die wieder nicht bei allen Siedlern im selben Maße gegeben sind. Diese sind:[24]
Nach einem Rückgang von Siedlergewalt ab 2014 dokumentieren Berichte seit 2016 wieder eine stark steigende Zahl an Vorfällen und Opfern von Siedlergewalt. Der Terrorangriff der Hamas auf Israel 2023 vom 7. Oktober 2023 hat zwar in diesem Monat zu einem Spitzenwert bei Siedlergewalt geführt, die Zahlen bis September zeigen aber, dass das Jahr 2023 auch unabhängig davon ein Siedlergewalt-Rekordjahr geworden wäre.[31] Besonders prominent waren im Februar und Juni 2023 zwei Stürme von jeweils mehreren hundert Siedlern auf die Orte Huwara[32][33][34] und Turmus Ayya,[35][36][37] die selbst in Israel als „Pogrome“ bezeichnet wurden und mehrere israelische Politiker dazu brachten, sich neu zu Siedlergewalt zu positionieren.[38][39][40] Insgesamt kam das OCHA vom Januar bis zum 14. Dezember 2023 auf 1.196 Vorfälle herkömmlicher Siedlergewalt und 1.442 Fälle von Vertreibungen von Palästinensern infolge von Siedergewalt.[41]
Jesch Din hat eine eigene, kleinere Datenbank zu Siedlergewalttaten, in der dieselben genauer kategorisiert sind. Stand 2023 waren 13,3 % davon territoriale Gewalttaten (z. B. Landraub durch illegitimes Abzäunen), die zwar nicht zur Siedlergewalt im engeren Sinn gerechnet werden, aber fast stets auch mit herkömmlichen Siedlergewalttaten einhergehen. 40,3 % waren klassische Gewalttaten wie Mord, Verletzung, Beschuss und Steinigung, außerdem Bedrohung sowie Tötung oder Verletzung von Vieh. Die übrigen 46,4 % waren Eigentumsdelikte wie Brandstiftung, Diebstahl, Sachbeschädigung von Bäumen und Feldfrüchten oder Vandalismus.[42]
Die Erhebung des Ausmaßes von Siedlergewalt ist jedoch immer komplizierter geworden, da wegen der besonderen Struktur der israelischen Besetzung des Westjordanlands zivile Gewalt und staatliche Gewalt zunehmend verschwimmen (s. u.). 2022 etwa wurden nach OCHA-Daten[44] 152 der 154 getöteten Palästinenser im Westjordanland durch „Israeli forces“ umgebracht und werden daher nicht zu Opfern von Siedlergewalt gerechnet. Drei der vier häufigsten Todesursachen (neben Auseinandersetzungen an Checkpoints) hingen aber dennoch mindestens indirekt mit Siedlergewalt zusammen:
Hier konkrete Zahlen zu benennen ist jedoch kaum möglich, da in vielen Fällen beide Seiten den Hergang der Taten unterschiedlich darstellen und so Zeugnis gegen Zeugnis steht. Aus der OCHA-Statistik zu Opfern von Gewalt „im Kontext der Okkupation“, in der daneben noch weitere Gewaltopfer verzeichnet werden, lassen sich aber immerhin Trendentwicklungen ablesen.
Ein Spezifikum der israelischen Besetzung des Westjordanlands ist der fließende Übergang von ziviler Gewalt zu staatlicher Gewalt. Dies lässt sich vor allem in zwei Bereichen feststellen: (1) Siedlergewalt und militärische Gewalt überlagern einander im Westjordanland; (2) Siedlergewalt verstärkt Maßnahmen der israelischen Administrative. (1) ist Thema dieses Abschnitts, (2) wird im folgenden Abschnitt nebenbei mitbehandelt.
Vor allem im 21. Jahrhundert haben sich gleichzeitig sowohl Siedlergewalt als auch die Organisation der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte im Westjordanland auf eine Weise entwickelt, dass beide einander zunehmend überlagerten. Minka-Brand beschrieb daher schon 2011 das israelische Sicherheitssystem im Westjordanland insgesamt nicht als „militärisch“, sondern als „zivilitärisch“.[45] Zu diesem Phänomenbereich gehört:
Man darf hier nicht verallgemeinern: Der Bericht „On Duty“ von Breaking the Silence etwa versammelt viele Zeugnisse von Soldaten, die sich korrekt verhielten und gegen Siedlergewalt vorgingen, wonach auch diese israelischen Soldaten Opfer von Siedlergewalt wurden.[64][65] Umfragen unter Palästinensern legen aber nahe, dass solches Verhalten nicht die Regel ist: Bei einer repräsentativen Umfrage von 2023 etwa (a) gaben nur 8 % an, das israelische Militär würde Siedlergewalt unterbinden. (b) 66 % dagegen sagten, das Militär griffe grundsätzlich nicht ein, (c) 24 % sagten sogar, das Militär beteilige sich an Siedlergewalttaten. Unter den Befragten, die 2023 Opfer von Siedlergewalt geworden waren, antwortete niemand mehr mit (a), 30 % mit (b) und 70 % mit (c).[66]
Angehörige von Polizei und Militär werden noch seltener strafrechtlich verurteilt als zivile Gewalttäter (3 %, s. o.). Auswertungen von Jesch Din legen nahe, dass zwischen 2017 und 2021 nur 0,87 % aller Beschwerden zu einer Verurteilung führten.[67] Bis 2016 war die höchste Strafe für einen Palästinensermord durch einen Soldaten eine Verurteilung zu sieben Monaten Haft.[68] Dagegen werden angeklagte Palästinenser, deren Fälle anders als die mutmaßlich gewalttätiger Siedler illegalerweise nicht vor Zivilgerichten, sondern ebenfalls vor Militärgerichten verhandelt werden, zu 99,7 % verurteilt[69][70] und können darüber hinaus auch ohne oder schon vor Verurteilung in „Administrativhaft“ genommen werden.[71][72][73][74]
Insgesamt können also gleichzeitig Siedler als „(pseudo-)staatliche Akteure“[75][76] auftreten und Vertreter staatlicher Gewalt als verlängerter Arm gewaltbereiter Siedler agieren, und sowohl zivile Siedler als auch Angehörige des Militärs bleiben dafür überwiegend straffrei. Für Palästinenser hat das einerseits zur Folge, dass die israelische Staatsgewalt wirklich überall dort omnipräsent erscheinen kann, wo Siedler sind, und andererseits, dass willkürliche Siedlergewalt, die sich als mit staatlicher Gewalt identisch präsentiert, diese staatliche Gewalt delegitimiert:
„Das Zusammenspiel und die Dialektik von Legalität und Gesetzlosigkeit (…) erzeugen das, was von Agamben (…) als ‚Ausnahmezustand‘ definiert wurde: eine soziopolitische Sphäre der Gewalt, (…) in der die Unterscheidung von Fakt und Gesetz verschwommen sind. In dieser spezifischen Ordnung werden Legalität und Gesetzlosigkeit (…) ununterscheidbar (…).“[77]
Gazit beschreibt damit vielleicht nur, wie der Phänomenbestand „auf Palästinenser wirkt“. Von Menschenrechtsorganisationen, internationalen Organisationen und anderen Politikwissenschaftlern wird jedoch zunehmend der noch weitergehende Vorwurf geäußert, die Verschmelzung von Siedlergewalt und staatlicher Gewalt geschehe bewusst, und strukturell und organisationell sei das System von Israels Besatzung so deutlich nicht auf Sicherheit und Gerechtigkeit, sondern auf Unsicherheit von Palästinensern und Ungerechtigkeit hinstrukturiert, dass man auch deshalb als Verantwortlichen für Siedlergewalt letztlich den Staat sehen müsse. B’Tselem etwa betrachtet daher das Phänomen Siedlergewalt insgesamt als „State Business“ und als integralen Bestandteil einer komplexen Kultur von Gewalt, in der legitime staatliche Gewalt und willkürlicher ziviler Terror fließend ineinander übergehen und einander überlagern.[78] Auch viele israelische Militärs halten Siedlergewalt für einen integralen Bestandteil der Sicherheitsstrategie im Westjordanland.[79] Am stärksten gemacht hat dies Yagil Levy, der hiernach Bürgermilizen u. ä. als sogenannten „grauen Arm der Annexion“ geradezu als eine Art halboffizielle Zweit-Armee Israels analysiert, die für den Staat unter der Hand jene Gewaltakte ausübt, die Israel sich als Rechtsstaat selbst nicht erlauben kann.[80][81][82][83] Sofern diese Analyse korrekt ist, hat diese Strategie lange Tradition: Schon zur Nakba / zum israelischen Unabhängigkeitskrieg (1947–1949) ließ sich bei israelischen Operationen das typische Muster feststellen, dass paramilitärische Verbände wie Irgun und Lechi durch Angriffe die Gegenwehr palästinensischer Dorfbewohner provozierten, auf die hin dann reguläre Truppen der Hagana und des Palmach das Dorf „legitimer“ angriffen und entvölkerten.[84][85]
Auf internationaler Ebene lassen sich grob drei unterschiedliche Positionierungen zu diesem Vorwurf feststellen:
(1) Bei einem 2024 eröffneten Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof machten sich auch die Organisation für Islamische Zusammenarbeit[86] und vier einzelne Länder[87][88][89][90] den Vorwurf zu Eigen, Siedlergewalt sei ein vom israelischen Staat strategisch eingeplantes, gezielt gefördertes und bewusst eingesetztes Mittel der Staatsgewalt. Ähnlich deuteten beim selben Prozess neun Länder (1) den mangelnden Schutz von Palästinensern vor Siedlergewalt durch das Militär, (2) die weitgehende Straffreiheit gewalttätiger Siedler und Militärs bei gleichzeitiger rechtlicher Ungleichbehandlung von Palästinensern und (3) die Unterstützung von Siedlergewalttätern durch das Militär als Kennzeichen dafür, dass sich Israels Besatzung des Westjordanlandes mittlerweile endgültig in ein Apartheidsregime verwandelt hätte.[91] Israel wies den Apartheidsvorwurf von sich und warf stellvertretend UN-Menschenrechtsrat, Amnesty International und Human Rights Watch, die sich ebenso geäußert hatten, vor, gemeinsam „einen Dschihad gegen die einzige lebendige Demokratie des Nahen Ostens zu führen“.[92]
(2) Dass Israels Okkupation mittlerweile ein Apartheidsregime sei und Palästina also nicht mit Israel verhandeln, sondern von der internationalen Gemeinschaft dekolonisiert werden müsse,[93][94][95][96][97] ist zwar mittlerweile die Ansicht der meisten mit Israel/Palästina befassten Menschenrechtsorganisationen[98][99][100][101][102][103][104] und vieler internationaler Institutionen;[105][106][107][108][109] beim besagten IGH-Fall haben so neben den bereits genannten Ländern und zwischenstaatlichen Organisationen auch die Afrikanische Union, die Arabische Liga und das Land Chile argumentiert.[110] Dass auch staatlich geförderte Siedlergewalt ein Merkmal dieser Apartheid sei, wird so aber nicht von allen Vertretern dieser Position geäußert.
Viele Länder des globalen Nordens haben umgekehrt Ende 2023 noch einmal betont, dass sie nach wie vor Einzeltäter als die Verantwortlichen sähen, indem die Europäische Union[111] und die USA[112][113][114] Sanktionen gegen einzelne Siedlergewalttäter ausgesprochen haben[115] und zusätzlich die EU, Australien, Kanada, England und elf einzelne europäische Staaten (ohne Deutschland[116]) ein Statement veröffentlichten, in dem Israel als die „okkupierende Macht“ aufgefordert wird:
„Die Verantwortlichen für die Gewalt müssen vor Gericht gebracht werden. Israels Versagen / Versäumnis [‚failure‘], Palästinenser zu schützen und extremistische Siedler strafrechtlich zu verfolgen, hat zu einem Umfeld nahezu vollständiger Straflosigkeit geführt, in dem die Siedlergewalt ein beispielloses Ausmaß erreicht hat. Dies untergräbt die Sicherheit im Westjordanland und in der Region und bedroht die Aussichten auf einen dauerhaften Frieden.
Wir begrüßen zwar das Statement der israelischen Regierung zu diesem Thema vom 9. November, in dem sie mitteilte, dass gegen Gewalttäter vorgegangenen werden werde; allerdings müssen nun proaktive Schritte unternommen werden, um den Schutz palästinensischer Gemeinden umgehend und effektiv sicherzustellen. Worte sind wichtig, aber diese müssen nun auch in Handlungen übersetzt werden.“[117]
(3) Das ist auch die Position, die sich aus Statements von Politikern der politischen Mitte Israels ablesen lässt: Obwohl die meisten Siedler gesetzestreue Bürger seien, sei die Zahl von Siedlergewalttaten wirklich inakzeptabel hoch. Verantwortlich seien aber nur Einzeltäter, und diese müssten und würden nun noch entschiedener durch Israel sanktioniert werden.[118][119][120][121][122][123] Nur Israels rechter Rand hat sich anders positioniert und erklärt, dass die hohen Zahlen von Siedlergewalttaten „antisemitische Lügen“ und die harten Urteile gegen Siedler in Israel und anderen Ländern Framing seien, das die grundsätzlich gesetzestreue Siedlerbewegung in ein falsches Licht rücke.[124][125][126][127]
Landwirtschaft und die Viehwirtschaft vor allem mit Schafen und Ziegen ist ein wichtiger palästinensischer Wirtschaftszweig: Im Westjordanland (inkl. Ostjerusalem) war 2020 beides offiziell Hauptbeschäftigung von 6,4 % der Bevölkerung;[128] hinzu kommen noch weit mehr informell in Land- und Viehwirtschaft eingebundene Familienmitglieder und Tagelöhner.[129] Besonders Anbau und Verarbeitung von Oliven, die 2017 allein schon für 90.000 Familien Haupt- oder Nebenerwerb waren, spielt auch ideell eine große Rolle, da Olivenbäume in Palästina als nationales Symbol wahrgenommen werden.[130]
Vor 2017 waren noch wesentlich mehr Palästinenser in Landwirtschaft und Viehzucht tätig; von 2011 (12,2 %) bis 2017 (6,7 %) hat sich der Beschäftigten-Anteil in den palästinensischen Gebieten jedoch konstant reduziert.[131] Eine UN-Studie von 2015 kam zum Ergebnis, dass die wichtigsten Faktoren für diesen Rückgang (1) die Expansion israelischer Siedlungen, (2) Straßenbau für israelische Siedler, (3) Landverlust durch den Mauerbau, (4) Deklarierung von landwirtschaftlicher Fläche und Weidefläche zu Sperrzonen (5) und das Verbot des Imports von Düngemittel seien.[132] (6) Eine wichtige Rolle spielt außerdem die Wasserfrage: Zugang zum (ohnehin weitgehend ausgetrockneten) Jordan ist Palästinsern untersagt, vom größten Grundwasser-Reservoir im Westjordanland steht Palästinensern theoretisch 20 % zu, die aber wegen israelischer Übernutzung nicht existieren. Kleinere Quellen werden systematisch palästinensischen Dörfern ab- und manchmal stattdessen israelischen Siedlungen zuerkannt; der Bau von Regenwasser-Zisternen muss von Israel genehmigt werden, auch nach selten genehmigtem Bau werden sie aber häufig von Siedlern oder vom Militär zerstört und Wassertanks gestohlen oder konfisziert.[133][134][135][136] Ein Hektar palästinensischer landwirtschaftlicher Fläche bringt daher auch nur 43 % des Ertrags von einem Hektar israelischer landwirtschaftlicher Fläche im Westjordanland.[137]
Palästinensische Tagelöhner arbeiten deshalb mittlerweile zunehmend nicht mehr auf palästinensischen Farmen, sondern auf israelischen. Eine Human-Rights-Watch-Studie von 2015 zeigt, dass hierbei gesetzeswidrige Kinderarbeit häufig festzustellen ist.[138]
Direkte Siedlergewalt verschärft diese Sphäre der Okkupation noch weiter. Einige verbreitete Strategien sind:
Ein weiterer Aspekt der Okkupation des Westjordanlands ist seit den 90er-Jahren und verstärkt seit der Zweiten Intifada ab 2000, die auch auf israelischer Seite viele Opfer forderte, die sogenannte „Closing Policy“, bei der durch die israelischen Sperranlagen, durch Grenzübergänge,[157] ständig besetzte Checkpoints, willkürlich besetzte Checkpoints, „Surprise Checkpoints“ (= improvisierter Checkpoint aus Fahrzeug plus Soldaten),[158] Straßenblockaden, Mauern und Zäune die Bewegungsfreiheit von Palästinensern eingeschränkt wird. Das OCHA, das alle paar Monate neue „Access Restrictions“-Karten herausgeben muss,[159] zählte Mitte 2023 645 solcher Hindernisse im Westjordanland.[160] Da man an nur einem Checkpoint bis zu mehrere Stunden warten können muss (und gleichzeitig für viele Routen mehrere Checkpoints überwinden muss), sind an manchen davon mittlerweile kleine Checkpoint-Basare entstanden.[161]
Die meisten dieser Hindernisse werden von staatlicher Seite errichtet. Als Grund gibt Israel an, sie dienten dazu, die Sicherheit der israelischen Bürger im Westjordanland zu gewährleisten und „Mega-Terrorismus“ zu verhindern. B’Tselem bestreitet dies.[162] Die Menschenrechtsorganisation Machsom Watch ist sogar eigens zur Dokumentation von Unrecht an Checkpoints gegründet worden. Auch in der Mobilitätsforschung stimmt man meist B’Tselem zu: Beim System der Mobilitätsbeschränkung im Westjordanland könnten Palästinenser nie sicher sein, ob ihnen auch innerhalb der besetzten Gebiete Mobilität von den israelischen Behörden bewilligt wird, welche Art von Bewilligung sie ihnen ausstellen werden, welche Checkpoints geöffnet oder geschlossen sein werden, ob vielleicht über Nacht neue Surprise Checkpoints eingerichtet worden sind und ob die diensthabenden Beamten die Bewilligung der Behörden auch akzeptieren werden. Es sei daher nicht daraufhin strukturiert, palästinensische Mobilität für Israelis sicherer zu gestalten, sondern Mobilität überhaupt für Palästinenser unsicher zu machen. Checkpoints etwa seien „keine Überwachungs-Apparate, sondern Unsicherheits-Generatoren, dafür gebaut, palästinensische Mobilität zu kontrollieren – nicht, sie zu regulieren, sondern zu minimieren.“[163][164][165][166]
Gewalttätige Siedler verschärfen auch diesen Bereich der Okkupation noch zusätzlich. Erstens einfach dadurch, dass sie Öffnungen von Straßenblockaden durch das Militär verhindern.[167] Zweitens so, dass sie die Mobilität von Palästinensern auch durch direkte Gewalt verunsichern. In einer Umfrage unter palästinensischen Frauen aus dem Jahr 2019 zum Beispiel gaben diese an, dass eines der größten Hindernisse für ihre Bewegungsfreiheit nicht die israelische Closing Policy sei, sondern ihre Furcht vor militärischer Gewalt und Siedlergewalt.[168][169]
Drittens machen gewalttätige Siedler sich diese Mobilitätssituation auf noch eine weitere Weise zunutze: Weil so viele Hindernisse die infrastrukturelle Anbindung von Ortschaften einschränken, kann jede Straße zur kritischen Infrastruktur werden. Straßenblockaden und andere Maßnahmen zur Mobilitätsbehinderung sind daher verbreitete Mittel, um einem Dorf die Lebensfähigkeit zu nehmen und so die Dorfbevölkerung zu vertreiben. Beispielsweise wurden aus den 15 palästinensischen Ortschaften, deren Bewohner im Oktober 2023 aus ihren Heimatorten vertrieben wurden,[170] vier Ortsgemeinschaften nur durch direkte Siedlergewalt vertrieben, fünf durch Gewalt von Siedlern und Militärs im Verein – in weiteren dreien errichteten Siedler und Militärs aber gemeinsam zusätzlich Straßenblockaden, in Khirbet ‘Ein a-Rashash taten dies Siedler allein, und in Mleihat wurde die Straße so oft von Siedlern attackiert, dass auch sie nicht mehr befahrbar war.[171]
Als eine zentrale Trägergruppe von Siedlergewalt werden meist die religiös extremistischen „Hilltop Youths“ („Hügelkuppen-Jugendliche“) angesehen. Bei diesen einige Hundert zählenden Jugendlichen handelt es sich typischerweise um Schulabbrecher aus dem israelischen Staatsgebiet, die auch aus Protest gegen die „weich gewordene“ israelische Gesellschaft ins Westjordanland abwandern und dort auf Hügelkuppen in „Outposts“ („Vorposten“) leben, um mit diesen Vorposten, mit Ackerbau, Viehzucht und der Errichtung religiöser Stätten im palästinensischen Gebiet, mit archäologischen Ausgrabungen und eben mit Straftaten gegen Palästinenser die Judaisierung des Landes zu erzwingen.
Obwohl Outposts auch nach israelischer Ansicht stets illegal sind, werden sie selten insgeheim erbaut. Der israelische Sasson Report[172] und diverse Menschenrechtsorganisationen[173][174][175][176] zeigen: Auch Outposts werden regelmäßig von israelischen Behörden genehmigt, werden staatlich finanziert, sind an die israelische Infrastruktur angebunden und werden vom israelischen Militär geschützt. Auch der Siedlergewalt von Outpost-Siedlern kann daher die oben beschriebene Vermischung von Siedlergewalt und staatlicher Gewalt eignen.
Das gilt wahrscheinlich nicht für die „Price Tag“-Attacken („Preisschild-Attacken“), für die man meist die Hilltop Youths als Hauptverantwortliche sieht.[177][178][179][180] Bei dieser speziellen Form von Siedlergewalt werden durch das Militär geräumte Vorposten symbolisch mit einem „Preisschild“ versehen; die „Preise“ sind Rache-Akte – in der Regel Brandstiftung und Vandalismus, selten Mord.[181] So sollen künftige Räumungen verhindert werden, da „der Preis zu hoch ist“.[182] Einige Beispiele für solche Price Tag-Attacken hat 2017 die Anti-Defamation League zusammengetragen.[183]
Eiran und Krause haben die Fälle, die relativ einheitlich als Price Tag-Attacken identifiziert werden, statistisch ausgewertet: Opfer dieser Racheakte ist zwar manchmal wirklich auch das israelische Militär. 51 % der Angriffe richten sich jedoch gegen palästinensisches Privateigentum, andere beliebte Ziele sind Moscheen (Eiran/Krause zählen 40 Vorfälle) und Kirchen (5 Vorfälle).[184] Effektiv müssen bei Price Tag-Attacken also Palästinenser für „Vergehen“ des Staates Israel wie insbesondere die Räumung von Vorposten büßen; sie zahlen den „Preis“, den die Jugendlichen für das jeweilige Vergehen bestimmen.[185]
Häufig werden Price Tag-Attacken zusätzlich durch Graffiti kommentiert.[186] An ihnen lässt sich die Logik und Ideologie hinter Price Tag-Attacken gut ablesen: Wird nicht nur „tag mehir“ („Preisschild“) gesprayt, stehen oft antiarabische, antimuslimische oder antichristliche Slogans und/oder Hinweise auf kürzlich geräumte Vorposten an den vandalisierten Objekten.[187][188] Damit sind diese Graffiti die einzigen klaren Indizien, mithilfe derer sich Siedlergewalttaten sicher als Price Tag-Attacken identifizieren lassen – davon abgesehen unterscheidet sie phänomenal nichts von Brandstiftungen und Vandalismus-Akten in der herkömmlichen Siedlergewalt.[189]
Neu ist an diesem Phänomen, dass Price Tag-Attacken mindestens indirekt auch gegen den israelischen Staat gerichtet sind. Dennoch werden die Täter nur unwesentlich häufiger strafrechtlich verfolgt und verklagt als herkömmliche Siedlergewalttäter (nämlich in 5 % statt 3 % der Fälle).[190] Das ist erklärungsbedürftig, weil erstens manche israelische Politiker die Price Tag-Taktik sogar offiziell als „Terrorismus“ bezeichnen,[191] weil zweitens angesichts der starken Militärpräsenz im Westjordanland jegliche Strafverfolgung eigentlich sehr gut möglich sein müsste[192] und weil es sich drittens bei den Tätern letztlich um das israelische Pendant minderjähriger Punks handelt.
Erklärungsversuche gibt es bisher wenige: In Israel wird gelegentlich geschrieben, die Hilltop Youths seien Terrorzellen-artig und damit einfach zu raffiniert strukturiert.[193] Alimi und Demetriou geben dem Militär die Schuld: Dieses sei dadurch korrumpiert, dass im Westjordanland eingesetzte Militärs zum großen Teil selbst Siedler sind; das Militär als Ganzes könne deshalb nicht effektiv gegen die Siedlerbewegung der Hilltop Youths vorgehen.[194][195] Ähnlich vermutet Haviv Gur von der Times of Israel allgemein Befangenheit der ganzen israelischen Gesellschaft als Motiv, da Hilltop Youths von Israelis als die „Söhne“ des eigenen Volks angesehen würden.[196] Noch etwas weiter gehen schließlich Shalhoub-Kevorkian und David, die ähnlich wie Levy zu den Bürgermilizen (s. o.) auch im Falle der Hilltop Youths und ihrer Price Tag-Attacken annehmen, dass der Staat Israel beide Phänomene insgeheim gutheißt, weil durch die Hilltop Youths Landraub und durch ihre Price Tags Terror realisiert wird, den ein Rechtsstaat selbst sich nicht erlauben kann,[197] und dies erklärte die geringe Verurteilungsquote.
Zur Bewertung von Siedlergewalt allgemein in der israelischen Bevölkerung gibt es wenige Statistiken: Es gibt keine Umfragen dazu, was man grundsätzlich von Siedlergewalt halte; seit 1982 gab es auch keine mehr unter Siedlern zu der Frage, ob man sich schon einmal an Siedlergewalttaten beteiligt habe.[198] Gelegentlich wird aber abgefragt, wie man „Price Tag-Attacken“ sehe, die als „terroristische“ Handlungen unter Siedlergewalttaten den schlechtesten Ruf haben: In einer Umfrage von Anfang 2011, die allerdings unmittelbar nach dem Mehrfachmord von Itamar gemacht wurde, hielten unter jüdischen Israelis 22 % selbst diese Price Tag-Attacken für „völlig gerechtfertigt“ und weitere 23 % für „eher gerechtfertigt“.[199] Ende des Jahres wurde die Frage noch einmal umformuliert; hier gaben 88 % der jüdisch-israelischen Befragten an, dass sie „Price Tag-Attacken ablehnten“.[200]
Zur selben Zeit und noch einmal 2014 wurden jüdische und arabische Israelis separat dazu befragt, von welchem Anteil der jüdisch-israelischen Bevölkerung / der Siedler sie glaubten, dass sie Price Tag-Attacken zustimmten. Ablesen lässt sich aus den Ergebnissen erstens, dass man Siedlern größere Zustimmungswerte zu Price Tag-Attacken unterstellte als dem Rest der jüdisch-israelischen Bevölkerung, zweitens, dass palästinensische Israelis jüdischen Israelis grundsätzlich weit höhere Zustimmungswerte zu Price Tag-Attacken unterstellten als jüdische Israelis, und drittens, dass auch unter jüdischen Israelis viele davon ausgingen, dass Price Tag-Attacken eine relativ breite Unterstützer-Basis hatten. Gleicht man die beiden Umfragen von Ende 2011 miteinander ab, wird entweder die Zustimmung jüdischer Israelis zu Price Tag-Attacken regelmäßig überschätzt und deshalb wird von zu hohen Zustimmungswerten ausgegangen, oder Price Tag-Attacken waren 2011 immerhin noch so sehr sozial unerwünscht, dass deswegen die tatsächlichen Zustimmungswerte so niedrig ausfielen.
Sehr anders sieht es mit den Zustimmungswerten bei Jugendlichen aus: In einer Umfrage von 2015 unter israelischen Jugendlichen lehnten nur 28 % der Befragten Price Tag-Attacken ab, „die man mit religiösen, rechtsextremen [‚far right‘] Jugendgruppen assoziiert (…); entgegen der breiten Verurteilung dieser Aktivität (…) durch Politiker aus dem gesamten politischen Spektrum“.[202] Es ist gut bekannt, dass israelische Jugendliche im 21. Jahrhundert noch stärker nach Rechts gedriftet sind als Erwachsene.[203][204][205] Offenbar hat man unter israelischen Jugendlichen dementsprechend auch noch größere Sympathien für die Price Tag-Taktik als unter ihren älteren Mitbürgern. Der israelische Soziologe Idan Yaron glaubt beobachtet zu haben, dass diese Haltung pro Siedlergewalt unter Jugendlichen sich nach 2015 noch einmal verschärft habe: Mitte 2023 gebe es
„keinen Unterschied mehr zwischen der sogenannten ‚Hilltop Youth‘ – kleinen, extremistischen Kadern von jungen Siedlern, die Palästinenser angreifen – und der jungen Generation, die in den großen Siedlungen aufwächst und die sich früher an Gewalttaten gegen Palästinenser nicht beteiligt hatte.“[206]
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